Freitag, Dezember 29, 2006

Die Strafverfolger empfehlen ...

Unter dem Titel "Abschied vom Zuchthaus" publiziert die NZZ heute eine Übersicht über die neuen Sanktionen des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches. Verdankenswerterweise wird auch ein Auszug aus den nicht verbindlichen Empfehlungen der KSBS abgedruckt, der hier wiedergegeben sei:

Fahren in angetrunkenem Zustand:
- ab 0,5 Promille 600 Franken Busse
- ab 0,6 Promille 700 Franken Busse
- ab 0,7 Promille 800 Franken Busse
- ab 0,8 Promille ab 10 Tagessätzen Geldstrafe
- ab 1,2 Promille ab 20 Tagessätzen Geldstrafe
- ab 1,6 Promille ab 30 Tagessätzen Geldstrafe
- ab 2,0 Promille ab 60 Tagessätzen Geldstrafe
Zu bedingten Geldstrafen soll eine Busse von einem Viertel eines Netto-Monatslohns hinzukommen, mindestens aber von 1000 Franken.

Übertretungen der Höchstgeschwindigkeit, Tempo-30-Zonen:
- 16 bis 17 km/h 400 Franken Busse
- 18 bis 19 km/h 600 Franken Busse
- 20 bis 24 km/h 10 Tagessätze Geldstrafe
- 25 bis 29 km/h 15 Tagessätze Geldstrafe
- 30 bis 34 km/h 20 Tagessätze Geldstrafe
- ab 35 km/h ab 30 Tagessätzen Geldstrafe

Innerorts:
- 16 bis 20 km/h 400 Franken Busse
- 21 bis 24 km/h 600 Franken Busse
- 25 bis 29 km/h 10 Tagessätze Geldstrafe
- 30 bis 34 km/h 15 Tagessätze Geldstrafe
- 35 bis 39 km/h 20 Tagessätze Geldstrafe
- ab 40 km/h ab 30 Tagessätzen Geldstrafe

Ausserorts, Autostrassen:
- 21 bis 25 km/h 400 Franken Busse
- 26 bis 29 km/h 600 Franken Busse
- 30 bis 34 km/h 10 Tagessätze Geldstrafe
- 35 bis 39 km/h 15 Tagessätze Geldstrafe
- 40 bis 44 km/h 20 Tagessätze Geldstrafe
- ab 45 km/h ab 30 Tagessätzen Geldstrafe

Autobahnen:
- 26 bis 30 km/h 400 Franken Busse
- 31 bis 34 km/h 600 Franken Busse
- 35 bis 39 km/h 10 Tagessätze Geldstrafe
- 40 bis 44 km/h 15 Tagessätze Geldstrafe
- 45 bis 49 km/h 20 Tagessätze Geldstrafe
- ab 50 km/h ab 30 Tagessätzen Geldstrafe
Zu bedingten Geldstrafen soll eine Busse von einem Viertel eines Netto-Monatslohns hinzukommen, mindestens aber von 800 Franken.

Auf der Website der KSBS finden sich die vollständigen Empfehlungen:

Donnerstag, Dezember 28, 2006

Neue Massstäbe bei der Höhe der Gerichtsgebühr

hat die Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts in einem Entscheid vom 07.12.2006 (BB.2005.88) gesetzt:
Vorliegend erscheint in Berücksichtigung aller Faktoren, insbesondere des hohen Aufwands für das Gericht infolge der umfangreichen Rechtsschriften, eine Gerichtsgebühr von Fr. 10'000.-- als gerechtfertigt. Nachdem der Beschwerdeführer nur in einem sehr untergeordneten Teil seiner Beschwerde durchgedrungen ist, wird ihm die Gebühr im Umfang von neun Zehnteln unter Anrechnung des geleisteten Kostenvorschusses von Fr. 1'000.-- (act. 5), auferlegt (Art. 3 des Reglements vom 11. Februar 2004 über die Gerichtsgebühren vor dem Bundesstrafgericht, SR 173.711.32; Art. 245 BStP in Verbindung mit Art. 156 Abs. 1 und 3 OG). Im restlichen Umfang wird sie auf die Bundeskasse genommen.

Sanktioniertes Aussageverweigerungsrecht?

Gemäss einem neueren Entscheid der Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts vom 01.12.2006 (BB.2006.60 vom 01.12.2006) verlangte ein Beschwerdeführer erfolglos den Ausstand des verfahrensleitenden Untersuchungsrichters. Er machte geltend,

der Beschwerdegegner hätte ihn anlässlich einer Einvernahme vom 26. Juni 2006 wissen lassen, dass er aufgrund seiner Aussageverweigerung einer Kollusionsgefahr unterliege und ausserdem mit der Anordnung einer Untersuchungshaft gedroht. Der Beschwerdeführer bringt vor, der Beschwerdegegner hätte eine Kollusionsgefahr wider die tatsächlichen Verhältnisse behauptet. Er sieht im Verhalten des Beschwerdegegners eine Androhung einer unzulässigen Beugehaft, welche seines Erachtens einen Ausstandsgrund gemäss Art. 23 lit. c OG darstellt (E. 2.3)
Dazu führte die Beschwerdekammer folgendes aus:
Vorliegend konnte, entgegen den Behauptungen des Beschwerdeführers, eine Kollusionsgefahr mit dem zur Frage stehenden Mitangeschuldigten nicht offensichtlich ausgeschlossen werden. Die Tatsache, dass die Angeschuldigten seit Einleitung des Strafverfahrens bereits Gelegenheit hatten sich abzusprechen, schliesst eine Kollusionsgefahr nicht zwingend oder gar a priori aus (dazu TPF BH.2005.29 vom 3. Oktober 2005 E. 3.2). Die Behauptung, der Beschwerdegegner hätte die Möglichkeit der Anordnung einer Untersuchungshaft nur angedeutet, weil der Beschwerdeführer von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch machte, hält demnach einer Überprüfung nicht stand. Im Übrigen macht der Beschwerdeführer zwar geltend, der Beschwerdegegner hätte mittels einer unzulässigen Zwangsmassnahme Druck auf ihn ausgeübt, begründet jedoch nicht, inwiefern dieser die gebotene Sachlichkeit und Distanz zur Sache vermissen liess und dadurch befangen im Sinne von Art. 23 lit. c OG sein soll. Gemäss der vorzitierten Rechtsprechung stellt der Umstand, dass der Untersuchungsrichter falsche Verfahrensmassnahmen anordnet noch keinen Ausstandsgrund dar. Dem anwaltlich vertretenen Beschwerdeführer steht es diesfalls offen, die ihm vom Gesetz zur Verfügung gestellten Rechtsmittel zu ergreifen (E. 2.4).
Die von der Beschwerdekammer in E. 2.2 zitierte Rechtsprechung ist allerdings nicht einschlägig:
Nach der Rechtsprechung ist eine Befangenheit des Richters etwa gegeben, wenn dieser die gebotene Sachlichkeit und Distanz zur Sache vermissen lässt, sodass der Beschuldigte objektiv zu Recht an einer gerechten Behandlung zweifeln kann (BGE 127 I 196, 201 E. 2d). Kein Ausstandsgrund liegt jedoch vor, wenn der Richter eine für die Partei ungünstige Verfügung erlässt, in rechtlicher Hinsicht eine dieser nicht genehme Ansicht vertritt oder falsche bzw. willkürliche Verfahrensmassnahmen anordnet. Die Korrektur willkürlicher Prozesshandlungen muss auf dem Wege der ordentlichen Rechtsmittel erfolgen (HAUSER/SCHWERI/HARTMANN, Schweizerisches Strafprozessrecht, 6. Aufl., Basel 2005, S. 112 N. 4a und S. 115 N. 6).
Zu beurteilen war nicht die Frage der Anordnung einer unzulässigen Verfahrensmassnahme, sondern um die Frage der Androhung einer in casu zulässigen Zwangsmassnahme. Das ist m.E. nicht dasselbe, denn auch für Untersuchungsrichter gilt der Satz, dass man gewisse Dinge wohl tun, aber nicht damit drohen darf.

Solche Androhungen sind in Strafverfahren an der Tagesordnung. Es wäre sehr begrüssenswert gewesen, hätte die Beschwerdekammer die Frage geklärt, auch wenn sie möglicherweise zum selben Ergebnis geführt hätte.

Zahnlose Strafen?

Nächste Woche tritt der neue Allgemeine Teil des Strafgesetzbuchs in Kraft. Der Oberstaatsanwalt des Kantons Zürich nimmt dies zum Anlass, sich über die neuen bedingten Geldstrafen zu beschweren, die er für zahnlos hält. Das Interview ist online. Highlights sind für mich folgende Sätze:

Das neue Sanktionensystem beruht auf einem Konzept aus den 80er-Jahren. Es ist geprägt von einem in der Kriminalpolitik überholten liberalen Zeitgeist und vergisst die Interessen der Opfer.

Die Konferenz der Strafverfolger hat sich darauf geeinigt, in allen Kantonen mit einem Minimaltagessatz von 30 Franken zu operieren (Hervorhebung durch mich).

Die Strafverfolger einigen sich über Strafen, welche die Richter zu verhängen haben? In der Schweiz ist das leider nichts Neues. Die Strafverfolger waren es ja auch, die das Inkrafttreten des vom Parlament beschlossenen neuen Rechts verhinderten und Nachbesserungen durchsetzen konnten (vgl. dazu meinen früheren Beitrag). In der Schweiz ist ganz offensichtlich nicht nur der liberale Zeitgeist überholt.

Was läuft falsch in Bellinzona?

Die Strafkammer des Bundesstrafgerichts hat zwei Urteile in der selben Angelegenheit (SK.2006.4 vom 22.08.2006 und SK.2006.4 vom 16./28.08.2006) ins Netz gestellt, die lauter Fragen aufwerfen. Beim ersten Urteil handelt es sich um ein Sachurteil, beim zweiten um ein Prozessurteil.

Hier ein paar Fragen/Bemerkungen zum Prozessurteil SK.2006.4 vom 16./28.08.2006:
  1. Der Bundesanwalt und die drei amtlichen Verteidiger der drei Angeklagten beantragen, die Zuständigkeit der Strafkammer des Bundesstrafgerichts zu "bejahen". Die amtlichen Verteidiger opponierten nicht gegen ein Abwesenheitsverfahren. Das Bundesstrafgericht tritt mit überzeugender Begründung nicht auf die Anklagen ein.
  2. Die Bundesanwaltschaft hat die Verfahren wegen Beteiligung an einer kriminellen Organisation (Art. 260ter StGB) eingestellt, begründet aber die Zuständigkeit des Bundesstrafgerichts damit, die angeklagten Handlungen seien von einer kriminellen Organisation ausgegangen.

Fragen/Bemerkungen zum Sachurteil SK.2006.4 vom 22.08.2006:

  1. Werden die Anträge der Verteidiger nur sinngemäss im Urteil wiedergegeben? Hier ein paar Anträge der Verteidigung gemäss Urteil, welche diesen Verdacht begründen:
    Es sei Herr A. zu bestrafen mit höchstens 3 bis 4 Jahren Gefängnis.
    Gegen die beantragte Einziehung hat Herr A. – unter Vorbehalt seines Reisepasses – nichts einzuwenden.
    Sie sei und wäre selbst im Falle einer gänzlichen Verurteilung im Sinne der Anklage milde und mit einer Freiheitsstrafe von allerhöchstens 2 ½ Jahren zu bestrafen.
    Das Gericht habe die weiteren Verfügungen zu treffen, so weit nötig.
  2. Die Zuständigkeit der Bundesstrafbehörden rettete das Bundesstrafgericht mit einem Kunstgriff:
    Die Folgen einer Verfahrensverlängerung wären für alle Angeklagten, welche sich zur Hauptverhandlung eingefunden haben und daher durch den Prozess unmittelbar berührt sind, schwer erträglich. Sie haben Anspruch darauf, dass ihnen dies erspart bleibt; denn sie müssen das Resultat einer unzweckmässigen staatlichen Verfahrensführung nicht hinnehmen (OBERHOLZER, Grundzüge des Strafprozessrechts, 2. Aufl., Bern 2005, Rz 469). Das Bundesgericht leitet unter solchen Umständen eine Zuständigkeit auch in Fällen her, für welche das Verfahrensgesetz keinen Rechtsweg an diese Instanz vorsieht (BGE 125 II 417 E. 4c–d). Entsprechend muss sich die Zuständigkeit zur Beurteilung von an sich nicht in die Bundeszuständigkeit fallenden Anklagen direkt auf Art. 6 Abs. 1 EMRK abstützen lassen.

Dienstag, Dezember 26, 2006

Anwaltsgeheimnis in den USA und in der Schweiz

Die neusten Entwicklungen um die Aufweichung des Anwaltsgeheimnis in den USA (Stichworte: Thompson Memorandum und dessen Nachfolger, das McNulty Memorandum; s. dazu meinen letzten Beitrag) können auf White Collar Crime Prof Blog verfolgt werden. Die Beiträge der letzten Wochen sind hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier und hier abrufbar. Auch auf WSJ.com, dem Law Blog des Wall Street Journal, finden sich etliche Beiträge (s. hier, hier, hier und hier).

Während in den USA der Anwaltsverband ABA mit Hochdruck gegen die Entwicklungen arbeitet (vgl. die einstimmig verabschiedete Resolution 302B) und die Legislative Anhörungen dazu durchführt, wird das Thema in der Schweiz - soweit ersichtlich - nicht grundsätzlich geführt. Hier setzen sich höchstens einzelne grössere Anwaltskanzleien ein, denen es aber primär um den Schutz von Partikularinteressen zu gehen scheint (vgl. meinen Beitrag im Januar 2006 zur Frage des Anwaltsgeheimnisses bei Unternehmensjuristen). Möglicherweise wird die Frage nun neu lanciert im Zusammenhang mit der Zulassung von Anwaltsgesellschaften (vgl. dazu den online nur für Abonnenten verfügbaren Beitrag von Kollege RA Felix E. Egli in der NZZ vom 19.12.2006. S. 29).

Zu fordern ist allerdings die längst fällige Grundsatzdebatte, die der Schweizerische Anwaltsverband anstossen müsste. Nachdem der Ständerat eben erst das absolute Zeugnisverweigerungsrecht der Anwälte wegdebattiert hat, wäre es höchste Zeit, Gegensteuer zu geben.

Samstag, Dezember 23, 2006

Richter und Anwalt

Das Bundesgericht hat den mit Spannung erwarteten Entscheid über ein Ablehnungsbegehren entschieden (Urteil 1P.471/2006 vom 07.12.2006). Das Ablehnungsbegehren richtete sich gegen eine Richterin in einem Scheidungsverfahren. Sie sollte abgelehnt werden, weil der Anwalt der Gegenpartei gleichzeitig Vizepräsident des Zürcher Kassationsgericht und damit einer allfälligen Rechtsmittelinstanz ist. Der Beschwerdeführer richtete sein Ablehnungsbegehren an das Obergericht des Kantons Zürich, Verwaltungskommission, und unterlag. Gegen den Entscheid des Obergerichts gelangte er mit staatsrechtlicher Beschwerde an das Bundesgericht. Dieses überwies die Beschwerde mit Urteil vom 27. März 2006 an das Kassationsgericht des Kantons Zürich zur Behandlung (BGE 132 I 92). Das Kassationsgericht wies die Beschwerde ab. Dagegen führte der Beschwerdeführer nun erneut staatsrechtliche Beschwerde.

Das Bundesgericht kommt in einem juristisch sicher nachvollziehbaren Entscheid zum Ergebnis, die Bedenken, dass eine unterinstanzliche Richterin gegenüber einem Anwalt wegen dessen oberinstanzlichen Richteramts innerlich nicht mehr frei sei, "nicht angebracht seien". Blosse Kollegialität unter Gerichtsmitgliedern begründe nach der Rechtsprechung auch keine Ausstandspflicht. Die Beziehung eines unterinstanzlichen Richters zu einem Anwalt, der gleichzeitig Mitglied einer Rechtsmittelinstanz ist, gehe im Allgemeinen nicht wesentlich über die Kollegialität unter Mitgliedern desselben Gerichts hinaus (E. 6.6).

Allerdings lässt das Bundesgericht durchblicken, dass diese Rechtsauffassung ausserhalb der Justiz kaum zu überzeugen vermag. Es wollte aber offenbar nicht in die Gerichtsorganisation des Kantons Zürich eingreifen:
Aus Sicht der Wahlbehörde sollen Präsident und Vizepräsident für die nötige Kontinuität in der Rechtsprechung des Kassationsgerichts sorgen (...). Ob diese die ihnen zugedachte Rolle tatsächlich erfüllen können, wenn sie wiederholt wegen Interessenkollisionen zu ihren Anwaltsmandaten in den Ausstand treten müssen, erscheint als fraglich, muss hier aber nicht näher erörtert werden. Bei dieser Sachlage wird es immerhin nachvollziehbar, dass der Vizepräsident des Kassationsgerichts im angefochtenen Entscheid mit einem Ersatzrichter an einer oberen Instanz verglichen wird, der nur gelegentlich zum Einsatz kommt (E. 6.8).

Gemäss NZZ liess der Anwalt des Beschwerdeführers verlauten, dass das Bundesgericht die Bewahrung der Institutionen über diejenige der Grundrechte stellte. Er werde den Entscheid daher an den EGMR ziehen. Sollte der EGMR eintreten, wage ich die Prognose, dass eine Verletzung von Art. 6 EMRK festgestellt werden wird.

(Un)teilbarkeit des Strafantrags

Ein zur Publikation in der amtlichen Sammlung vorgesehener neuer Entscheid des Bundesgerichts (6S.48/2006 vom 23.11.2006) befasst sich mit dem Unteilbarkeitsprinzip nach Art. 31 Abs. 3 StGB. Die Beschwerde war fast ein Jahr am Bundesgericht hängig. Was der Entscheid nun bedeutet, habe ich allerdings nicht begriffen.

Der Sachverhalt kann wie folgt zusammengefasst werden: Der Beschwerdeführer reichte Strafantrag wegen Ehrverletzung u.a. gegen Regierungsrat A. ein. Das Untersuchungsrichteramt hat den Beschwerdeführer darüber in Kenntnis gesetzt, dass Regierungsrat A. Immunität geniesse. Der Beschwerdeführer teilte sodann mit, dass er auf die Einleitung eines Strafverfahrens gegenüber Regierungsrat A. "verzichte". Das Verfahren wurde in der Folge gegen alle Beschuldigten eingestellt.

Zu entscheiden hatte das Bundesgericht, ob der Unteilbarkeitsgrundsatz Ausnahmen zulasse und - falls ja - ob eine solche Ausnahme im konkreten Fall vorliege. Dazu schliesst das Bundesgericht wie folgt:
Die vom Bundesgericht 1954 aufgeworfene und offen gelassene Frage nach möglichen Ausnahmen vom Unteilbarkeitsgrundsatz ist somit zu verneinen. Kommt der Strafantragsteller indessen im Laufe des Strafverfahrens zum Schluss, die Voraussetzungen der strafrechtlichen Verfolgung seien gegenüber einem ins Recht gefassten Beschuldigten nicht oder nicht mehr gegeben, so kann er in Bezug auf diesen bei den Strafverfolgungsbehörden die Einstellung des Strafverfahrens verlangen. Dieses strafprozessuale Einstellungsbegehren darf nicht in einen Rückzug des Strafantrags uminterpretiert werden (E. 3.3.3).
Zum konkreten Fall entschied das Bundesgericht wie folgt:
Der Beschwerdeführer liess dem Friedensrichteramt Zug mitteilen, dass er an den Strafklagen gegen B. und unbekannt festhalte und auf die Einleitung eines Strafverfahrens gegenüber Regierungsrat A.
"verzichte". Dem Untersuchungsrichteramt gegenüber erklärte er, dass die Strafanzeige gegen A. "zurückgezogen" worden sei und beantragte im Übrigen die Fortführung des Strafverfahrens. Er hielt an diesem Antrag auch noch fest, nachdem er vom Untersuchungsrichter auf die Unteilbarkeit des Strafantrags hingewiesen worden war. In der Folge stellte der Untersuchungsrichter das Verfahren ein unter Verweis auf Art. 31 Abs. 3 StGB. Unter diesen Umständen verlangt der Beschwerdeführer vergeblich, dass eine Ausnahme von der Unteilbarkeit des Strafantragsrückzugs hätte angenommen werden sollen. Die Vorinstanz hielt sich zu Recht an den Wortlaut von Art. 31 Abs. 3 StGB. Die Beschwerde ist demnach abzuweisen (E. 3.3.4).
Der Gang nach Lausanne kostete den Beschwerdeführer übrigens CHF 5,000.00 plus die eigenen Anwaltskosten. Man schiesst ja auch nicht ungestraft auf Regierungsräte.

Freitag, Dezember 22, 2006

Tote Links am Bundesgericht

Das Bundesgericht stellt bekanntlich täglich seine neuen Entscheide (es nennt sie "Neuheiten") ins Internet. In letzter Zeit ist ein Teil dieser "Neuheiten" leider nicht abrufbar, weil die entsprechenden Links tot sind. Andere "Neuheiten" werden an mehreren Tagen als neu angepriesen und damit auf der Einstiegsseite mehrfach gezählt.

Es mag kleinlich erscheinen, wenn ich hier auf Mängel auf der Website des Bundesgerichts hinweise. Aber es ärgert mich, wenn unser höchstes Gericht eine solche Visitenkarte abgibt. Wenig überzeugend ist übrigens auch das Textformat, in dem die einzelnen Entscheide abgerufen werden können, wenn der Link mal gerade funktioniert. Wenn man nun noch die Geldsummen berücksichtigt, welche das Bundesgericht für die Informatik einsetzt, wird das Ganze umso unverständlicher.

Was in Papierform aus Lausanne kommt, passt übrigens gar nicht zum schäbigen Online-Auftritt: modern, leicht und trotzdem durchaus höchstgerichtlich.

Mittwoch, Dezember 20, 2006

Falsches Rechtsmittel

Kurzen Prozess machte das Bundesgericht (6S.269/2006 vom 02.12.2006) mit einem Beschwerdeführer, der vom Kantonsgericht BL wegen fahrlässiger schwerer Körperverletzung und wegen fahrlässiger Gefährdung durch Verletzung der Regeln der Baukunde zu einer Busse von CHF 600.00 verurteilt wurde. Erstinstanzlich war er noch freigesprochen worden. Die Lektüre des Bundesgerichtsentscheids lässt die Vermutung zu, dass die Verurteilung durch die zweite Instanz in Verletzung des Anklageprinzips erfolgte. Dies hat der Beschwerdeführer vor Bundesgericht zwar gerügt, allerdings mit dem dafür nicht vorgesehenen Rechtsmittel der Nichtigkeitsbeschwerde:
Die Tragweite des vom Beschwerdeführer als verletzt gerügten Anklagegrundsatzes ergibt sich in erster Linie aus dem kantonalen Verfahrensrecht, teilweise zudem direkt aus dem verfassungsmässigen Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) und aus den Verteidigungsrechten gemäss Art. 6 Ziff. 3 lit. a EMRK (vgl. BGE 126 I 19 E. 2a S. 21). Seine Verletzung ist mit staatsrechtlicher Beschwerde geltend zu machen (Art. 269Abs. 2 BStP); die Nichtigkeitsbeschwerde steht dafür nicht zur Verfügung. Auf das Rechtsmittel des Beschwerdeführers ist daher insoweit nicht einzutreten (E. 2).
Dass die Rüge - wäre sie denn zulässig gewesen - möglicherweise nicht unbegründet gewesen wäre, ergibt sich aus den weiteren Erwägungen des Bundesgerichts:
Die Kritik, die der Beschwerdeführer an der vorinstanzlichen Bejahung des natürlichen und adäquaten Kausalzusammenhangs zwischen der von ihm begangenen Sorgfaltspflichtverletzung und dem Unfall übt, stützt sich auf das Urteil des Strafgerichts, das ihn freisprach. Die Vorinstanz geht indessen teilweise von anderen tatsächlichen Feststellungen aus und gelangt deshalb zu einem anderen Ergebnis (E. 3).

Dienstag, Dezember 19, 2006

Zur Verwertbarkeit anonymer Zeugenaussagen

In einem zur Publikation in der amtlichen Sammlung vorgesehenen Entscheid heisst das Bundesgericht eine Nichtigkeitsbeschwerde der Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich gegen ein Urteil des Kassationsgerichts gutgeheissen (Urteil 6S.59/2006 vom 02.11.2006). Dieses hatte einen Entscheid des Geschworenengerichts kassiert, weil der Schuldspruch wegen eines Tötungsdelikts massgebend auf den Aussagen eines anonymisierten Zeugen beruht habe, deren deren Verwertung mit Art. 6 EMRK unvereinbar sei:

Dass nämlich nicht nur der Beschwerdegegner, sondern auch die Verteidigung an der Befragung lediglich akustisch, nicht aber audio-visuell habe teilnehmen können, stelle eine konventionswidrige Einschränkung der Verteidigungsrechte (Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK) dar. Darüberhinaus verletze das konventionsrechtliche Fairnessgebot (Art. 6 Ziff.1 EMRK), dass sich das Geschworenengericht für den Schuldspruch massgeblich auf den anonymisierten Zeugen habe stützen müssen (E. 2.3).

Da dem öffentlichen Ankläger die staatsrechtliche Beschwerde nicht zur Verfügung steht, machte die Oberstaatsanwaltschaft allein geltend, der angefochtene Beschluss verletze den Grundsatz der freien Beweiswürdigung gemäss Art. 249 BStP, welcher zum eidgenössischen Recht im Sinne von Art. 269 Abs. 1 BStP gehört. Dem folgte das Bundesgericht:

Mit dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung unvereinbar ist es jedoch auch, wenn einem bestimmten Beweismittel in allgemeiner Weise die Beweiseignung abgesprochen wird. Dies ist hier bezogen auf die anonymisierte Zeugenaussage der Fall. Denn die Anonymisierung eines Zeugen liesse sich nicht mehr konsequent durchführen,wenn dessen Identität gegenüber dem Verteidiger offengelegt werden müsste. Das Beweismittel der Zeugenaussage als solche bleibt zwar möglich, so dass insoweit dieses Beweismittel nicht in genereller Weise ausgeschlossen wird. Im Falle des gefährdeten Zeugen wäre dies jedoch eine gänzlich theoretische Betrachtungsweise, die jede Rücksicht auf die realen Verhältnisse vermissen liesse. Den Zeugen, der - sofern ihm kein Zeugnisverweigerungsrecht zusteht - zur Aussage verpflichtet ist, unter Lebensgefahr zu Aussagen zu verhalten, kann nicht eine realistische Form der Abnahme des Zeugenbeweises sein. Deshalb schliesst die Auffassung des Kassationsgerichts, der Zeugenbeweis sei im Falle des gefährdeten Zeugen unverwertbar, wenn auch der Verteidiger nur indirekt, ohne Sichtkontakt, die Ergänzungsfragen stellen könne, dieses Beweismittel zum vornherein und in allgemeiner Weise aus. Dies ist mit dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung nicht vereinbar (E. 2.5).

Eine Verletzung des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung ergibt sich überdies aus der weiteren vom Kassationsgericht erhobenen prozessualenA nforderung, dass anonymisierte Zeugenaussagen lediglich dann verwertet werden dürfen, wenn ihnen kein massgebender Beweiswert zukommt [...]. Damit wird das Institut der anonymisierten Aussage letztlich seines Sinnes entleert. Denn wenn eine Zeugenaussage nur verwertet werden darf, wenn sie keine massgebende Bedeutung hat, kann auf sie gerade so gut verzichtet werden. Mit dem Beschluss des Kassationsgerichts wird folglich die anonymisierte Zeugenaussage formal zwar für zulässig erachtet, praktisch aber ausgeschlossen (E. 2.6).

In der Folge prüfte das Bundesgericht, ob die EMRK die Unverwertbarkeit der anonymisierten Zeugenaussage verlange. Dabei setzt es sich mit der Rechtsprechung des EGMR (Kok gegen Niederlande, Recueil CourEDH 2000-VI S. 629; van Mechelen, Recueil CourEDH 1997-VII S. 2426; Doorson, Recueil CourEDH 1996-II S. 446,Ziff. 69; Krasniki vom 28.2.2006) und insbesondere mit seiner eigenen ausführlich auseinander, um dann festzustellen, dass all dies im konkreten Fall gar keine Rolle spiele:

Der zu beurteilende Fall gibt freilich keinen Anlass zur Entscheidung der Frage, ob die Aussage eines anonymisierten Zeugen unter den genannten Voraussetzungen auch einen Schuldspruch zu tragen vermag, wenn keine weiteren Beweismittel zur Verfügung stehen. Selbst wenn man nämlich davon ausgeht, dass die Verfahrensgarantien der EMRK es verbieten, einen Schuldspruch ausschliesslich oder entscheidend auf eine anonymisierte Aussage zu stützen, würde dies im vorliegenden Fall einem Schuldspruch nicht entgegenstehen ( E. 4.4.1).

Nach einer Darstellung der übrigen Beweise folgert das Bundesgericht schliesslich:

Der zu beurteilende Fall gibt freilich keinen Anlass zur Entscheidung der Frage, ob die Aussage eines anonymisierten Zeugen unter den genannten Voraussetzungen auch einen Schuldspruch zu tragen vermag, wenn keine weiteren Beweismittel zur Verfügung stehen. Selbst wenn man nämlich davon ausgeht, dass die Verfahrensgarantien der EMRK es verbieten, einen Schuldspruch ausschliesslich oder entscheidend auf eine anonymisierte Aussage zu stützen, würde dies im vorliegenden Fall einem Schuldspruch nicht entgegenstehen (E. 4.4.3).

Montag, Dezember 18, 2006

Depotauszug ist keine Urkunde

KunzOBlog weist auf einen neuen Entscheid des Bundesgerichts zum Urkundenstrafrecht hin, der zur Publikation in der amtlichen Sammlung vorgesehen ist (6S.156/2006 vom 24.11.2006). Die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich hat ein Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich erfolglos angefochten. Sie hatte dem Freigesprochenen vorgeworfen, durch das Hinauftreiben des Kurses bestimmter Aktien bewirkt zu haben, dass in den Nostrokonten der Bank und in den Depotverzeichnissen der Bankkunden Aktienkurse verzeichnet wurden, die nicht der wirtschaftlichen Situation entsprochen hätten.

Bezüglich der Depotauszüge kommt das Bundesgericht zu folgendem Schluss:
Die Angabe von Börsenkurswerten in den Depotauszügen erlaubt von vornherein keine Aussageüber den inneren Wert einer Effekte, weil die Kurse nicht den wahren Wert wiedergeben und sich ein solcher auch gar nicht genau feststellen lässt. Der Kurs eines Wertpapiers bildet den Börsen- oder Marktpreis ab, der je nach Angebot und Nachfrage ständig Schwankungen unterworfen ist. Der im Depotauszug aufgeführte Kurs besagt nichts anderes, als dass die Effekte am angeführten Datum zum angegebenen Kurs gehandelt worden ist. Ob dieser Kurs vom Markt getragen ist oder - wie im zu beurteilenden Fall - durch künstliche Eingriffe in den Preisbildungsprozess verfälscht wurde, bleibt dabei ohne Bedeutung. Der Depotauszug bezeugt nur, dass die Effekte zum genannten Wert gehandelt wurde (E. 4.2).
Dem Depotauszug fehlt es damit bezüglich des wirklichen Werts der Effekten an der Beweiseignung und damit an der Urkundenqualität. Das konnte von der Buchhaltung natürlich nicht behauptet werden. Dennoch schützte das Bundesgericht den Freispruch auch in diesem Punkt, weil die Buchhaltung im Ergebnis nicht verfälscht wurde:
Art. 667 OR sieht vor, dass Wertschriften mit Kurswert höchstens zum Durchschnittskurs des letzten Monats vor dem Bilanzstichtag bewertet werden dürfen. Auch wenn die Banken nach den vorinstanzlichen Feststellungen offenbar teilweise nach dem Kurs am Stichtag bewerten, so gilt dies nur für einfache und unproblematische Fälle. Die Revisionsstelle der A. Gruppe erklärt im Schreiben vom 4. Februar 2005, die Schlusskurse am Bilanzstichtag würden nur bei liquiden Titeln ohne vertiefte Abklärungen als Bewertungsgrundlage akzeptiert. Im vorliegenden Fall habe die A. Gruppe selber wegen des überhöhten Schlusskurses der B.-Namenaktien eine Wertberichtigung von CHF 5 Mio. vorgenommen, was sie als vertretbar angesehen habe. Aus dem erwähnten Schreiben ergibt sich weiter, dass der Schlusskurs der B.-Namenaktie lediglich den Ausgangspunkt für die Bewertung in der Konzernrechnung bildete, aber gerade keine definitive Bewertung darstellte. Somit wurde auch die Buchführung nicht verfälscht (E. 4.2).

Sonntag, Dezember 17, 2006

Blocher als Terrorismusfinanzierer?

Von einem angeblichen Geheimangriff eines stellvertretenden Bundesanwalts auf BR Blocher berichtet heute die SonntagsZeitung. Der Bericht basiert offenbar auf eMails von und an den stv. Bundesanwalt, welche auf wundersame Weise den Weg in die Presse gefunden haben.

Gestützt auf ein eMail des selbsternannten Terrorismusexperten Jean-Charles Brisard soll der stv. Bundesanwalt einen Mitarbeiter der Bundeskriminalpolizei damit beauftragt haben, Verbindungen zwischen Yassin Kadi und verschiedenen Gesellschaften abzuklären, an denen BR Blocher beteiligt war. Gegen Kadi ermittelt die BA seit 2001 wegen des Verdachts der Terrorismusfinanzierung. Die Abklärungen der Bundeskriminalpolizei sind tags darauf in "Le Temps" erschienen. Das entsprechende Verfahren wegen Amtsgeheimnisverletzung wurde eingestellt.

Über die möglichen Motive spekuliert die SonntagsZeitung wie folgt:
Was hoffte der stellvertretende Bundesanwalt bei der Aktion zu finden? Dass Bundesrat Blocher befangen ist? Dass Dividenden von Blochers und Ebners Firmen an die al-Qaida flossen? Vielleicht suchte Nicati bloss verzweifelt eine Erklärung, warum sämtliche seiner grossangelegten Terrorermittlungen ohne nennenswerte Erfolge geblieben waren. Da käme eine Verschwörung gegnerischer Mächte natürlich gelegen. Fakt ist, dass die Bundesanwaltschaft schon damals in Blocher einen Feind geortet hatte, weil dieser die vollständige Aufsicht über die Eidgenössischen Strafverfolger im Justizdepartement ansiedeln wollte.
Was davon zu halten ist, weiss ich auch nicht. Eines beweist die Story allerdings erneut: Die Bundesanwaltschaft und die kantonalen Staatsanwaltschaften sind unter eine effiziente und einheitliche Aufsicht zu stellen. Dabei ist auch zu prüfen, mit wem die Strafverfolger zusammenarbeiten. Ramos lässt grüssen.

Samstag, Dezember 16, 2006

Konsequenzen aus dem Bericht Uster

Gemäss einer Medienmitteilung des Informationsdienstes EJPD vom 15.12.2006 sollen die Erkenntnisse aus dem Bericht Uster (vgl. dazu meinen früheren Beitrag) umgesetzt werden. Nach dem gewählten Modell soll die Strafverfolgung des Bundes auf folgende Gebiete konzentriert werden: Das gewählte Modell konzentriert sich in erster Linie auf:

  • Terrorismus und Terrorismusfinanzierung
  • schwierige Fälle von organisierter Kriminalität und Wirtschaftskriminalität inklusive Korruption
  • Internetkriminalität

Zudem ist vorgesehen, die Eidg. Strafprozessordnung bereits per 1.1.2009 in Kraft zu setzen, allerdings nur für die Bundesstrafprozess, nicht für die Kantone (vgl. dazu auch den Beitrag im Tages-Anzeiger).

Ich bin mir nicht sicher, was davon zu halten ist. Solange die besten Strafverfolger bei den Kantonen arbeiten, kann es jedenfalls kaum erfolgversprechend sein, der Bundesanwaltschaft ausgerechnet die schwierigen Fälle zu übertragen. Für diese Fälle, die glücklicherweise selten sind, erscheint der Strafverfolgungsapparat, der unter BR Metzler aufgebaut worden war, als reichlich überdimensioniert.

Vereinheitlichung des Strafprozesrechts und eine Warnung aus Lausanne

Der Ständerat hat seine Beratungen über die Eidg. Strafprozessordnung abgeschlossen und das Geschäft mit 39:0 Stimmen (zwei Enthaltungen) an den Nationalrat gewiesen. Die abschliessende Debatte ist in einer provisorischen Fassung online.

Vor der Schlussabstimmung kam es noch zu einem kurzen Geplänkel, das ein Schreiben eines Bundesrichters ausgelöst hatte. SR Schmid-Sutter Carlo (C, AI):
Wir haben jetzt in einer grossen Anstrengung die Kodifikation des Strafprozessrechtes in der Schweiz unternommen und zu einem glücklichen Ende geführt. Wir - Bundesrat und Parlament - glauben an sich, wir hätten eine gute Arbeit geleistet. Ich darf Ihnen aber sagen, dass von Lausanne aus bereits bestimmte Warnungen an uns gerichtet worden sind. In einem Papier, das den Parlamentsdiensten vorliegt, hat ein Bundesrichter Folgendes geschrieben: "Die europäische Rechtsprechung in diesen Fragen" (Grundrechtsschutz, Verfahrensgarantien usw.) "wird sich weiterentwickeln. Wenn das Bundesgericht Bestimmungen der neuen Strafprozessordnung nicht anwendet, die dem internationalen Recht widersprechen, ist in diesem Bereich faktisch eine Verfassungsgerichtsbarkeit eingeführt worden. Wenn das Bundesgericht aber nicht so weit geht und sich auf den Standpunkt stellt, dass es sich gemäss Artikel 191 der Verfassung an die Beschlüsse des Parlamentes halten müsse, wird schliesslich .... Strassburg zum Rechten sehen." So weit die Worte des Schweizerischen Bundesgerichtes.
Schmid wollte damit nur zeigen,
dass das Volk unter dem Damoklesschwert eines Richterspruches steht.
Allein die Vorstellung scheint Angst und Schrecken zu erregen.

Update: Berichte über die Bundesanwaltschaft

Ein neuer Beitrag der Weltwoche zur Affäre Ramos (vgl. aus meinen früheren Beiträgen hier, hier, hier und hier) belastet den ehemaligen Bundesanwalt erneut und stellt die bisherigen Erkenntnisse in Frage. Die Weltwoche zitiert aus einem vertraulichen Bericht der Bundeskriminalpolizei, nach dem Bundesanwalt Roschacher sich entgegen bisheriger Behauptungen noch im Mai 2003 mit Ramos getroffen haben soll.

Die umgehende Bestätigung kommt von der GPK-N, welche am 15.12.2006 aus fadenscheinigen Gründen (viele Medienanfragen) eine Medienmitteilung verbreitet hat, nach der das Treffen mit Ramos "den Untersuchungsbehörden bekannt" war. :
Aufgrund von Medienberichten der letzten Tage gelangen viele Medien mit Fragen zum laufenden Verfahren an die Subkommission. Das zu Diskussionen Anlass gebende Treffen des Bundesanwalts mit "Ramos", das am letzten Donnerstag in der Weltwoche thematisiert wurde, war den Untersuchungsbehörden bekannt. Die Subkommissionspräsidentin hält fest, dass sie aufgrund von Informationen der Bundesanwaltschaft und des Bundesamtes für Polizei und nach Rücksprache mit den Verantwortlichen der Untersuchungsberichte der Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts sowie des EJPD keine Anhaltspunkte dafür hat, dass den Untersuchungsbehörden Informationen in Bezug auf die Rolle des Bundesanwalts im Zusammenhang mit der Vertrauensperson "Ramos" vorenthalten worden sind.
Die Subkommission der GPK-N, welche mit Ausnahme des Wesentlichen offenbar alles untersucht, will
ihre Feststellungen dem Plenum der GPK-N im 1. Quartal des Jahres 2007 in Form eines Berichtsentwurfs unterbreiten.
Der Bericht der GPK-N, der dem Berichtsentwurf der Subkommission dann folgen wird, wird dann wohl je nach Inhalt vor oder nach den nächsten Wahlen erscheinen.

Freitag, Dezember 15, 2006

Gehörsverletzung

Der Eindruck, dass man vor Bundesgericht jedenfalls in Strafsachen fast nur dann Erfolg hat, wenn man sich gegen Entscheidungen der Zürcher Justiz beschwert, verfestigt sich. Im letzten, heute online gestellten Entscheid, war die Sache allerdings so klar, dass das Bundesgericht schlicht nicht anders entscheiden konnte (1P.527/2006 vom 04.12.2006). Bei der Vorbereitung einer staatsrechtlichen Beschwerde hat der Beschwerdeführer festgestellt, dass ihm Akten vorenthalten worden waren:
Die Staatsanwaltschaft I nahm in ihrer Vernehmlassung vom 10. Januar 2006 substanziell Stellung zum Rekurs des Beschwerdeführers. Eine solche Eingabe, die ohne weiteres geeignet ist, den Ausgang des Verfahrens zu beeinflussen, hätte der Einzelrichter des Einzelrichteramtes für Zivil- und Strafsachen des Bezirksgerichts Zürich dem Beschwerdeführer vor seinem Entscheid zumindest zur Kenntnisnahme vorlegen müssen. Dass solches geschehen ist, wird von keiner Seite behauptet und lässt sich auch den Akten nicht entnehmen. Somit hat der Einzelrichter, indem er entschied, ohne dem Beschwerdeführer dieMöglichkeit einzuräumen, sich zur Stellungnahme der Staatsanwaltschaft I zu äussern, Art. 29 Abs. 2 BV verletzt.

Mittwoch, Dezember 13, 2006

Urteilsflut aus Lausanne

Kaum taucht man mal kurz aus den Aktenbergen auf, droht man von einer Urteilsflut aus Lausanne erschlagen. Seit letzten Freitag hat das Bundesgericht folgende Urteile in den hier interessierenden Rechtsgebieten online gestellt:

  • 04.09.2006, 6S.268/2006, Procédure pénale, Fixation de la peine (art. 63 CP)
  • 02.11.2006, 6S.54/2006, Straftaten , Unbefugte Datenbeschaffung; Verletzung des Geschäftsgeheimnisses; Widerhandlu...
  • 07.11.2006, 1A.207/2006, Entraide et extradition, entraide judiciaire internationale en matière pénale au Royaume-Uni
  • 07.11.2006, 1A.209/2006, Entraide et extradition, entraide judiciaire internationale en matière pénale au Royaume-Uni
  • 07.11.2006, 1A.213/2006, Entraide et extradition, entraide judiciaire internationale en matière pénaled au Royaume-Uni
  • 07.11.2006, 1A.215/2006, Entraide et extradition entraide judiciaire internationale en matière pénale au Royaume-Uni
  • 15.11.2006, 6S.383/2006, Strafrecht (allgemein), Anordnung einer ambulanten Behandlung während des Strafvollzugs
  • 23.11.2006, 1P.362/2006, Grundrecht, Vernichtung des erkennungsdienstlichen Materials
  • 23.11.2006, 6S.208/2006, Infrazione Pornografia (art. 197 n. 1 e 4 CP)
  • 23.11.2006, 6S.445/2006. Straftaten , Widerhandlung gegen das Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Auländer
  • 24.11.2006, 1P.332/2006, Strafprozess, Kostenauflage bei Einstellung der Strafuntersuchung sowie Haftentschädigung
  • 27.11.2006, 6P.27/2006, Verfahren , Art. 32 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 2 EMRK (Strafverfahren; Grundsatz "in dubio pro reo")
  • 27.11.2006, 6S.428/2006, Diritto penale (in generale), Errore di diritto (art. 20 CP)
  • 01.12.2006, 6A.105/2006, Straf- und Massnahmenvollzug, Strafantritt
  • 23.11.2006, 1P.663/2006, Procédure pénale procédure pénale, LAVI, avocat d'office
  • *23.11.2006, 6S.331/2006, Droit pénal (en général)
    Fixation de la peine (art. 63 CP); fixation du montant de l'amende (art. 48 cp); s. dazu das Zitat ganz unten.
  • 27.11.2006, 1P.721/2006, Procédure pénale, refus de donner suite
    28.11.2006, 1P.575/2006, Strafprozess
  • 03.11.2006, 6S.258/2006, Straftaten, Erschleichung einer falschen Beurkundung (Art. 253 Abs. 1 StGB)
  • 23.11.2006, 1P.663/2006, Procédure pénale, procédure pénale, LAVI, avocat d'office
  • 24.11.2006, 6S.440/2006, Droit pénal (en général), Ordonnance de classement (lésions corporelles simples)
  • 27.11.2006, 1P.721/2006, Procédure pénale, refus de donner suite
  • 28.11.2006, 1P.575/2006, Strafprozess
  • 29.11.2006, 6P.179/2006, Procedura , Diritto a una via di ricorso in materia penale (art. 2 Protocollo addizionale...
  • 30.11.2006, 1P.736/2006, Strafprozess
  • 03.11.2006, 6S.258/2006, Straftaten , Erschleichung einer falschen Beurkundung (Art. 253 Abs. 1 StGB)
  • 15.11.2006, 6S.255/2006, Strafrecht (allgemein), Nötigung usw.; Opferstellung
  • 24.11.2006, 6S.333/2006, Procédure, Ordonnance de classement (homicide, etc.)
  • 24.11.2006, 6S.440/2006, Droit pénal (en général), Ordonnance de classement (lésions corporelles simples)
  • 27.11.2006, 1P.742/2006, Procédure pénale, paiement des dépens par la Caisse du Tribunal fédéral
  • 29.11.2006, 6P.179/2006, Procedura, Diritto a una via di ricorso in materia penale
  • 30.11.2006, 1P.736/2006, Strafprozess, Strafverfahren; dringliche vorsorgliche Massnahme
  • 30.11.2006, 1S.26/2006, Procédure pénale, ouverture d'une enquête de police judiciaire
  • 01.12.2006, 6S.434/2006, Verfahren, Üble Nachrede (Art. 173 StGB), eventuell Beschimpfung (Art. 177 StGB)
  • 02.12.2006, 6S.408/2006, Verfahren, Falsche Anschuldigung (Art. 303 Ziff. 1 Abs. 1 StGB), stationäre Massnahme
  • 02.12.2006, 6S.465/2006, Straftaten, Fahrlässige Tötung (Art. 117 StGB)
  • 29.11.2006, 6S.310/2006, Droit pénal (en général), Responsabilité restreinte (crime manqué d'assassinat; sursis à l'expulsion)
  • 01.12.2006, 6S.457/2006, Droit pénal (en général), Sursis à l'exécution de la peine (art. 41 CP); interdiction de conduire un véhicule

Der mit * markierte Entscheid ist zur Publikation in der amtlichen Sammlung vorgesehen. Es handelt sich um eine erfolgreiche Laienbeschwerde gegen eine Busse von CHF 250,000.00. Aus den Erwägungen:

Le Tribunal correctionnel a, au demeurant, motivé le montant de l'amende essentiellement par le fait, d'une part, que le recourant avait réalisé un bénéfice de plus d'un million de francs et qu'il ne convenait pas, dans ces circonstances, de prononcer une amende très réduite, au risque de faire croire que le crime paie, et, d'autre part, que certains de ses clients dans le trafic de viande avaient payé des amendes de plusieurs dizaines de milliers de francs, voire de 175'000 et 255'000 francs. Ces motifs sont étrangers à l'art. 48 ch. 2 CP. C'est en particulier la confiscation (art. 59CP) et non la sanction pénale qui tend à empêcher le délinquant de tirer profit de l'infraction. Quant à l'égalité de traitement avec des coaccusés, elle implique aussi de tenir compte de la situation financière des diverses personnes concernées (E. 6.3).

Sonntag, Dezember 10, 2006

Mauschelei im Wirtschaftsdepartement

Unter diesem Titel zitiert die NZZ am Sonntag aus einem Bericht der Eidgenössischen Finanzkontrolle (EFK) über die Förderagentur für Innovation (KTI), deren Leiter im November 2005 von Bundesrat Deiss überraschend abgesetzt worden war. Aus dem Artikel der NZZaS könnte man fast schliessen, dass bei der KTI nicht einfach nur ein bisschen gemauschelt, sondern handfest delinquiert wurde. Aus dem Artikel der NZZaS:
Die EFK kommt zum Schluss, dass bei der Vergabe von Mandaten von über 50'000 Franken die gesetzlichen Bestimmungen nicht oder nur teilweise eingehalten wurden. Nicht einmal Mandate über dem Schwellenwert von 248'950 Franken seien öffentlich ausgeschrieben worden, wie dies das Bundesgesetz über das öffentliche Beschaffungswesen verlangt. Ohnehin verliere dieses Bundesgesetz «praktisch seine Wirkung, da die KTI vorbestimmt habe, wer in welchem Rahmen Dienstleistungen erbringen kann».

So hätten Berater, die über mehrere Mandate bei der KTI verfügten, für den gleichen Tag doppelte Stunden in Rechnung gestellt oder wurde eine Hotelrechnung bezahlt, «welche gemäss vertraglicher Vereinbarung schon in der Spesenpauschale abgegolten war».

Weiter kritisiert die EFK die stark schwankenden Stundenansätze bis hin zu 350 Franken - obschon die festgelegte Höchstgrenze bei 190 Franken liegt; bei der ohnehin fraglichen Vergütung von «Arbeitslunches» seien die in der Bundespersonalverordnung festgelegten Pauschalansätze «teilweise massiv überschritten» worden; Mitarbeiter des Hotline-Teams erhielten im Jahr 2004 Gutscheine im Wert von je 1000 Franken, obwohl Einsatzprämien den Betrag von 250 Franken nicht übersteigen dürften; für die Geschäfts- und Ressortleitung der KTI wurden für die «Teambildungsförderung» zulasten des Bundes Theatereintritte finanziert.
Beim Bund Mauschelei, im richtigen Leben Betrug?

Vergewaltigung ist und bleibt Vergewaltigung

Die NZZ am Sonntag konfrontiert die Polizeivorsteherin (die Zürcher nennen die so) mit dem Vorwurf, die Polizei spreche im Fall Seebach von Vergewaltigung, bevor der Tathergang geklärt und durch ein Gericht beurteilt sei. Die Polizeivorsteherin (jetzt nenne ich sie halt auch so) weist jede Kritik von sich und stellt im Interview mit der NZZaS ganz nebenbei noch unter Beweis, dass sie die Kritik gar nicht begriffen hat. Hier ein paar Highlights, die für sich selbst sprechen:

F: Die von der Polizei gesichteten Filme zeigen den objektiven
Tatbestand. Dass Jugendliche Sex haben miteinander . . .

A: Warum sagen Sie jetzt verharmlosend, dass die Sex hatten miteinander? Als Frau reagiere ich sehr empfindlich, wenn Vergewaltigungen verharmlosend dargestellt und am Ende schöngeredet werden.

F: Die Jugendanwaltschaft sagt, man müsse unterscheiden zwischen dem objektiven Tatbestand, also dem, was man sieht, und dem subjektiven Tatbestand, also dem Wissen und Wollen der Verdächtigen. Der innere Tatbeitrag sei nicht so leicht zu ermitteln.

A: Und Sie glauben, dass meine Fachleute aufgrund der Handyfilme und der Ermittlungen keinen konkreten Tatverdacht äussern können?

F: Doch. Aber die strafrechtliche Beurteilung ist Sache der Richter, nicht der Polizei.

A: Die Polizisten sind Fachleute. Sie können beurteilen, ob die Jugendlichen das im gegenseitigen Einverständnis gemacht haben oder nicht.

F: Geht aus den Filmen eindeutig hervor, dass das Mädchen den Sex nicht wollte?

A: Ich habe die Filme nicht gesehen, aber wenn Polizei und Jugendanwaltschaft von Vergewaltigung sprechen, zweifle ich das nicht an. Eine Vergewaltigung ist und bleibt eine Vergewaltigung.

Samstag, Dezember 09, 2006

Neue Insiderstrafnorm

Der Bundesrat hat gemäss Medienmitteilung vom 08.12.2006 die Botschaft zur Teilrevision der Insiderstrafnorm (Art. 161 StGB) verabschiedet. Die Vorlage des Bundesrats lautet wie folgt:

Art. 161 Ziff. 3–5

3. Aufgehoben

4. Ist die Verbindung zweier Aktiengesellschaften geplant, so gelten die Ziffern 1 und 2 für beide Gesellschaften.

5. Die Ziffern 1, 2 und 4 sind sinngemäss anwendbar, wenn die Ausnützung der Kenntnis einer vertraulichen Tatsache Anteilscheine, andere Wertschriften, Bucheffekten oder entsprechende Optionen einer Genossenschaft oder einer ausländischen Gesellschaft betrifft.

Der Medienmitteilung ist zu entnehmen, dass der gesetzgeberische Aktionismus weiter geht:
ImZusammenhang mit der unbestrittenen Teilrevision der Insiderstrafnorm wird zurzeit auch verschiedentlich eine grundsätzliche Überprüfung der derzeitigen Regulierung im Bereich der Börsendelikte und des Marktmissbrauchs gefordert. Diese Fragen betreffen nicht nur das Strafrecht, sondern auch die Börsengesetzgebung. Eine solche grundsätzliche Überprüfung sowie die Ausarbeitung von weiteren Massnahmen sind jedoch komplex und bedingen einen grösseren Zeitaufwand. Deshalb hat der Bundesrat das Eidg. Finanzdepartement EFD am 29. September 2006 beauftragt, in Zusammenarbeit mit dem Eidg. Justiz- und Polizeidepartement EJPD den Bedarf für eine grundsätzliche Überprüfung der derzeitigen Regulierung im Bereich der Börsendelikte und des Marktmissbrauchs inklusive der Zuständigkeiten zu deren Verfolgung abzuklären.

Freitag, Dezember 08, 2006

Nicht ohne meinen Anwalt

Unter diesem Titel hat "10vor10" einen wie üblich eher dümmlichen Beitrag zur ständerätlichen Debatte um den "Anwalt der ersten Stunde" gesendet, der online ist. Immerhin lässt unser Staatsfernsehen beide Seiten zu Wort kommen. Aber nerven Sie sich doch einfach selbst.

Die Debatte des Ständerats von gestern und heute ist bereits verfügbar.

Donnerstag, Dezember 07, 2006

Bundesgericht c. Kanton Zürich

Das Obergericht des Kantons Zürich muss die beschlossene Einziehung von Waffen neu beurteilen, weil sein Entscheid für das Bundesgericht (6S.253/2005 vom 25.11.2006) nicht überprüfbar war:
Dem vorinstanzlichen Urteil lässt sich nicht entnehmen, welche dereingezogenen Waffen im Zusammenhang mit einer Straftat stehen. Ob es sich beider eingezogenen Faustfeuerwaffe SIG P220 um diejenige Pistole (...) handelte, welche der Beschwerdeführer anlässlich der Verkehrskontrolle vom 9. Oktober 2002 trug (...), ist zwar wahrscheinlich, ergibt sich jedoch mangels Ausführungen nicht schlüssig aus der vorinstanzlichen Begründung der Einziehung. Gleiches gilt für das anlässlich der selben Verkehrskontrolle entdeckte Kleinkalibergewehr "Jäger", für den am 7. August 2001 erworbenen Schussapparat (...), für die am 28. Mai 2003 erworbene Handfeuerwaffe Marke SIG (...) sowie für die im Januar 2003 erworbene Flinte der Marke Franchi (...). Die übrigen eingezogenen Waffen (...) lassen sich anhand der vorinstanzlichen Feststellungen keiner strafbaren Handlung zuordnen. Andererseits befinden sich soweit ersichtlich weder die am 12.November 2003 für die Drohung verwendete 'Kalaschnikow' noch die am 31.August 2002 unter Verletzung waffenrechtlicher Bestimmungen erworbene Waffe der Marke Colt, Kaliber 9 mm (...) unter den eingezogenen Waffen (E. 2.5).
Zum Thema "BGer c. ZH" s. meine entsprechenden Beiträge der letzten paar Tage hier, hier, hier, hier und hier.

Gestörter Anwalt

Ohne Kommentar ein Zitat aus 6S.54/2006 vom 02.11.2006:

Der Gesuchsteller gibt als Säumnisgrund an, sein bisheriger Rechtsvertreter A. habe aufgrund einer nicht wahrnehmbaren Störung des Gesundheitszustandes übersehen, dass die Vorschrift von Art. 34 Abs. 1 lit. c OG über den Stillstand der Frist zwischen dem 18. Dezember und dem 1. Januar für die Nichtigkeitsbeschwerde in Strafsachen nicht gilt (Art. 34 Abs. 2 OG).

Obergericht ZH erneut gerüffelt

Zur Zeit wird offenbar praktisch jede Beschwerde gegen Entscheidungen aus dem Kanton Zürich gutgeheissen. Hier ein Zitat aus dem Urteil des Bundesgerichts vom 15.11.2006 (6S.383/2006, Anordnung einer ambulanten Behandlung während des Strafvollzugs):
Vorliegend sind keine näheren, von Fachpersonen erstellten Informationen über den aktuellen Gesundheitszustand des Beschwerdeführers vorhanden. Gestützt auf Art. 13 StGB wäre die Vorinstanz jedoch vor der Anordnung einer ambulanten Massnahme gehalten gewesen, solche weiterführenden Abklärungen von Amtes wegen in die Wege zu leiten. Dieser Verpflichtung zum Beizug von Sachverständigen kann sie sich insbesondere nicht mit dem Hinweis darauf entledigen, der Beschwerdeführer selbst habe die Einreichung entsprechender Gutachten bzw. Berichte zwar ausdrücklich in Aussicht gestellt, diese aber schliesslich trotzdem nicht vorgelegt (E. 3.4).

Fehlurteil geschützt?

Das Bundesgericht schützt ein Urteil der Aargauer Justiz und qualifiziert die dagegen geführte Beschwerde als aussichtslos, was angesichts folgenden Zitats aus dem Urteil des Bundesgerichts zumindest als erstaunlich erscheint (1P.332/2006 vom 24.11.2006):
Die Staatsanwaltschaft hat die Kostenauflage in ihrer Verfügung vom 13. Januar 2006, die sie nach der Weisung der Beschwerdekammer "einlässlich" zu begründen hatte, wie folgt begründet: "Aufgrund der Ermittlungsergebnisse steht fest, dass der Beschuldigte den Geschädigten bedroht hat. Durch diese Handlungen hat er die Persönlichkeit des Geschädigten gemäss Art. 28 ff. ZGB verletzt, weshalb er analog den zivilrechtlichen Grundsätzen für das vorliegende Strafverfahren kostenpflichtig zu erklären ist." Diese Begründung ist keineswegs einlässlich, sie ist im Gegenteil geradezu provozierend knapp. Zu prüfen ist hier indessen nicht, ob sich die Staatsanwaltschaft ernsthaft bemüht hat, die obergerichtliche Vorgabe loyal zu erfüllen, sondern einzig, ob die von ihr gelieferte Begründung vor der Verfassung standhält.

Die Begründung beginnt mit dem Ergebnis der Beweiswürdigung, indem festgehalten wird, es stehe fest, dass der Beschwerdeführer den Geschädigten bedroht habe. Sodann wird dieser Sachverhalt rechtlich gewürdigt, indem ausgeführt wird, dieses Verhalten sei zivilrechtlich als Persönlichkeitsverletzung im Sinne von Art. 28 ff. ZGB zu qualifizieren. Daraus wird alsdann der Schluss gezogen, dies rechtfertige die Kostenauflage an den Beschwerdeführer. Damit wird diese wenigstens dem Grundsatz nach begründet. Da die Höhe der Verfahrenskosten bereits zuvor - mit Schreiben des Bezirksamts Aarau vom 15. April 2005 - detailliert ausgewiesen worden waren, vermag dies den verfassungsmässigen Begründungsanforderungen gerade noch zu genügen. Ob die Begründung zutrifft oder nicht, spielt unter dem Gesichtspunkt des rechtlichen Gehörs keine Rolle (E. 4.2, Hervorhebungen durch mich).
Anzumerken ist freilich, dass das Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer wegen Rückzugs des Strafantrags zurückgezogen worden war und dass der Beschwwerdeführer nicht immer glücklich argumentiert zu haben scheint.

Vernichtung von erkennungsdienstlichem Material

Mit Urteil 1P.362/2006 vom 23.11.2006 zwingt das Bundesgericht den Kanton BS, das erkennungsdienstliche Material über einen Beschwerdeführer zu vernichten. Gegen ihn war ein Strafverfahren eingeleitet worden, das wegen Rückzugs des Strafantrags eingestellt wurde. Die folgende Begründung des Urteils der Vorinstanz qualifizierte das Bundesgericht als willkürlich:
Das Strafgericht hielt im Wesentlichen fest, dass die Einstellung des Verfahrens infolge Rückzugs des Strafantrages einer Einstellung des Verfahrens mangels Beweisen gleichzustellen sei und nach § 8 Abs. 3 lit. a der Verordnung über die erkennungsdienstliche Behandlung gemäss § 76 der Strafprozessordnung lediglich nach Ablauf von fünf Jahren zur Vernichtung des erkennungsdienstlichen Materials führe; die Einstellung des Verfahrens infolge Rückzugs des Strafantrags sei insoweit nicht einer Einstellung wegen erwiesener Unschuld oder einem Freispruch im Sinne von § 8 Abs. 2 der Verordnung gleichzustellen, für welche Fälle erkennungsdienstliches Material vorzeitig vernichtet werden könne.
Nur auf Willkür hin prüfte das Bundesgericht die Beschwerde, weil die Aufbewahrung von erkennungsdienstlichen Daten für sich allein keinen schweren Eingriff in die Grundrechte des Betroffenen darstelle.

Blocher zum "Anwalt der ersten Stunde"

Bundesrat Blocher hat sich heute im Ständerat gemäss NZZ für den "Anwalt der ersten Stunde" erfolgreich eingesetzt:
Blocher wies zudem darauf hin, dass im Kanton Solothurn, der diese Regelung bereits seit Jahren kennt, nach anfänglicher Skepsis von Seiten der Polizei heute niemand mehr darauf verzichten wolle. Denn mit der Anwesenheit eines Anwalts könne beispielsweise auch späteren Unterstellungen der Wind aus den Segeln genommen werden, dass der Beschuldigte bei der Einvernahme unter Druck gesetzt worden sei.
Eine Zusammenfassung der heutigen Debatte findet sich im Tagesanzeiger, der aus Sicht der Verteidigung allerdings auch schlechte Neuigkeiten verbreitet (Ausbau der polizeilichen Befugnisse bei der bewilligungsfreien Observation, weitere Lockerung des ehemals absolut geltenden Anwaltsgehimnisses!).

Mittwoch, Dezember 06, 2006

Unredliches zum "Anwalt der ersten Stunde"

Just vor der Behandlung der Vereinheitlichung des Strafprozessrechts durch den Ständerat äussert sich ein aus Funk und Presse bekannter Staatsanwalt in der heutigen Ausgabe der NZZ zum "Anwalt der ersten Stunde". Der Autor sagt nicht, dass er keine eigenen Erfahrungen mit dem Anwalt der ersten Stunde hat, was mich seine Äusserungen jedenfalls stark vermuten lassen. Er verschweigt, dass das Institut, das übrigens in etlichen Kantonen völlig klaglos und seit Jahren praktiziert wird, einen bescheidenen Ausgleich zum gewaltigen Machtzuwachs auf Seiten der Staatsanwaltschaft darstellt. Ich halte es für unrechdlich, wenn ein ausgewiesener Fachmann (bei Staatsanwälten gilt bekanntlich bereits deren Wahl als Fachausweis) auf diese Weise Stimmung macht und die Politik zu beeinflussen versucht.

Da der Artikel online nicht bzw. nur gegen Bezahlung erhältlich ist, gebe ich hier ein paar Highlights wieder mit meinen Bemerkungen in Klammern:

Gemäss Art. 156 Abs. 1 des Entwurfs ist die Verteidigung bereits bei der ersten polizeilichen Einvernahme des beschuldigten Mandanten zuzulassen, und ihr muss auch die Möglichkeit eingeräumt werden, sich vorher «unter vier Augen» mit der beschuldigten Person zu besprechen. Die Polizei hat dabei auf die Abkömmlichkeit der Verteidigung Rücksicht zu nehmen. [Art. 156 Abs. 2 lautet wie folgt: Wer sein Teilnahmerecht geltend macht, kann daraus keinen Anspruch auf Verschiebung der Einvernahme ableiten].

Vor allem aber kann der «Anwalt der ersten Stunde» nicht im Interesse einer effizienten, an der Erforschung der tatsächlichen - und nicht nur der prozessualen - Wahrheit orientierten Strafrechtspflege sein [Mit dieser Argumentation kann man auch begründen, dass die Verteidigung die Wahrheitsfindung immer nur erschwert und daher abgeschafft gehört].

Denn dieses Institut trägt genau besehen den realen Gegebenheiten und Bedürfnissen des strafjustiziellen Alltags nicht Rechnung, vielmehr hindert es die rasche Strafverfolgung vor allem im Zeitpunkt der Entstehung eines Tatverdachts, also beim ersten Zugriff von Polizei und Justiz im Rahmen der Festnahme eines Tatverdächtigen ["strafjustizieller" Alltag? rasche Strafverfolgung?]

Die praktische Erfahrung zeigt, dass Beschuldigte zu Beginn eines Strafverfahrens, vielfach noch unter dem Einfluss der begangenen Straftat und der Festnahme, eher unbehelligt von taktischen Überlegungen aussagen, als dies im späteren Verfahrensverlauf der Fall ist [Richtig ist, dass der Einfluss der Festnahme der Wahrheitsfindung alles andere als förderlich ist. Aber egal, was bitte hat der Anwalt der ersten Stunde damit zu tun?]

Deswegen sollte einer tatverdächtigen verhafteten Person unter keinen Umständen der Anspruch gewährt werden, sich vor der ersten Einvernahme noch «unter vier Augen» mit der Verteidigung zu unterhalten. Wird ein solcher Kontakt zugelassen, sind die Aussagen des Beschuldigten naturgemäss massiv von taktischen Erwägungen gefiltert, was den Wert als Beweismittel schmälert und die Wahrheitsfindung beeinträchtigt [Woher weiss der Mann das alles?]

Hoffentlich fällt der Ständerat nicht auf solche Stimmungsmache herein.

Freitag, Dezember 01, 2006

Vom Strafvollzug direkt in die Auslieferungshaft

Der Präsident der Strafkammer des Bundesstrafgerichts hat anlässlich einer Haftanhörung einen auf den ersten Blick etwas merkwürdigen Entscheid getroffen, der einen Gefangenen im vorzeitigen Strafvollzug betrifft (SK.2006.16 vom 12.10.2006). Während der Vertreter der Bundesanwaltschaft die Fortführung des Strafvollzugs beantragte, forderte der Häftling seine Haftentlassung, weil die vorzeitig bereits verbüsste Strafe bereits in der Nähe der gegebenenfallse zu erwartenden Freiheitsstrafe kam.

Der Präsident teilte die Auffassung, die Fortsetzung des Strafvollzug sei unverhältnismässig:
Weiter andauernder vorzeitiger Strafvollzug ist unter diesen Umständen nicht mehr verhältnismässig. Der Angeklagte ist zu entlassen (E. 3, Hervorhebung durch mich).
In der Folge hat der Präsident dann aber die Strafanstalt dennoch angewiesen, mit der Entlassung zuzuwarten. Grund dafür ist, dass ein internationaler Haftbefehl aus Österreich vorliegt. Die Voraussetzungen für einen auslieferungsrechtlichen Freiheitsentzug waren erfüllt, so dass Auslieferungshaft anzuordnen war. Die drohende Auslieferung stellte den Präsidenten nun aber vor das nächste Problem: Die in der Schweiz ev. noch zu verbüssende Reststrafe musste noch sichergestellt werden. Dieses Problem löste der Präsident, indem er im Dispositiv festhielt:
Das Bundesamt für Justiz wird eingeladen, beim ersuchenden Staat die Zusicherung einzuholen, dass er den Angeklagten für das Verfahren vor Bundesstrafgericht sowie für den Strafvollzug rückliefert und die Rücklieferung nicht durch Vollzugsanordnungen gefährdet. Das Bundesamt wird zudem eingeladen, die Auslieferung nicht vor oder ohne eine solche Verpflichtung zu vollziehen.
Die nächste Frage taucht bereits auf: Wird die Auslieferungshaft an eine gegebenfalls zu verbüssende Strafe in der Schweiz angerechnet? Dies wird wiederum das Bundesstrafgericht entscheiden müssen, wo die Anklage hängig ist.

Bei der Rechtsmittelbelehrung stiess der Präsident an Grenzen:
Nach seinem Wortlaut sieht das Bundesrecht also kein Rechtsmittel gegen diesen Entscheid vor. Das schliesst nicht aus, dass das Bundesgericht durch Gesetzesanwendung per analogiam oder freie Rechtsfindung auf einen Rechtsbehelf einträte. Darüber kann in diesem Entscheid jedoch keine Belehrung erfolgen (E. 5).

Rechtmässige Isolationshaft

Unter welchen Umständen in der Untersuchungshaft Haftverschärfungen rechtmässig angeordnet werden können, ist in einem neuen Urteil des Bundesgerichts (1P.720/2006 vom 20.11.2006) nachzulesen, von dem ich hier lediglich einen Teil des Sachverhalts wiedergebe:
Im Rahmen dieser Strafuntersuchung verfügte die Staatsanwaltschaft Zürich-Limmat am 14. Juli 2006 gestützt auf §§ 109 ff. der Justizvollzugsverordnung vom 24. Oktober 2001 (JVV/ZH; LS 331.1) haftverschärfende Massnahmen gegen den Angeschuldigten wegen Kollusionsgefahr, da im Bezirksgefängnis Zürich ein Mobiltelefon in einem dem mitangeschuldigten Bruder zugänglichen Bereich sichergestellt worden war. DieAuswertung des Telefonverkehrs hatte ergeben, dass A. das Handy benutzt hatte, um mit Personen ausserhalb des Bezirksgefängnisses Zürich in Kontakt zu treten bzw. dass er von Personen ausserhalb des Gefängnisses kontaktiert wurde. Der Staatsanwalt verhängte deshalb gegenüber dem Angeschuldigten eine Besuchssperre, [...]. Weiter verfügte der Staatsanwalt Einzelhaft und entschied, der Angeschuldigte dürfe nur alleine spazieren. Die beiden letztgenannten Regelungen gälten einstweilen, längstens bis zur Durchführung des geschworenengerichtlichen Verfahrens im ersten Quartal des Jahres 2007.
Insbesondere die vollständige Isolation bis zur Hauptverhandlung kann kaum verhältnismässig sein, weil sie nicht notwendig ist und weil mildere Massnahmen ausreichen würden. Das Bundesgericht sah es aber anders.

Neues Strafmass für Marco Camenisch

Das Bundesgericht hat die Nichtigkeitsbeschwerde von Marco Camenisch (s. meinen letzten Beitrag dazu) gegen das Urteil des Geschworenengerichts des Kantons Zürich gutgeheissen. Der Entscheid des Bundesgerichts (6S.146/2005 vom 14.11.2006) ist zur Publikation in der amtlichen Sammlung vorgesehen. Ich beschränke mich hier auf die Darstellung der Schlussfolgerung des Bundesgerichts:
Da die Vorinstanz indes für die Mordtat von Brusio für sich genommen einezeitige Strafe für angemessen hielt (E. 9.2.1), hätte sie richtigerweise auch für die hypothetische Gesamtstrafe eine zeitige Strafe zugrunde legen müssen(vgl. E. 9.2.3). Hiefür wäre sie aber an die Höchstgrenze von 20 Jahren gemäss Art. 35 StGB gebunden gewesen. Daraus folgt, dass im vorliegenden Fall eine auszufällende zeitige Zusatzstrafe höchstens auf 8 Jahre Zuchthaus (20 Jahre abzgl. 12 Jahre der italienischen Grundstrafe) lauten könnte (E. 9.2.4).
Die staatsrechtliche Beschwerde wegen willkürlicher Beweiswürdigung hat das Bundesgericht dagegen abgewiesen.

Wash-Wash-Betrug

Wer immer mal wissen wollte, wie die Nigeria-Connection unter anderem vorgeht und wer nicht glaubte, dass es Menschen gibt, die darauf hereinfallen, der lese einen neueren Bundesgerichtsentscheid dazu: Urteil 6S.168/2006 vom 06.11.2006.

Der Beschwerdeführer machte fehlende Arglist geltend (Opfermitverantwortung). Das Bundesgericht seine Rechtsprechung zur Opfemitverantwortung recht ausführlich zusammen. So richtig zu überzeugen vermag diese allerdings nicht, weil sie m.E. im Einzelfall zu sehr auf das konkrete Verhalten des "Opfers" abstellt, obwohl das Bundesgericht selbst eher das Gegenteil fordert:
Je grösser der Täuschungsaufwand erscheint, desto stärker wird die Opfermitverantwortung in den Hintergrund treten. Denn die Strafbarkeit wird durch das Verhalten des Täuschenden begründet und nicht durch jenes des Getäuschten, der im Alltag seinem Geschäftspartner nicht wie einem mutmasslichen Betrüger gegenübertreten muss (E. 2.3).
Die Beschwerde beurteilte das Bundesgericht übrigens als aussichtslos und verweigerte dem Beschwerdeführer die unentgeltliche Rechtspflege.

Mittwoch, November 29, 2006

Arbeitsüberlastung

Ob das Bundesgericht überlastet ist, weiss ich nicht. Ich wäre es jedenfalls, wenn ich zu jedem neuen Entscheid im Straf-/Strafprozess-/Strafrechtshilferecht etwas sagen wollte. Gestern wurden folgende neue Urteile online gestellt:
  • 23.10.2006, 6S.262/2006, Straftaten , Fahrlässige schwere Körperverletzung
  • 02.11.2006, 1A.199/2006, Rechtshilfe und Auslieferung, Auslieferung an Österreich
  • 02.11.2006, 6P.91/2006, Strafprozess, Strafverfahren (Willkür, Unschuldsvermutung)
  • 02.11.2006, 6P.92/2006, Strafprozess, Strafverfahren (Willkür, Unschuldsvermutung)
  • 02.11.2006, 6S.147/2006, Strafrecht (allgemein), Strafzumessung
  • *03.11.2006, 6S.362/2006, Strafrecht (allgemein), Revision des Urteils des Bundesgerichts vom 1. Mai 2001 (6S.49/2000)
  • 06.11.2006, 6S.324/2006, Verfahren, Strafverfahren; Menschenwürde (Art. 7 BV), Willkürverbot (Art. 9 BV), rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV), Grundsatz "in dubio pro reo" (Art. 32Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 2 EMRK)
  • 07.11.2006, 1A.206/2006, Entraide et extradition, Extradition à la Géorgie, zur Publikation in der amtlichen Sammlung vorgesehen
  • 10.11.2006, 1P.464/2006, Verfahren
  • **10.11.2006, 6S.237/2006, Strafrecht (allgemein), Strafzumessung (Art. 63 StGB), bedingter Strafvollzug (Art. 41 Ziff. 1 Abs. 1)
* Hier handelt es um den Revisionsentscheid i.S. Dammann (s. dazu meinen früheren Beitrag)

** Hier ist der Beschwerdeführer durchgedrungen, weil das Obergericht des Kantons Zürich (einmal mehr) bei der Strafzumessung patzte:
Die Zusatzstrafe darf jedoch nicht für sich festgesetzt und zur schwersten Strafe dazu addiert werden, vielmehr erfolgt auch hier eine Erhöhung nach dem Asperationsprinzip bei Tatmehrheit gemäss Art. 68 Ziff. 1 StGB (BGE 69 IV 54 E. 4; s.a. Entscheid 6S.22/2006 vom 7. April 2006, E. 4.2.1.; E. 2.2.3).

Dienstag, November 28, 2006

Gewonnen oder verloren?

In einem Strafverfahren kann man bekanntlich auch dann als Verlierer dastehen, wenn der Richter den Hauptanträgen der Verteidigung vollumfänglich entspricht.

Einen solchen Fall hatte das Bundesgericht auf staatsrechtliche Beschwerde hin wegen Verweigerung einer Entschädigung zu beurteilen (Urteil 1P.429/2006 vom 13.11.2006). Der Beschwerdeführer hat einen Strafbefehl insofern erfolgreich angefochten, als der Polizeirichter den Sachverhalt rechtlich anders würdigte und die Strafe reduzierte. Das Kantonsgericht des Kantons Freiburg verweigerte dem Beschwerdeführer eine Entschädigung, weil ihn der Polizeirichter wegen desselben Sachverhalts verurteilt hatte wie der Aussteller des Strafbefehls. Nur weil der Polizeirichter den Sachverhalt rechtlich anders würdigte und einen Tatbestand fallen liess, liege kein Freispruch vor. Im Übrigen sei der Schaden des Beschwerdeführers - er hatte Anwaltskosten von knapp CHF 3,000.00 geltend gemacht - nicht erheblich.

Freitag, November 24, 2006

Besonders gefährlicher Logistiker

Wer für eine ausländische Einbrecherbande Wohnungen und andere Infrastruktur organisiert, offenbart dadurch seine besondere Gefährlichkeit und wird wegen qualifizierten bandenmässigen Diebstahls verurteilt werden (Art. 140 Ziff. 3). Dies hat das Obergericht des Kantons Bern in einem Strafverfahren festgestellt. Das Bundesgericht hat diese Beurteilung auf Nichtigkeitsbeschwerde hin geschützt (6S.193/2006 vom 03.11.2006). Aus dem Sachverhalt:
Um die Infrastruktur kümmerte sich der Beschwerdeführer, indem er das Studio eines Kollegen als Unterschlupf organisierte (Einbruch von Montreux), eine Wohnung in Clarens als Untermieter übernahm, den Aufenthalt in einem Chalet in Crans ermöglichte (Einbrüche von Crans), die eigene Wohnung in Montreux als Zentrale sowie den eigenen zweiten Estrich als Beuteversteck zur Verfügung stellte, einen Audi zum Gebrauch für die Bandenmitglieder ankaufte und schliesslich Verpflegung und eine Waschgelegenheit organisierte. Diese logistischen Tatbeiträge stuft die Vorinstanz als besonders bedeutungsvoll ein, weil der Beschwerdeführer als einziges Bandenmitglied Wohnsitz in der Schweiz hatte, sich hier näher auskannte und sein Beziehungsnetz einsetzen konnte. Bei den übrigen Beteiligten handelte es sich um Kriminaltouristen, die auf die Bereitstellung der Infrastruktur durch den Beschwerdeführer angewiesen waren. Die Vorinstanz stellt weiter fest, dass er an der Planung der Delikte beteiligt war und sich die Einbrecher vor und nach der Tat regelmässig bei ihm versammelten. Er war deshalb über die fünf fraglichen Einbrüche vorgängig im Bild und hat sich spätestens im Verlauf der Vorbereitungen den Vorsatz der Bandenmitglieder zu eigen gemacht, soweit er bei der eigentlichen Entschlussfassung und Deliktsverübung nicht mitwirkte. Eine weitergehende Tatbeteiligung stellt die Vorinstanz bei den Einbrüchen in Crans fest, wo der Beschwerdeführer auch an Vorbereitungshandlungen mitwirkte und als Auskundschafter tätig war, ferner bei jenem in Luzern, bei dem er einen Beteiligten an den Tatort fuhr und an der Entwendung von zwei Audi beteiligt war, und schliesslich bei jenem von Thun, für den er Strümpfe als Gesichtsmasken beschaffte und nach der Durchführung beim Zählen und Verstecken der Beute - unter anderem durch Erstellen der Beuteliste - mitwirkte (E. 2).
Die rechtliche Begründung des Entscheids fällt äusserst kurz aus. Sie beschränkt sich im Wesentlichen auf folgende Feststellung:
Letztere setzt nicht die Teilnahme an der eigentlichen Ausführung der Tat voraus (BGE 120 IV 17 E. 2d S. 23). Entscheidend ist vielmehr, dass die übrigen Tatbeteiligten nach den vorinstanzlichen Feststellungen auf die Infrastruktur, die der Beschwerdeführer bereit stellte, angewiesen waren, weil sie in der Schweiz keinen Wohnsitz hatten und sich hier nicht auskannten (E. 3).

Verhaftungen nach Drohneneinsätzen

Die NZZ berichtet hier darüber, dass im Kanton Tessin vier Personen, die illegal in die Schweiz einreisen wollten, nach Einsätzen von Drohnen verhaftet wurden. Der Einsatz war vom Bundesrat am 5. Juli 2006 bewilligt worden.

Richter als Drückeberger?

Bei den im Internet publizierten Entscheiden des Bundesgerichts fällt auf, dass regelmässig Verletzungen der Garantie des verfassungsmässigen Richters (Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK) gerügt werden, auffällig oft in Laienbeschwerden (Anwälte lassen sich für sowas halt nicht so leicht finden). Gutgeheissen werden solche Beschwerde kaum je. Dies steht in einem gewissen Spannungsverhältnis zur Tatsache, dass die Sensibilität der Rechtsunterworfenen in diesem Punkt sehr hoch ist. Meines Erachtens stellt die Justiz in diesem Bereich allzu leichtfertig Vertrauen aufs Spiel. Das kann vielleicht anhand eines neu ins Netz gestellten Urteil des Bundesgerichts gezeigt werden, obwohl es sicher bessere Beispiele gibt.

In 1P.583/2006 vom 13.11.2006 hatte sich das Bundesgericht mit einem Fall zu befassen, in dem ein Beschwerdeführer ein umfassendes Ablehnungsbegehren gegen die Richter des Kantonsgerichts Wallis gestellt hatte. Zwei Richter kamen in ihren Stellungnahmen zum Schluss, sie seien vorbefasst und das gegen sie gestellte Ablehnungsbegehren sei berechtigt. Selbst das reichte hingegen nicht, die beiden Richter abzulehnen:
Soweit der Beschwerdeführer sinngemäss vorbringt, die beiden ordentlichen Mitglieder des Kantonsgerichts hätten selber den Ausschlussgrund gemäss Art. 33 Ziff. 1 lit. b StPO/VS als gegeben erachtet, ist festzuhalten, dass nicht jede Erklärung, mit welcher eine Gerichtsperson den Ausstand erklärt oder eingegen sie gerichtetes Ablehnungsbegehren unterstützt, unbesehen hingenommen werden darf (BGE 116 Ia 28 E. 2c S. 31; 105 Ia 157 E. 6c S. 165 f.). Denn der Anspruch auf den verfassungsmässigen Richter kann auch dadurch verletzt sein, dass sich einzelne Richterinnen und Richter oder gar ein ganzes Gericht vorschnell als befangen erklären und sich damit ihrer richterlichen Aufgabe entziehen (BGE 105 Ia 157 E. 6a S. 163; Jörg Paul Müller, Grundrechte in der Schweiz, 3. Auflage, Bern 1999, S. 576). Der Ausstand muss die Ausnahme bleiben, denn sonst besteht die Gefahr, dass die regelhafte Zuständigkeitsordnung für die Gerichte bis zu einem gewissen Grade illusorisch und die Garantie des verfassungsmässigen Richters von dieser Seite ausgehöhlt wird (BGE 105 Ia 157 E. 6a S. 163; vgl. auch BGE 108 Ia 48E. 3 S. 53; E. 2.5).
Die beiden vorbefassten Richter wollten sich also bloss vor ihren Pflichten drücken?

Dienstag, November 21, 2006

Ausgetrickst und reingefallen

Das Untersuchungsrichteramt des Kantons Solothurn hat im Jahr 2002 ein umfangreiches Wirtschaftsstrafverfahren eröffnet, das nach Abtretung an die Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt eingestellt wurde. Diese hat dem zu Unrecht Beschuldigten eine Partientschädigung von CHF 550.00 zugesprochen und erwogen, für die Kosten bis zur Übernahme des Verfahrens habe der Kanton Solothurn aufzukommen. Die kantonalen Rechtsmittel dagegen blieben weitgehend erfolglos.

Parallel dazu beantragte der Beschuldigte beim Untersuchungsrichteramt des Kantons Solothurn eine Parteientschädigung von CHF 28,376.80. Auch dieses Begehren wurde abgewiesen und erfolglos weitergezogen, zuletzt mit Nichtigkeitsbeschwerde ans Bundesgericht, das auf die Beschwerde allerdings nicht eintreten konnte (Urteil 6S.435/2006 vom 09.11.2006).
Das Bundesgericht verweist auf seine Rechtsprechung, wonach die örtliche Zuständigkeit nach Art. 346 ff. StGB auch die Kompetenz umfasse, im Endurteil über die Tragung der Kosten des Verfahrens und der Untersuchungshaft durch den Angeschuldigten zu entscheiden, die in einem anderen Kanton erwachsen sind (BGE 121 IV 34). Danach stellte das Bundesgericht zur Natur der Entschädigungsforderung folgendes fest:
Entschädigungsforderungen eines Angeschuldigten nach Einstellung eines gegen ihn geführten Strafverfahrens folgen indessen nicht aus Bundesstrafrecht, sondern aus kantonalem öffentlichen Recht (BGE 108 Ia 13 E. 3). Dieses allein bestimmt, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen ein entsprechender Anspruch besteht. Anders verhielte es sich nur, wenn Entschädigungsansprüche gegenüber Bundesbehörden zu beurteilen wären (Art.122 BStP; vgl. hierzu BGE 126 IV 203).
Damit stand fest, dass der Beschwerdeführer das falsche Rechtsmittel ergriffen hatte. Die Nichtigkeitsbeschwerde konnte das Bundesgericht auch nicht in eine staatsrechtliche Beschwerde uminterpretieren, weil der Beschwerdeführer weder eine Verfassungsverletzung noch einen Verstoss gegen kantonales Recht geltend machte.

Damit bleibt der Beschwerdeführer wohl auf seinen Kosten der Verteidigung und derjenigen der diversen Rechtsmittel sitzen, die wohl nicht wesentlich tiefer zu beziffern sind. Er wurde von den beiden Kantonen schlicht und einfach ausgetrickst. Er hätte nicht den Solothurner Entscheid anfechten sollen, sondern den Basler. Dabei hätte er nicht Nichtigkeitsbeschwerde, sondern staatsrechtliche Beschwerde führen sollen. Ob er damit letztlich zum Ziel gelangt wäre, bleibt allerdings offen.

Versuchte Veräusserungshilfe

In 6S.249/2005 vom 12.10.2006 musste sich das Bundesgericht mit dem Tatbestand der Hehelerei (Art. 160 Ziff. 1 Abs. 1 StGB) und mit dem Versuch (Art. 21 f. StGB) auseinander setzen. Es hob dabei ein Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich auf.

Der Beschwerdeführer hatte gestohlene Wertpapiere offenbar zwecks Abklärungen für die Täterschaft entgegen genommen, was gemäss Bundesgericht unter dem Aspekt der Veräusserungshilfe zu prüfen war. In der Lehre umstritten ist, ob für die Vollendung der Tat ein Veräusserungserfolg erforderlich ist. Dazu nimmt das Bundesgericht wie folgt Stellung:
Die Tat ist vollendet, wenn die Hilfe tatsächlich zur Veräusserung der Sache geführt hat. Bleibt es hingegen bei der geleisteten Hilfe und kommt in der Folge "der Handel nicht zustande", ist wegen Versuchs der Hehlerei schuldig zu sprechen (BGE 112 IV 78). In diesem Fall bleibt nämlich die Verfügungsgewalt beim Vortäter. Es kommt zu keinem Anschlussdelikt, mit welchem die Wiederherstellung des rechtmässigen Zustands vereitelt oder erschwert würde. Die rechtswidrige Vermögenslage wird durch den Vortäter selber aufrecht erhalten. Diese Auslegung steht somit auch im Einklang mit der Perpetuierungstheorie und ihrem Grundgedanken, der Restitutionsvereitelung E. 1.2).
Das Obergericht muss nun bei der Neubeurteilung von einer Veräusserhungshilfe ausgehen und die Frage des Versuchs prüfen, die es im angefochtenen Entscheid nicht in Erwägung gezogen hatte.

Selbstverschuldete Zurechnungsunfähigkeit

Das Bundesgericht hatte in einem heute online gestellten Entscheid einen Fall von Art. 263 StGB zu beurteilen (6S.49/2006 vom 03.11.2006). Der Beschwerdeführer hatte versucht, eine 78-jährige Besucherin seines Lokals zu vergewaltigen, nachdem er fünf Stangen Bier und eine Flasche Raki (türkischer Schnaps mit 45 vol%) getrunken hatte und eine Blutalkoholkonzentration von min. 1,6 und max. 3,14 Promillen aufwies. Dafür wurde er vom Obergeicht des Kantons Zürich wegen Verübung einer Tat in selbstverschuldeter Unzurechnungsfähigkeit verurteilt. Das Bundesgericht hat diesen Entscheid bestätigt:
Die Feststellung der verminderten Zurechnungsfähigkeit bezieht sich ausschliesslich auf den Tatbestand von Art. 263 StGB und damit auf das Trinkverhalten vor der Rauschtat. Erst mit zunehmendem Alkoholkonsum verfiel der Beschwerdeführer in jenen alkoholinduzierten Dämmerzustand, der ihn seiner Einsichtsfähigkeit beraubte und in welchem er das Opfer zu vergewaltigen versuchte. [...] Ist demnach aber davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer zu Beginn seines Alkoholkonsums noch schuldfähig war - wenn auch in stark vermindertem Masse - verletzt seine Verurteilung gemäss Art. 263 StGB Bundesrecht nicht.

Montag, November 20, 2006

Rechtswidrig unterlassene Information

In einem Staatshaftungsfall hat ein türkisch-schweizerischer Dopplebürger erfolgreich Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen einen abweisenden Entscheid der Eidgenössischen Rekurskommission für die Staatshaftung geführt (Urteil 2A.212/2006 vom 09.10.2006).

Der Beschwerdeführer war in Deutschland augrund eines türkischen Auslieferungsersuchens in Ausschaffungshaft genommen worden und nach Aufhebung des Haftbefehls nach 112 Tagen wieder entlassen worden. Das Bundesamt für Justiz, das von der Ausschreibung Kenntnis hatte, teilte dem Beschwerdeführer die Ausschreibung nicht mit, obwohl das Bundesamt für Flüchtlinge der Auffassung war, er müsse über die internationale Fahndung orientiert werden. Wäre er orientiert worden, so machte der Beschwerdeführer geltend, hätte er sich nicht nach Deutschland begeben und wäre in der Folge nicht verhaftet worden.

Aus den Erwägungen des Bundesgerichts:
Als anerkannter Flüchtling musste er nicht davon ausgehen, dass ihn sein Heimatstaat weiterhin - allenfalls in einem Drittstaat - strafrechtlich verfolgt; es bestand daher für ihn kein Anlass, auch nach so langer Zeit noch vorsichtigerweise - unabhängig von einem konkreten Ereignis - auf Auslandreisen zu verzichten. Das Auslieferungsersuchen stellte aber in jedem Fall eine Aktualisierung der an sich nur noch latent bestehenden Gefahr einer Strafverfolgung dar und indizierte ein erhöhtes Risiko für den Beschwerdeführer. Wäre der Beschwerdeführer nicht ins Ausland gereist, so wäre er dort nicht verhaftet worden, und der geltend gemachte Schaden wäre nicht eingetreten (E. 3.2).
Unter Berufung auf BGE 117 IV 209 stellte das Bundesgericht fest:
Somit besteht nach dem Gesagten eine sich aus dem sinngemäss anwendbaren Art. 62 des Bundesgesetzes vom 22. März 1974 über das Verwaltungsstrafrecht VStrR (SR 313.0) ergebende Rechtspflicht der Rechtshilfebehörden, dem Verfolgten auch die (nur) mit diplomatischer Note erfolgte Ablehnung eines Auslieferungsersuchens mitzuteilen (E. 4.2).
Im weiteren erwog das Bundesgericht, dass sich eine Informationspflicht auch aus Art. 52 Abs. 1 IRSG ergeben könne, der offensichtlich eine Rechtsschutzregelung zu Gunsten des vom Auslieferungsbegehren Betroffenen darstelle (E. 4.3). Dies führte das Bundesgericht zu folgenden Schluss:
Indem das Bundesamt für Justiz dem Beschwerdeführer die Ablehnung der Auslieferung bzw. den Abschluss des Auslieferungsverfahrens nicht mitteilte, hat es somit eine zu Gunsten des Betroffenen geschaffene Schutznorm verletzt. Dass diese Unterlassung für die Verhaftung des Beschwerdeführers in Deutschland adäquat kausal war, wurde bereits ausgeführt. Damit braucht nicht mehr geprüft zu werden, ob mit der unterbliebenen Orientierung über das später erlassene internationale Fahndungsersuchen von Interpol Ankara bzw. die internationale Ausschreibung durch das Interpol-Generalsekretariat ebenfalls eine Rechtspflicht verletzt worden ist (E. 4.4).
Damit muss die Vorinstanz bzw. wohl das neue Bundesverwaltungsgericht über die Schadenersatzbegehren entscheiden. Der Kläger macht CHF 47,137.00 als Haftentschädigung sowie CHF 22,400.00 als Genugtuung geltend.

Freitag, November 17, 2006

Klarstellung: Motassadeq verurteilt

Mein früherer Beitrag muss klar gestellt werden. Zu diesem Zweck zitiere ich aus der Pressemitteilung des BGH, der den Schuldspruch des OLG Hamburg gleich selbst geändert hat und die Sache nur zur Festsetzung der Strafe zurückgewiesen hat:
Auf die Revisionen des Generalbundesanwalts und zweier Nebenkläger hat der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs den Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte nicht nur der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, sondern auch der Beihilfe zum Mord an den 246 Passagieren und Besatzungsmitgliedern der zum Absturz gebrachten Flugzeuge schuldig ist. Nach den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen besteht kein Zweifel, dass der Angeklagte vorsätzlich Hilfe zur Ermordung dieser Opfer geleistet hat. Seiner strafrechtlichen Verantwortlichkeit hierfür kann er entgegen der Ansicht des Oberlandesgerichts nicht deswegen entgehen, weil die Attentäter wesentlich mehr Menschen ums Leben brachten, als er sich vorgestellt hatte.

Mit Blick auf den bisherigen Verlauf des Verfahrens und die in ihm gewonnenen Beweisergebnisse ist ausgeschlossen, dass in einer neuen Hauptverhandlung dem Angeklagten ein darüber hinausgehender, die Tötung von Opfern in den Anschlagszielen einschließender Gehilfenvorsatz nachgewiesen werden könnte. Der Senat hat daher den Schuldspruch selbst geändert und die Sache lediglich zur Festsetzung einer neuen Strafe an das Oberlandesgericht zurückverwiesen. Dabei wird dieses unter dem Gesichtspunkt der vom Angeklagten verschuldeten Folgen seiner Tat gegebenenfalls auch die von ihm nicht vorausgesehene gesamte Dimension des Unrechts der Anschläge vom 11. September 2001 zu berücksichtigen haben.
In der Zwischenzeit hat der BGH nun den Haftbefehl wieder in Vollzug gesetzt (s. dazu auch NZZ).

Falsch aber nicht bundesrechtswidrig

Das Bundesgericht kritisiert in einem heute online gestellten Urteil (6S.243/2006 vom 04.10.2006), dass das Obergericht des Kantons Zürich angenommen habe, der schlechte Gesundheitszustand und eine ungünstige konstitutionelle Prädisposition des Opfers unterbreche den Kausalzusammenhang bei der schweren Körperverletzung (Art. 122 StGB, vgl. dazu BGE 131 IV 145 E. 5.3 S. 148 f.). Die Nichtigkeitsbeschwerde des Opfers, das sich gegen die Einstellungsverfügung beschwert hatte, wies es dennoch ab:
Da jedoch laut Gutachten Heilungschancen bestehen, ist nicht voneiner dauernden Beeinträchtigung auszugehen. Allerdings erscheint nach dem Gutachten eine Chronifizierung nicht mit absoluter Sicherheit ausgeschlossen. Dies ändert jedoch nichts daran, dass zurzeit mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht mit einer dauernden Persönlichkeitsveränderung zu rechnen ist und daher nicht von einer schweren Körperverletzung im Sinne von Art. 122 Abs. 2 oder 3 in Verbindung mit Art. 125 Abs. 2 StGB gesprochen werden kann. Bei unsicherer Prognose ist in Anwendung des Grundsatzes in dubio pro reo von einer Heilungschance auszugehen (Stefan Trechsel, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Kurzkommentar, 2. Auflage 1997, Art. 122 N 7). Schliesslich wäre nach dem Gutachten auch eine allfällige somatoforme Störung behandelbar, so dass auch insofern keine dauernde Beeinträchtigung zu erwarten wäre (E. 2.3).

Neuroimaging als Beweismittel?

Das Staatssekretariat für Bildung und Forschung (SBF) macht hier auf eine Veranstaltung von TA-Swiss vom 22. November 2006 aufmerksam. Hier ein paar Ausschnitte aus der Mitteilung:

Neuroimaging erlaubt, den Aufbau und das Funktionieren des Gehirns an lebenden Personen zu untersuchen. Weil das menschliche Gehirn mehr ist als ein gewöhnliches Organ, interessieren sich nicht nur Ärzte dafür. Auch Psychologinnen, Ökonomen und Juristinnen versuchen das Geheimnis des Gehirns zu bergründen.

Hirnbilder künftig in der Gerichtspraxis? Neuroimaging wird heute in der Grundlagenforschung, der biomedizinischen Forschung und Diagnose sowie bei der Therapie von Erkrankungen des Gehirns genutzt. Zudem untersuchen Forscher die kognitiven Leistungen. Sie setzen Neuroimaging auch in der forensischen psychologischen Forschung ein. Dabei geht es um folgende Fragen: Welche Modelle erklären kriminelles Verhalten am besten? Lassen sich auf die Hirnaktivität abgestützte Lügendetektoren entwickeln? Inwieweit lassen sich bei Straftätern abweichende Hirnfunktionen vorfinden? Die Möglichkeiten der neuen Technik könnten künftig auch Eingang finden in die Gerichtspraxis und die Therapie.

Dass das Geständnis als Königin der Beweismittel endlich abgelöst werden könnte, lässt ja durchaus hoffen. Aber was sich die Forschung vom Neuroimaging verspricht, ist zumindest beängstigend. Aber was sage ich da: Wer nicht über die Hirnfunktionen eines Straftäters verfügt, hat ja nichts zu befürchten.

Verordnungsdschungel

Der Bundesrat hat eine Sammelverordnung verabschiedet und teilt mit:
Im Bundesgerichtsgesetz (BGG) und Verwaltungsgerichtsgesetz (VGG), die am
1. Januar 2007 in Kraft treten werden, werden die Rechtswege auf Bundesebene neu geregelt. Im Anhang zu diesen Gesetzen sind bereits die Rechtsschutzbestimmungen in anderen Bundesgesetzen angepasst worden. In einem zweiten Schritt werden nun noch 112 Verordnungen den neuen Rechtsschutzbestimmungen angepasst und sechs Verordnungen aufgehoben.
Die über 30-seitige Sammelverordnung findet sich hier.

Donnerstag, November 16, 2006

Motassadeq verurteilt

Gemäss espace.ch ist Mounir el Motassadeq (s. meinen früheren Beitrag) wegen Beihilfe zu Mords (Unterstützung der Piloten von 9/11) verurteilt worden. Aus dem Artikel:
In seiner Urteilsbegründung erklärte der Vorsitzende Richter, Motassadeq habe den Attentätern organisatorisch den Rücken freigehalten und damit Hilfe zu den Mordtaten der Todespiloten geleistet. Ihm sei zwar nicht zu beweisen gewesen, dass er die Dimension der geplanten Attentate gekannt habe. Darauf komme es
aber nicht an, da Motassadeq auf jeden Fall gewusst habe, dass Anschläge mit Flugzeugen geplant gewesen seien und die Opfer in Kauf genommen habe. Damit habe er sich der Beihilfe zum Mord mindestens im Falle der 246 Fluggäste und Besatzungsmitglieder schuldig gemacht.