Mittwoch, Februar 28, 2007

Zuletzt auch noch prozessual gestolpert

Der (voraussichtlich) abschliessende Entscheid des Bundesgerichts im Fall des ehemaligen Gemeindepräsidenten von Leukerbad ist online (6S.127/2006 vom 16.02.2007). Auf die staatsrechtliche Beschwerde konnte das Bundesgericht allerdings gar nicht eintreten, weil die Rüge der Verletzung des Beschleunigungsgebots im voliegenden Fall mit Nichtigkeitsbeschwerde vorzubringen gewesen wäre:
Nach der Rechtsprechung ist die Rüge einer unmittelbaren Verletzung der Bundesverfassung oder der EMRK mit staatsrechtlicher Beschwerde vorzubringen. Entsprechend hat das Bundesgericht in den vom Beschwerdeführer angerufenen Entscheiden erkannt, dass eine unmittelbare Verletzung des Beschleunigungsgebots mit staatsrechtlicher Beschwerde geltend zu machen ist. In BGE 119 IV 107 trat es deshalb auf die Nichtigkeitsbeschwerde nicht ein, soweit darin gerügt wurde, die kantonale Instanz habe eine Verletzung des Beschleunigungsgebots zu Unrecht verneint (siehe auch BGE 124 I 139).

In seiner neueren Rechtsprechung hat das Bundesgericht indessen präzisiert, dass die Rüge, bei der Strafzumessung sei eine Verletzung des Beschleunigungsgebots zu Unrecht nicht berücksichtigt worden, mit der eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde zu erheben ist, unabhängig davon, ob die kantonale Behörde eine Verletzung des Beschleunigungsgebots ausdrücklich bejaht oder verneint oder aber gar nicht behandelt hat. Das Bundesgerichtprüft mithin die Frage der Verletzung des Beschleunigungsgebots im Verfahren der eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde vorfrageweise zur Hauptfrage der Strafzumessung (BGE 130 IV 54 E. 3.3.2; Urteil 6S.98/2003 vom 22. April 2004, E. 2.2, in Pra 2004 Nr. 139 S. 785, mit Hinweisen; siehe auch Urteil 6S.216/2006 vom 30. August 2006)(E. 2.3).
Damit ist Loretan über einen prozessualen Fallstrick gestolpert, was ihm aber im Ergebnis wohl nicht geschadet hat.

Enttäuschter Bundesanwalt

Laut NZZ und Tages-Anzeiger hat das Bundesstrafgericht (Strafkammer) sämtliche Beschuldigten im schweizerischen al-Kaida-Prozess von den Hauptvorwürfen freigesprochen. Verurteilungen gab es nur im Bereich der ANAG-Widerhandlungen.

Der stellvertretende Bundesanwalt, der das Verfahren leitete, zeigte sich enttäuscht. Es würde mich nicht wundern, wenn seine Enttäuschung so gross wäre, dass er den Fall weiterziehen wird. Auf ein paar zehntausend Franken zusätzlich kommt es ja sicherlich nicht an, zumal die erforderlichen Mittel à discretion zur Verfügung stehen.

Übrigens: Kann mir jemand erklären, weshalb Staatsanwälte nach Freisprüchen enttäuscht sein sollen?

Dienstag, Februar 27, 2007

Verfassungswidrige Durchsuchung von Redaktionsräumen

Im Fall "CICERO" hat das Bundesverfassungsgericht Durchsuchungen und Beschlagnahmungen in den Redaktionsräumen des Politikmagazins als verfassungswidrig qualifiziert (Verletzung der Pressefreiheit). Aus dem Beschluss (1 BvR 538/06 vom 27.2.2007):
Rz.44: Eine Durchsuchung in Presseräumen stellt wegen der damit verbundenen Störung der redaktionellen Arbeit und der Möglichkeit einer einschüchternden Wirkung eine Beeinträchtigung der Pressefreiheit dar (vgl. zuletzt BVerfG, 1. Kammer des Ersten Senats, Beschluss vom 1. Februar 2005 - 1 BvR 2019/03 -, NJW 2005, S. 965). Auch können potentielle Informanten durch die begründete Befürchtung, bei einer Durchsuchung könnte ihre Identität festgestellt werden, davon abgehalten werden, Informationen zu liefern, die sie nur im Vertrauen auf die Wahrung ihrer Anonymität herauszugeben bereit sind. Überdies liegt in der Verschaffung staatlichen Wissens über die im Bereich journalistischer Recherche hergestellten Kontakte ein Eingriff in das Redaktionsgeheimnis, dem neben dem Vertrauensverhältnis der Medien zu ihren Informanten eigenständige Bedeutung zukommt (vgl. BVerfGE 66, 116 <133>; 107, 299 <331>).

RZ 45: Durch die Anordnung der Beschlagnahme von Datenträgern zum Zwecke der Auswertung ist den Ermittlungsbehörden die Möglichkeit des Zugangs zu redaktionellem Datenmaterial eröffnet worden. Dies greift in besonderem Maße in die vom Grundrecht der Pressefreiheit umfasste Vertraulichkeit der Redaktionsarbeit ein, aber auch in ein etwaiges Vertrauensverhältnis zu Informanten.
Laut Pressemitteilung des BVerfG erging die Entscheidung mit 7:1 Stimmen (vgl. auch den Beitrag der NZZ).

5,888 Gefangene in der Schweiz

Laut einer Medienmitteilung des Bundesamts für Statistik (BFS) waren in der Schweiz am 6. September 2006 5,888 Personen inhaftiert, was einer Gefängnisbelegungsrate von 87% entspricht. Hervorzuheben sind folgende Zahlen:
  • Polizeihaft: 41
  • Untersuchungshaft: 1,808
  • vorzeitiger Strafvollzug: 492
  • Auslieferungs- oder Ausschaffungshaft: 305
  • Fürsorgerischer Freiheitsenztzug und andere Haftgründe (?): 16
Mindestens 2,341 oder 40% sind somit unschuldig oder jedenfalls noch nicht verurteilt (Polizeihaft, Untersuchungshaft, vorzeitiger Strafvollzug).

Wie alle Statistiken ist auch diese mit Vorsicht zu geniessen. So erfasst sie offenbar nur die eigentlichen Strafsanstalten, nicht aber die psychiatrischen Kliniken und Spitäler, die über geschlossene Gefangenenabteilungen verfügen.

Die Medien (vgl. etwa Solothurner Tagblatt, Tages-Anzeiger) berichten hauptsächlich darüber, dass 80% der Untersuchungshäftlinge Ausländer sind. Einige wenige erklären dies, wie etwa die NZZ:
Eine Analyse der Strafurteile hat ergeben, dass mehr als die Hälfte (51%) dieser Personen wegen eines Verstosses gegen das Gesetz über den Aufenthalt und die Niederlassung von Ausländern verurteilt worden waren. Aufgrund der Unklarheit der Wohnsituation wurde von einer höheren Fluchtgefahr ausgegangen, weshalb die Täter auch bei geringfügigen Vergehen in Untersuchungshaft genommen wurden. Dies war insbesondere in jenen Kantonen, Basel-Stadt, Genf und Zürich, der Fall, die eine kurze Aufenthaltsdauer der Untersuchungshaft kennen.

Montag, Februar 26, 2007

Bundesgericht toleriert keine Geheimakten

fel. macht im Jusletter (kostenpflichtig) auf einen neulich ins Netz gestellten Entscheid des Bundesgerichts (1P.20/2007 vom 26.01.2007) aufmerksam, worin eine Gehörsverletzung in einem Haftverfahren festgestellt wurde. Der Psychiatrisch-Psychologische Dienst hatte der Staatsanwaltschaft telefonisch mitgeteilt, der Beschwerdeführer sei hafterstehungsfähig. Die Staatsanwaltschaft erstellte darüber eine Aktennotiz, die dem Haftrichter, nicht aber dem Anwalt des Beschwerdeführers vorlag. Das Bundesgericht fasst seine Rechtsprechung wie folgt zusammen:
Nach Art. 29 Abs. 1 und 2 BV sowie Art. 6 Ziff. 1 EMRK hat jede Verfahrenspartei grundsätzlich Anspruch, von allen dem Gericht eingereichten Beweisen und Eingaben Kenntnis zu erhalten (BGE 129 I 249 E. 3 S. 253; 122 I153 E. 6a). Den Gerichten ist es nicht gestattet, einer Partei das Äusserungsrecht zu eingegangenen Stellungnahmen und Vernehmlassungen der übrigen Verfahrensparteien, unteren Instanzen und weiteren Stellen abzuschneiden. Die Partei ist vom Gericht nicht nur über den Eingang dieser Eingaben zu orientieren; sie muss ausserdem die Möglichkeit zur Replik haben (BGE 132 I 42 E. 3.3.3 S. 47 mit Hinweisen auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte; zur Veröffentlichung bestimmter Entscheid 1A.10/2006 vom 14. Dezember 2006, E. 2.1) (E. 2.2).
Zu ähnlichen Fällen s. meine früheren Beiträge hier und hier.

Freitag, Februar 23, 2007

Schon wieder: Anklageprinzip verletzt

Das Bundesgericht hebt ein Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich wegen Verletzung des Anklageprinzips auf (6S.43/2006 vom 14.12.2006). Der Eidgenössischen Spielbankenkommission ESBK wurde zum Verhängnis, dass sie in der als Anklageschrift dienenden Überweisungsverfügung falsch zwischen Geldspielautomaten (Glücksspiel- oder Geschicklichkeitsspielautomaten) und Unterhaltungsspielautomaten abgegrenzt hatte (Art. 56 Abs. 1 lit. a und c SBG):
Die Überweisung der ESBK, die als Anklageschrift gilt, nennt zwar abschliessend die anwendbaren Strafbestimmungen (Art. 56 Abs. 1 lit. a und c SBG), doch entsprechen die vorangehenden Sachverhaltsdarstellungen in der Anklageschrift nicht den Tatbestandsmerkmalen dieser Straftatbestände. Es wird weder behauptet noch näher dargetan, dass die beschlagnahmten Geräte Glücks- und nicht blosse Geschicklichkeitsspielautomaten darstellten und auch nicht, dass sie zu Glücksspielen eingesetzt worden seien. Beim Glücksspielcharakter des Spielautomaten handelt es sich jedoch wie erläutert um ein wesentliches Tatbestandsmerkmal der eingeklagten Strafbestimmung,welches für die Abgrenzung des anwendbaren Rechts entscheidend ist. Dem Text der Überweisung lässt sich nicht entnehmen, dass die ESBK davon ausgeht, dass es sich bei den vom Beschwerdeführer eingesetzten Apparaten um Glücksspielautomaten handle. Sie vertritt vielmehr die Auffassung, dass der Beschwerdeführer die von ihr erwähnten Tatbestände von Art. 56 SBG unabhängig von der Qualifikation der Geräte als Glücks-, Geschicklichkeits- oderUnterhaltungsspielautomaten erfüllt. So führt
sie aus, die Verletzung von § 4 UGG werde mittelbar auch vom Bundesrecht erfasst, und Verletzungen der Pflicht zur Homologation stellten unabhängig von der Art des Geldspielautomaten eine Übertretung gemäss Art. 56 Abs. 1 lit. c SBG dar. Das Obergericht folgt dieser Auffassung angesichts des eindeutigen Wortlauts
der fraglichen Strafbestimmungen zwar zu Recht nicht. Es unterstellt indessen, die ESBK habe mit der Überweisung die Geräte zumindest indirekt als Glücksspielautomaten eingestuft. Diese Interpretation ist offensichtlich verfehlt, nachdem die Lückenhaftigkeit der Überweisung ihren Grund wie dargestellt in der unzutreffenden Auslegung von Art. 56 SBG hat (E. 1.5.1).
Bemerkenswert sind die Erläuterungen des Bundesgerichts zur Wiederholung des Verfahrens vor der Vorinstanz:
Im neuerlichen Verfahren wird die Anklagebehörde sowohl in Bezug auf lit. a als auch hinsichtlich lit. c von Art. 56 Abs. 1 SBG das Vorliegen von Glücksspiel zu behaupten und zu beweisen haben. Für den Fall, dass dieser Nachweis gelingen sollte, ist zu beachten, dass nur der vorsätzliche Betrieb von Glücksspielautomaten strafbar ist. Mangelndes Wissen um die Qualifikation der Geldspielautomaten ist dem Beschwerdeführer erst vorwerfbar ab dem Moment, in dem ihn auch eine Pflicht traf, die Zulässigkeit der betriebenen Automaten zu überprüfen (E. 1.5.3).
Hier ist mir nicht klar, wie die Anklage noch zu retten sein soll. Behauptungen und Beweise zu Themen, die gar nicht überwiesen sind, verletzen das Anklageprinzip doch erneut. Höchst bemerkenswert sind m.E. auch die Ausführungen zum subjektiven Tatbestand. Diesen Ansatz muss sich jeder Strafverteidiger merken.

Das BGG-Zeitalter hat begonnen

Wenn Beschwerden nach neuem Bundesgerichtsgesetz BGG (statt nach altehrwürdigem OG) zurückgewiesen werden, tönt das so:
Nach Art. 42 Abs. 2 BGG ist in der Begründung einer Beschwerde in gedrängter Form darzulegen, inwiefern der angefochtene Entscheid Recht verletzt. Nach Art. 106 Abs. 2 BGG prüft das Bundesgericht die Verletzung von Grundrechten und von kantonalem und interkantonalem Recht nur insofern, als eine solche Rüge in der Beschwerde vorgebracht und begründet worden ist. Vorliegend setzt sich der Beschwerdeführer nicht mit der Begründung der angefochtenen Verfügung auseinander und legt nicht dar, inwiefern diese nach seiner Auffassung rechts- bzw. verfassungswidrig sein sollte. Mangels einer hinreichenden Begründung (Art. 42 Abs. 2 und Art. 106 Abs. 2 BGG) ist auf die Beschwerde nicht einzutreten. Da die Beschwerde offensichtlich keine hinreichende Begründung enthält, kann über sie im vereinfachten Verfahrennach Art. 108 Abs. 1 lit. b BGG entschieden werden (1B_5/2007 vom 14.02.2007, E. 4).
In einem seiner ersten Entscheide nach BGG hat das Bundesgericht "ausnahmsweise" auf eine Kostenauflage verzichtet.

Listiger Entführer

In einem heute online gestellten Entscheid (6S.498/2006 vom 13.02.2007) hat das Bundesgericht die Verurteilung eines Mannes wegen Entführung (Art. 183 Ziff. 1 Abs. 2 StGB) bestätigt, der als Tatmittel zu eine List gegriffen hat. Diese bestand darin, einen Flug nach Spanien vorzutäuschen, um nach Bulgarien und von dort in die Türkei zu gelangen. Das Bundesgericht erachtete es als plausibel:
Mit der Vorinstanz ist demnach festzuhalten, dass es durchaus plausibel ist anzunehmen, die Frau habe den Visumsantrag selber unterschrieben, ohne darauf zu achten, ob dieser nun für Spanien oder Bulgarien galt. Es muss auch angenommen werden, sie habe trotz der an einem Flughafen anzutreffenden Informationsmöglichkeiten nicht bemerkt, dass das Reiseziel nicht in Spanien, sondern in Bulgarien lag. Die Persönlichkeit der eingeschüchterten Frau des Beschwerdeführers liess es nicht zu, das objektiv geforderte Mindestmass an Aufmerksamkeit aufzubringen, um die Täuschungen des Beschwerdeführers zu durchschauen E. 2.4).
Zu beurteilen hatte das Bundesgericht ferner eine altrechtliche Verjährungsfrage, welche vor dem bundesgerichtlichen Verfahren aber weder die Verteidigung noch die Vorinstanz aufgeworfen hatte:
Für die Berechnung der alten, bis zum 30. September 2002 geltenden absoluten Verjährungsfrist von 7 1/2 Jahren ist der genaue Beginn der deliktischen Tätigkeit des Beschwerdeführers von Bedeutung. Mehrmals führt die Vorinstanz aus, der Beschwerdeführer habe seine Frau "im September/Oktober 1998" durch Anwendung von körperlicher Gewalt zur Bekanntgabe des angeblichen Liebhabers gezwungen (so unter anderem angefochtenes Urteil S. 15). Die absolute Verjährung trat demnach im März/April 2006 ein. Da der massgebliche zweitinstanzliche Entscheid am 28. März 2006 ergangen ist, kann die Frage, wann die deliktische Tätigkeit genau begann, nicht offen gelassen werden. Da die Vorinstanz den Deliktsbeginn nicht hinreichend genau bestimmt hat, ist das angefochtene Urteil in Anwendung von Art. 277 BStP insoweit aufzuheben und zur weiteren Abklärung des Sachverhalts und zu anschliessender Neuentscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen (E. 1.4).
Wenn ich das richtig sehe, hat sich der Beschwerdeführer damit in diesem Punkt in die Verjährung gerettet. Die Vorinstanz kann ja nicht mehr rechtzeitig entscheiden. Wahrscheinilch ist die Meinung des Bundesgerichts aber eine andere, denn sonst macht die vom Bundesgericht aufgetragene weitere Abklärung des Sachverhalts keinen Sinn.

SAirGroup-Strafprozess immer absurder

Während im "Gerichtssaal" in Bülach die Verteidiger plädieren, treten die beiden Bundesräte Leuenberger und Deiss vor die Medien und dementieren die Aussagen des Beschuldigten Erivc Honegger.

Die beiden Bundesräte waren von einer Subkommission der GPK zur Rolle des Bundesrats beim Swissair-Debakel befragt worden. Dabei sollen sie ausgesagt haben, «in keiner Art und Weise» bei der Swissair zugunsten einer Zahlung an die Sabena interveniert und auch keinen Druck ausgeübt zu haben (vgl. dazu den ausführlichen Beitrag der NZZ).

Das Beweisverfahren in Bülach ist abgeschlossen. Honegger wird sich dagegen verfahrensrechtlich nicht mehr wehren können. Was ihm bleibt ist allenfalls, selbst auch nochmals vor die Medien zu treten. Das Ganze zeigt einmal mehr, wie absurd dieser Prozess ist. Dass sich die beiden sonst so stilsicheren Bundesräte vor Urteilsverkündung auch noch öffentlich zu Wort melden, bestätigt die Auffassung der bisher aufgetretenen Verteidiger, es handle sich hier um einen reinen Schauprozess. Ja was denn sonst?

Donnerstag, Februar 22, 2007

4 Jahre Gefängnis für Blogger

In Aegypten wurde der Jus-Student Mohammed Abdul Karim Suleiman zu vier Jahren Gefängnis verurteilt worden, weil er in seinem Weblog "seinen" Präsidenten, den Islam und den Propheten Mohammed beschimpft habe. Weitre Informationen dazu im Tages-Anzeiger und beim Cato Institute.

Dienstag, Februar 20, 2007

SAirGroup-Strafprozess

In Korrektur/Ergänzung meines vorletzten Beitrags druckt die NZZ die vollständigen Strafanträge der Staatsanwaltschaft ab:
  • Mario Corti mit 28 Monaten Freiheitsstrafe teilbedingt (davon 6 Monate unbedingt vollziehbar), zuzüglich einer Geldstrafe von 360 Tagessätzen à 3000 Fr. (1,08 Mio. Fr.), bedingt bei 3 Jahren Probezeit, plus eine Busse von 10 000 Fr.
  • Gerhard Fischer mit 6 Monaten Freiheitsstrafe, zuzüglich einer Geldstrafe von 150 Tagessätzen à 3000 Fr. (450 000 Fr.), bedingt bei 3 Jahren Probezeit, plus eine Busse von 5000 Fr.
  • Bénédict Hentsch mit 10 Monaten Freiheitsstrafe, zuzüglich einer Geldstrafe von 180 Tagessätzen à 3000 Fr. (540 000 Fr.), bedingt bei 3 Jahren Probezeit, plus eine Busse von 10 000 Fr.
  • Antoine Hoefliger mit 8 Monaten Freiheitsstrafe, zuzüglich einer Geldstrafe von 180 Tagessätzen à 200 Fr. (36 000 Fr.), bedingt bei 3 Jahren Probezeit, plus eine Busse von 5000 Fr.
  • Andres Leuenberger mit 7 Monaten Freiheitsstrafe, zuzüglich einer Geldstrafe von 180 Tagessätzen à 3000 Fr. (540 000 Fr.), bedingt bei 3 Jahren Probezeit, plus eine Busse von 10 000 Fr.
  • Lukas Mühlemann mit 7 Monaten Freiheitsstrafe, zuzüglich einer Geldstrafe von 180 Tagessätzen à 3000 Fr. (540 000 Fr.), bedingt bei 3 Jahren Probezeit, plus eine Busse von 10 000 Fr.
  • Thomas Schmidheiny mit 8 Monaten Freiheitsstrafe, zuzüglich einer Geldstrafe von 180 Tagessätzen à 3000 Fr. (540 000 Fr.), bedingt bei 3 Jahren Probezeit, plus eine Busse von 10 000 Fr.
  • Vreni Spoerry mit 7 Monaten Freiheitsstrafe, zuzüglich einer Geldstrafe von 180 Tagessätzen à 3000 Fr. (540 000 Fr.), bedingt bei 3 Jahren Probezeit, plus eine Busse von 10 000 Fr.
  • Gaudenz Staehelin mit 10 Monaten Freiheitsstrafe, zuzüglich einer Geldstrafe von 180 Tagessätzen à 1500 Fr. (270 000 Fr.), bedingt bei 3 Jahren Probezeit, plus eine Busse von 10 000 Fr.
  • Eric Honegger mit 8 Monaten Freiheitsstrafe zuzüglich einer Geldstrafe von 180 Tagessätzen à 500 Fr. (90 000 Fr.), bedingt bei 3 Jahren Probezeit, plus eine Busse von 20 000 Fr.
  • Georges Schorderet mit 18 Monaten Freiheitsstrafe, zuzüglich einer Geldstrafe von 200 Tagessätzen à 800 Fr. (160 000 Fr.), bedingt bei 3 Jahren Probezeit, plus eine Busse von 10 000 Fr.
  • Andreas Simmen mit 6 Monaten Freiheitsstrafe, bedingt bei 3 Jahren Probezeit, plus eine Busse von 2000 Fr.
  • Philippe Bruggisser mit 15 Monaten Freiheitsstrafe, zuzüglich einer Geldstrafe von 200 Tagessätzen à 2000 Fr. (400 000 Fr.), bedingt bei 3 Jahren Probezeit, plus eine Busse von 10 000 Fr.
  • Jan Litwinski mit 7 Monaten Freiheitsstrafe, bedingt bei 3 Jahren Probezeit, plus eine Busse von 8000 Fr.
  • Peter Somaglia mit 8 Monaten Freiheitsstrafe, bedingt bei 3 Jahren Probezeit, plus eine Busse von 8000 Fr.
  • Jacqualyn Fouse mit 14 Monaten Freiheitsstrafe, zuzüglich einer Geldstrafe von 240 Tagessätzen à 3000 Fr. (720 000 Fr.), bedingt bei 3 Jahren Probezeit, plus eine Busse von 10 000 Fr.
  • Scott Cormack mit 6 Monaten Freiheitsstrafe (unter Anrechnung eines Tages erstandener Haft), zuzüglich einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen à 2000 Fr. (180 000 Fr.), bedingt bei 3 Jahren Probezeit, plus eine Busse von 10 000 Fr.
  • Karin Anderegg mit 7 Monaten Freiheitsstrafe, bedingt bei 3 Jahren Probezeit, plus eine Busse von 10 000 Fr.
  • Andreas Länzlinger mit 6 Monaten Freiheitsstrafe, bedingt bei 3 Jahren Probezeit, plus eine Busse von 8000 Fr.
Fraglich bleibt, ob ein Teil dieser Anträge überhaupt gesetzeskonform ist. Nach Art. 42 Abs. 4 StGB kann eine bedingte Strafe mit einer unbedingten Geldstrafe oder mit einer Busse nach Artikel 106 verbunden werden. Bei Mario Corti etwa wurde eine teilbedingte Freiheitsstrafe mit einer bedingten Geldstrafe und einer (unbedingten) Busse beantragt (vgl. dazu BBl 2005 4706 f.), was wohl nicht im Sinne des Gesetzgebers sein dürfte.

"Obervollidiotischer Leerlauf und Seich"

Wie kurz die Begründung eines Bundesgerichtsentscheids sein kann, zeigt ein heute online gestelltes Urteil (6S.47/2007 vom 08.02.2007):
In Anwendung von Art. 36a Abs. 3 OG kann auf die Ausführungen der Vorinstanz verwiesen werden (vgl. angefochtenen Entscheid S. 3 - 6). Da der Beschwerdeführer die vorinstanzlichen Richter als dubiose Schreiberlinge bezeichnet, die einen obervollidiotischen Leerlauf und Seich zusammengeschrieben haben, könnte die Eingabe in Anwendung von Art. 30 Abs. 3 OG zur Änderung an den Beschwerdeführer zurückgewiesen werden. Darauf ist indessen zu verzichten, weil ohnehin nicht ersichtlich ist, inwieweit der angefochtene Entscheid das eidgenössische Recht im Sinne von Art. 269 Abs. 1 BStP verletzen könnte.
Selbstverständlich kostet auch ein kurzes Urteil: CHF 500.00. Warum das Bundesgericht überhaupt eingetreten ist, verstehe ich nicht.

Montag, Februar 19, 2007

26 Monate für Corti?

Der Ankläger hat heute im SAirGroup-Strafprozess seine Anträge gestellt (s. Tages-Anzeiger);
  • Corti: 26 Monate, davon 6 Monate unbedingt, CHF 1,080,000.00 Busse;
  • Honegger: 8 Monate bedingt, CHF 80,000.00 Busse;
  • Bruggisser: 15 Monate bedingt, CHF 400,000.00 Busse.

Unglaublich, die Courage des Staatsanwalts. Jetzt ist er endgültig ein Pop-Star.

Bundesanwaltschaft im Fall "Abu Omar" ermächtigt

Der Bundesrat hat die Bundesanwaltschaft ermächtigt, im Fall "Abu Omar" die Strafverfolgung durchzuführen. Der Sachverhalt wird im Jusletter (kostenpflichtig) wie folgt dargestellt:
Gemäss den Erkenntnissen der Bundesanwaltschaft wurde der am 17. Februar 2003 in Mailand von einem Team der CIA entführte ägyptische Staatsbürger Nasr Osama Mustafa Hassan, auch bekannt unter dem Namen Abu Omar, vom Luftwaffenstützpunkt in Aviano (I) über den Schweizer Luftraum nach Ramstein (D) vebracht und von dort aus nach Kairo überführt. Aus der Sicht des Bundesrats kann eine Benützung des schweizerischen Luftraums für eine Entführung nicht toleriert werden. Die Schweiz duldet Menschenrechtsverletzungen auch im Rahmen der Terrorismusbekämpfung nicht. Es liegen Hinweise vor, dass grundlegende völkerrechtliche Normen verletzt wurden.
Ermittelt wird wegen Verdachts der Widerhandlung gegen Art. 271 StGB. Man muss wohl kein Hellseher sein um zu ahnen, dass (auch) dieses Verfahren nie zu einer Verurteilung führen wird.

Die Pressemitteilung des EJPD findet sich hier.

Freitag, Februar 16, 2007

Bundesgericht verneint erneut den Eventualvorsatz

Bereits zum dritten Mal in kurzer Folge (vgl. meine früheren Beiträge hier und hier) hebt das Bundesgericht eine Verurteilung wegen vorsätzlicher Tötung auf, diesmal in einem Fall des Kernstrafrechts (6S.338/2006 vom 02.02.2007):
Aufgrund der tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz war dem Beschwerdeführer bewusst, dass sein Vorgehen Todesfolgen haben könnte. Die Wissensseite des Vorsatzes im Sinne der Möglichkeit des Todeseintritts ist damit gegeben. Fraglich ist demgegenüber das Willensmoment. Der Beschwerdeführer und sein Komplize wollten das Opfer in Angst und Schrecken versetzen, damit es ihnen verrate, wo sich der Tresorschlüssel befindet. Sein (vorzeitiger) Tod wäre ihnen nicht nur ungelegen gekommen, sondern hätte den Tatplan nachgerade vereitelt, weil die Täter nicht mehr zu den von ihnen gewünschten Informationen gekommen wären. Dann aber lässt sich schwerlich sagen, der Beschwerdeführer hätte sich gegen das vom Tatbestand der vorsätzlichen Tötung geschützte Rechtsgut entschieden, auch nicht im Sinne einer bloss möglichen Rechtsgutsverletzung. Stand und fiel der Tatplan damit, dass das Opfer nicht versterben würde, jedenfalls nicht, bevor es das Versteck des Tresorschlüssels verraten hatte, lässt sich dem Beschwerdeführer zwar vorwerfen, er habe leichtfertig auf das Ausbleiben des Tötungserfolgs vertraut, nicht aber, er habe den Tötungserfolg, wenn auch ungern und notgedrungen, als einkalkulierte Möglichkeit in seinen Willen aufgenommen (E.4.4).
Der Entscheid ist nicht zur Publikation in der amtlichen Sammlung vorgesehen, dürfte hingegen ein wichtiges Präjudiz darstellen, etwa im Bereich des Wirtschaftsstrafrechts. Der Nachweis des Eventualvorsatzes dürfte auch unter Berücksichtigung der oben verlinkten beiden Entscheide aus dem Strassenverkehrsrecht deutlich schwieriger werden. Jedenfalls erscheint die Tendenz, Beweisprobleme beim Vorsatz einfach über die Annahme des Eventualvorsatzes lösen zu wollen, gebrochen zu sein.

Donnerstag, Februar 15, 2007

Beschleunigungsgebot verletzt

Das Bundesgericht hebt eine Nichtigkeitsbeschwerde gegen ein Urteil des Obergerichts des Kantons Bern teilweise gut, letztlich allerdings nur, weil dessen Begründung einer Überprüfung nicht zugänglich war (Urteil 6S.251/2006 vom 05.02.2007).

Die Folgen einer Verletzung des Beschleunigungsgebots fasst das Bundesgericht wie folgt zusammen:

Wird eine Verletzung des Beschleunigungsgebotes festgestellt, ist diesem Umstand angemessen Rechnung zu tragen. Nach der Rechtsprechung kommen dabei folgende vier Varianten in Betracht:

  • Berücksichtigung der Verfahrensverzögerung im Rahmen der Strafzumessung;
  • Einstellung des Verfahrens zufolge eingetretener Verjährung;
  • Schuldigsprechung des Täters unter gleichzeitigem Verzicht auf Strafe;
  • in extremen Fällen als ultima ratio Einstellung des Verfahrens (E. 6.3.1).
Zur Verletzung im konkreten Fall lässt sich dem Urteil folgendes entnehmen:
Die Verfahrensdauer im hier zu beurteilenden Fall erweckt in ihrer Gesamtheit erhebliche Bedenken. Das Strafverfahren hat [...] rund 11.5 Jahre in Anspruch genommen [...]. Die lange Zeitdauer ist zu einem Teil offenbar darauf zurückzuführen, dass infolge einer Reorganisation der Strafrechtspflege mehrere Untersuchungsbehörden mit dem Fall befasst waren (...). Die damit verbundenen Verzögerungen können eine gesamthaft überlange Verfahrensdauer indessen nicht aufwiegen, da sie vom Staat zu vertreten sind. Der Vorinstanz ist daher nicht zuzustimmen, soweit sie annimmt, eine organisatorisch bedingte Verfahrensverzögerung könne von vornherein nicht den staatlichen Behörden angelastet werden (E. 6.4, Hervorhebungen durch mich).
Was kann denn der Staat dafür, dass er sich umorganisiert?

Kein Anwalt der ersten Stunde im Thurgau

Nach einem neuen Urteil des Bundesgerichts (1P.556/2006 vom 25.01.2007) besteht kein verfassungsmässiger Anspruch auf die Anwesenheit des Verteidigers bei einer polizeilichen Einvernahme:
Soweit der Beschwerdeführer behauptet, aus Art. 32 Abs. 2 BV und Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK ergebe sich ein Recht auf Anwesenheit des Verteidigers bei der polizeilichen Einvernahme, kann ihm nicht gefolgt werden (BGE 104 Ia17 E. 4 S. 19 ff.; ...). [...]. Die vom Beschwerdeführer angerufenen Verfassungs- und Konventionsbestimmungen statuieren hingegen kein Recht auf Anwesenheit der Verteidigung an einer Einvernahme im polizeilichen Ermittlungsverfahren. Es ist somit hier auch keine verfassungswidrige Umgehung von Verteidigungsrechten zu erkennen E. 3.3).
So weit so schlecht. Der Beschwerdeführer rügte ferner die willkürliche Anwendung kantonalen Rechts. Dieses sehe nicht vor, dass der Verteidiger nicht anwesend sein dürfe:
Auch der Rüge des Beschwerdeführers, die Auslegung der Bestimmungen der kantonalen Strafprozessordnung durch die Anklagekammer sei willkürlich, kann nicht gefolgt werden. Die Teilnahme der Verteidigung an Untersuchungshandlungen ist nach § 70 f. StPO/TG für das polizeiliche Ermittlungsverfahren im Unterschied zum Untersuchungsverfahren (§ 77 StPO/TG) nicht vorgesehen. Der Beschwerdeführer führt zwar richtig aus, er sei nicht verpflichtet, bei der polizeilichen Einvernahme auszusagen (vgl. Hauser/Schweri/Hartmann, a.a.O., § 75 Rz. 3). Allein die Gefahr, dass sich die polizeiliche Einvernahme ohne Verteidiger wegen Aussageverweigerung des Beschuldigten als unergiebig erweisen könnte, lässt den angefochtenen Entscheid indessen nicht als willkürlich erscheinen (E. 3.4).
Der Entscheid kann angesichts der Willkürkognition natürlich nicht als falsch bezeichnet werden. Aber die Begründung, ein Verteidiger sei nicht zuzulassen, wo das Gesetz dies nicht vorsehe, erscheint mir nicht überzeugend. Hat denn ein Beschuldigter nur Rechte, wenn das Gesetz sie ausdrücklich vorsieht?

Aber was soll's. Beschuldigte die ohne Anwesenheit eines Anwalts aussagen, verdienen keinen Schutz durch die Verfassung. Sie haben wohl etwas zu verbergen und versuchen, dies durch Kooperation zu kompensieren. Denn wer nichts zu verbergen hat, hat auch keinen Grund, auszusagen. Oder wie war das?

Montag, Februar 12, 2007

Zum Richten verurteilt

Eine Strafrichterin hat erfolgos ein Selbstablehnungsgesuch gestellt. Ein dagegen von den Beschuldigten geführte staatsrechtliche Beschwerde hat das Bundesgericht mit Urteil 1P.743/2006 vom 19.01.2007 abgewiesen, soweit es darauf eintrat. Der äusserst komplexe Sachverhalt enthält einen interessanten Hinweis aus der früheren Praxis:
Allein der Umstand, dass derjenige, der ein Ausstandsgesuch gegen ein Behördenmitglied stellt, zusätzlich gegen dieses eine Strafanzeige erstattet, kann noch keine Ausstandspflicht bewirken (vgl. Urteile 1P.568/2002 vom 20. Januar 2003, E. 2, und 1P.514/2002 vom 13. Februar 2003, E. 2.5). Ebenso wenig geht es an, beim Gericht, das über den Ausstand der abgelehnten Person zu entscheiden hat, eine Strafanzeige gegen die letztere Person einzureichen, und dann die Ausstandspflicht dieses Gerichts zu verlangen, wenn es die Strafanzeige nicht weiterleitet (E. 3.1.3).
Mich vermag diese Praxis nicht zu überzeugen. Allfällige Missbräuche durch Strafanzeigen gegen unliebsame Behördenmitglieder können auch anders sanktioniert werden. Wenn ein Richter ein Selbstablehnungsgesuch stellt, dann kann doch beim besten Willen nicht mehr davon gesprochen werden, er könne seiner Aufgabe unabhängig und unbefangen weiterhin nachkommen.

Vorstrafe oder keine Vorstrafe?

In einem kürzlich online gestellten Urteil (6S.326/2006 vom 24.01.2007) heisst das Bundesgericht eine Laienbeschwerde gegen das Obergericht des Kantons Aargau teilweise gut. Es wirft der Vorinstanz vor, die Grundsätze der retrospektiven Konkurrenz falsch angewendet zu haben und das Asperationsprinzip ausser Acht gelassen zu haben:
Dieses Vorgehen erweckt den Eindruck, dass das Obergericht die Zusatzstrafe nicht als Teil einer hypothetischen Gesamtstrafe, sondern davon losgelöst,nur im Vergleich zu den schon abgeurteilten Delikten, bestimmt, und so das für den Straftäter günstige Asperationsprinzip ausser Acht gelassen hat. Zur Gewissheit verdichtet sich dieser Eindruck dadurch, dass dem Beschwerdeführer die einschlägige Vorstrafe, nämlich das Urteil des Bezirksgerichts Baden vom 4. April 2002, straferhöhend vorgehalten wird. Eine Vorstrafe liegt aber nur für die nach dieser Verurteilung begangenen Taten vor und könnte bezüglich dieser in Rechnung gestellt werden; das Obergericht bezieht die straferhöhende Berücksichtigung der einschlägigen Vorstrafe aber auf diegesamte Strafzumessung (angefochtener Entscheid S. 35 oben) und macht damit klar, dass es gedanklich nicht eine Gesamtstrafe für die vor dem Urteil vom 4. April 2002 begangenen Delikte gebildet und hiervon die schon ausgesprochene Strafe in Abzug gebracht, sondern die beiden Strafen kumuliert hat. Damit aber hat es die Strafe nicht nach den Grundsätzen der retrospektiven Konkurrenz bemessen, sondern ist von diesen zu Lasten des Beschwerdeführers abgewichen E. 15.2).
Mit den übrigen Rügen - gerügt wurde so ziemlich alles, das denkbar ist - ist der Beschwerdeführer nicht durchgedrungen.

Sonntag, Februar 11, 2007

Jugendanwaltschaft relativiert

Mit internen Berichten der Jugendanwaltschaft des Kantons Zürich werden die von der Polizei präsentierten Zahlen zur Jugendkriminalität stark relativiert (s, meinen gestrigen Beitrag). Aus einem aktuellen Beitrag von NZZ online:
Im Jahr 2006 sind weniger Jugendliche straffällig geworden als im Jahr 2005. Der Rückgang beträgt rund 3 Prozent bei den Strafuntersuchungen beziehungsweise 7 Prozent bei den Verurteilungen. Dies geht aus einem internen Bericht der Jugendstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich hervor. Die Jugendanwaltschaft wertet jährlich aus, wie viele Jugendliche wegen einer Anzeige strafrechtlich verfolgt und wie viele Jugendliche jedes Jahr verurteilt werden. In absoluten Zahlen ging die Anzahl Fälle im Jahr 2006 im Vergleich zum Vorjahr von 5863 auf 5690 zurück. Die Verurteilungen (inklusive eingestellter Verfahren) sanken von 6757 im Jahr 2005 auf 6309.
Es besteht kein (grundsätzlicher) Zweifel daran, dass Kantonspolizei und Jugendanwaltschaft die scheinbar widersprüchlichen Zahlen belegen können. Das Beispiel zeigt einfach, wie man Statistiken so zurecht biegen kann, dass sie den verfolgten Interessen dienlich sind. Dass die Polizei für mehr Polizei ist, ist ja legitim. Nicht legitim ist, dass sich politische Entscheidungsträger von solcher Bauernfängerei beeindrucken lassen.

Samstag, Februar 10, 2007

Die Polizei übernimmt

Zwei Beiträge im Tages-Anzeiger veranlassen mich dazu, wieder einmal darauf hinzuweisen, dass die Polizei ausser Kontrolle zu geraten droht.

Im ersten Artikel geht es um die Forderung des Chefs der Kriminalpolizei Zürich, ausländische Wiederholungstäter rascher auszuweisen. Bei Jugendlichen sei zu prüfen, ob gleich die ganze Familie auszuweisen sei. Anlass für diese Äusserungen bot die Präsentation der Kriminalstatistik. Nicht aus der Statistik "KRISTA" geht hervor, worauf sie beruht.

Gemäss dem zweiten Beitrag hat die Stadtpolizei Zürich die Vorführung des Films Salò oder die 120 Tage von Sodom von Pier Paolo Pasolini verboten und unter Berufung auf Art. 197 StGB die Konfiskation des Films angedroht. Daraufhin haben die Organisatoren (womöglich sind Ausländer darunter) auf die Vorführung verzichtet. Statt dessen wird eine Podiumsdiskussion durchgeführt. Diskurs als Rache der ... Ungesetzlichen?

Freitag, Februar 09, 2007

Schnüffel-Lizenz für die Armee

Der Tages-Anzeiger orientiert über einen wenig bekannten Teil der Militärgesetzrevision 09, das Militärinformationsgesetz MIG:
Der vom Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS) in die Vernehmlassung geschickte Entwurf würde es der Armee erlauben, «mobile oder fest installierte, boden- oder fluggestützte, bemannte oder unbemannte Überwachungsgeräte und -anlagen» einzusetzen. Mit diesen Mitteln dürften «alle Personendaten, insbesondere auch besonders schützenswerte Personendaten und Persönlichkeitsprofile» erhoben werden.
Mehr Informationen dazu bietet die Website des VBS. Diese enthält u.a. den Vernehmlassungsentwurf des MIG und erste Tendenzen der Vernehmlassung. Danach stossen die neuen Überwachungsmöglichkeiten der Armee auf ziemlich breite Zustimmung, u.a. auch durch die SP und selbstverständlich auch durch die FDP, der ja gar nichts mehr heilig zu sein scheint.

Lesenswert ist auch der Kommentar von Daniel Foppa im Tagi:
Womöglich ist eine durch Terrorgefahr und vermeintliche Gewaltzunahme eingeschüchterte Gesellschaft vermehrt bereit, Eingriffe in die Privatsphäre zuzulassen. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass das Kalkül der Armeeplaner bisher aufgegangen ist: Die Brisanz der in einem gesonderten Teil der Militärgesetzrevision versteckten Bestimmungen wurde schlicht unterschätzt.
Ich persönlich glaube nicht, dass so etwas wie eine Bereitschaft besteht, Eingriffe in die Privatsphäre zuzulassen. Festzustellen ist aber durchaus fehlender Widerstand gegen den Ausbau der Überwachung, was auf Unkenntnis oder Gleichgültigkeit zurückzuführen sein mag. Und sowas wurde halt schon immer mehr oder weniger schamlos ausgenützt.

Donnerstag, Februar 08, 2007

Pornografie als Menschenrecht?

Die NZZ hat gestern in einem online nicht verfügbaren Artikel über einen Fall am Obergericht des Kantons Zürich berichtet, der mit einer Verurteilung zu einer bedingten Geldstrafe (120 Tagessätzen zu CHF 45.00) wegen verbotener Pornografie (Art. 197 StGB) endete. Der u.a. wegen Sodomie mit einem Kalb vorverurteilte IV-Rentner hatte sich tausende von einschlägigen Bildern und gegen 180 Filme aus dem Internet heruntergeladen.

Ebenso interessant wie aussichtslos war die Verteidigungsstrategie: Der Verurteilte berief sich auf Art. 10 EMRK. Gemäss NZZ liess sich das Obergericht darauf nicht ein und stützte sich dabei auf die möglichen Einschränkungen der Meinungsäusserungsfreiheit nach Art. 10 Ziff. 2 EMRK, worunter auch Pornografie falle. Der Konventionstext lautet wie folgt:
Die Ausübung dieser Freiheiten ist mit Pflichten und Verantwortung verbunden; sie kann daher Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die nationale Sicherheit, die territoriale Unversehrtheit oder die öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral, zum Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer, zur Verhinderung der Verbreitung vertraulicher Informationen oder zur Wahrung der Autorität und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung.
Der Verurteilte hat angekündigt, den Fall bis nach Strassburg zu ziehen. Zur Rechtslage in den USA empfehle ich diese Website (The National Academies) mit Hinweisen auf die wichtigsten Entscheidungen des U.S. Supreme Court.

Mittwoch, Februar 07, 2007

Folgen einer ungenügenden Anklage

Das Bundesgericht hat eine Nichtigkeitsbeschwerde der Bundesanwaltschaft gegen ein Urteil des Bundesstrafgerichts (SK.2005.9 vom 28.11.2005) teilweise gutgeheissen. Dieses war auf einen Anklagepunkt nicht eingetreten, weil es die Anklageschrift als ungenügend erachtet hatte. Das Bundesgericht erteilt dieser Praxis in einem zur Publikation in der amtlichen Sammlung vorgesehenen Entscheid (6S.150/2006 vom 21.12.2006) eine Absage:
Beinhaltet die Anklage nicht alle objektiven Tatbestandsmerkmale des angeklagten Delikts, so ist die Anklageschrift nach dem Gesagten zur Ergänzung an die Bundesanwaltschaft zurückzuweisen. Es geht nicht an, im Endentscheid auf die Anklage nicht einzutreten unter Hinweis auf die Möglichkeit der Wiedereinbringung, da der Angeklagte für den Fall, dass keine erneute Anklage erhoben wird, über die mit der ursprünglichen Anklage öffentlich gegen ihn erhobenen Anschuldigungen im Ungewissen gelassen würde (E. 2.2.3).
Ungenügende Anklagen (Art. 126 BStP) sind daher zur Verbesserung zurückzuweisen. Das Bundesgericht anerkennt, dass
der Ankläger ab einem gewissen Zeitpunkt die Herrschaft über die Anklage (E. 2.2.2)
verliert, womt das Gericht bei ungenügender Anklage nur noch freisprechen könne. Es äussert sich hingegen nicht dazu, wann denn dieser Zeitpunkt eintrete. Ich würde dafür plädieren, dass der Ankläger die Herrschaft über die Anklage spätestens dann verliert, wenn er dem Gericht die verbesserte Anklage einreicht. Damit hätten wir eine klare und sachlich vertretbare Lösung.

vgl. dazu auch den Beitrag der NZZ.

Dienstag, Februar 06, 2007

Fax-Affäre: Militärjustiz erhebt Anklage

Gemäss einer Medienmitteilung vom 06.02.2007 hat der Auditor des Militärgerichts 6 Anklage gegen drei Mitarbeiter des SonntagsBlick erhoben. In gefährliche Nähe zur Lächerlichkeit begibt sich die Militärjustiz mit folgender Ankündigung:
Mit Rücksicht auf die Geheimhaltung werden die Befragungen der Angeklagten zur Sache, die Einvernahme der Zeugen und die Parteivorträge voraussichtlich unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden.
Angesichts der auf dem Spiel stehenden Staatsgeheimnisse wundert man sich fast, dass die Beschuldigten vom Prozess Kenntnis erhalten. Vielleicht will die Militärjustiz ja aber auch einfach unter Beweis stellen, dass sie auch ohne Öffentlichkeit in der Lage ist, Freisprüche zu fällen.

Vgl. dazu auch die Berichterstattung im Tages-Anzeiger.

Skyguide-Prozess

Im Zusammenhang mit dem Flugzeugabsturz von Überlingen hat die Staatsanwaltschaft Winterthur / Unterland gemäss NZZ und Tages-Anzeiger acht Personen der fahrlässigen Tötung angeklagt. Beantragt werden Freiheitsstrafen bis zu 15 Monaten.

Wie der Swissair-Prozess findet auch das Skyguide-Strafverfahren in der Stadthalle Bülach statt. Weitere Informationen finden sich auf der Homepage des Bezirksgerichts Bülach.

Montag, Februar 05, 2007

Verdeckte Online-Durchsuchung unzulässig

Mit Beschluss vom 31.01.2007 (StB 18/06) hat der Bundesgerichtshof (Ermittlungsrichter) die verdeckte Online-Durchsuchung unzulässig erklärt. Der Leitsatz lautet wie folgt:
Die "verdeckte Online-Durchsuchung" ist mangels einer Ermächtigungsgrundlage unzulässig. Sie kann insbesondere nicht auf § 102 StPO gestützt werden. Diese Vorschrift gestattet nicht eine auf heimliche Ausführung angelegte Durchsuchung.
Aus dem Sachverhalt:
Der Generalbundesanwalt führt gegen den Beschuldigten und weitere Personen ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Gründung einer terroristischen Vereinigung und anderer Straftaten. Er hat beim Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs beantragt, "gemäß § 102, § 105 Abs. 1, § 94, § 98, § 169 Abs. 1 Satz 2 StPO die Durchsuchung des von dem Beschuldigten benutzten Personalcomputers/Laptops, insbesondere der auf der Festplatte und im Arbeitsspeicher abgelegten Dateien ..., und deren Beschlagnahme anzuordnen und den Ermittlungsbehörden zur verdeckten Ausführung dieser Maßnahme zu gestatten, ein hierfür konzipiertes Computerprogramm dem Beschuldigten zur Installation zuzuspielen, um die auf den Speichermedien des Computers abgelegten Dateien zu kopieren und zum Zwecke der Durchsicht an die Ermittlungsbehörden zu übertragen" (...).
Eine konzise Zusammenfassung der Begründung kann der Pressemitteilung Nr. 16/07 entnommen werden:
Nach der Entscheidung ist die verdeckte Online-Durchsuchung insbesondere nicht durch § 102 StPO (Durchsuchung beim Verdächtigen) gedeckt, weil die Durchsuchung in der Strafprozessordnung als eine offen durchzuführende Ermittlungsmaßnahme geregelt ist. Dies ergibt sich zum einen aus mehreren Vorschriften des Durchsuchungsrechts zu Gunsten des Beschuldigten - Anwesenheitsrecht (§ 106 Abs. 1 Satz 1 StPO) und Zuziehung von Zeugen (§ 105 Abs. 2, § 106 Abs. 1 Satz 2 StPO) -, deren Befolgung als zwingendes Recht nicht zur Disposition der Ermittlungsorgane steht. Zum anderen folgt dies aus einem Vergleich mit den Ermittlungsmaßnahmen, die - wie die Überwachung der Telekommunikation (§§ 100 a, b StPO) oder die Wohnraumüberwachung (§§ 100 c, d StPO) - ohne Wissen des Betroffenen durchgeführt werden können, für die aber deutlich höhere formelle und materielle Anforderungen an die Anordnung und Durchführung bestehen. Auch andere Befugnisnormen der Strafprozessordnung gestatten die verdeckte Online-Durchsuchung nicht.
Der Beschluss des Ermittlungsrichters des BGH lässt auch Rückschlüsse auf das Schweizerische Strafprozessrecht zu. Alles steht und fällt mit der gesetzlichen Grundlage in einem der 29 anwendbaren Prozessgesetze. Eine solche Grundlage fehlt - soweit ich das auf die Schnelle überblicken kann - praktisch überall.

Vgl. dazu die Gelüste der Schweizerischen Strafverfolger in meinem letzten Beitrag zum Thema.

Sonntag, Februar 04, 2007

Fehlurteile? In der Schweiz kaum möglich

Ein interessanter Artikel in der heutigen SonntagsZeitung setzt sich mit Unzulänglichkeiten von Zeugenaussagen in Strafprozessen auseinander. Eine Fehlerquelle liegt im Funktionieren des menschlichen Gedächtnisses, das Wahrgenommenes nicht unverändert wiedergeben kann. Eine andere Fehlerquelle sind Befragungstechniken, welche auf die Unzulänglichkeiten des menschlichen Gedächtnisses nicht eingehen und die wissenschaftlichen Erkenntnisse darüber nicht anwenden. Ergebnis: FEHLURTEILE.

Fehlurteile? Ja klar, in den USA. In der Schweiz gibt es sowas natürlich nicht. Die Gründe nennen die Experten, welche der Beitrag zitiert:

«Das Wissen um den richtigen Einsatz offener, aber auch geschlossener Fragen ist selbstverständlich», heisst es bei der Zürcher Kantonspolizei. Etwas skeptischer ist Christoph Ill: «Ich bin nicht sicher, wie weit zum Beispiel die Technik des Kognitiven Interviews in der Praxis eingesetzt wird», sagt der St. Galler Untersuchungsrichter, der das Nachdiplomstudium MAS Forensics am Competence Center Forensik und Wirtschaftskriminalistik an der HSW Luzern leitet. Dass es in der Schweiz nicht zu krassen Justizirrtümern wie im Fall Ronald Cotton kommt, hängt mit den unterschiedlichen Prozesskulturen zusammen. In den USA spielt das Geständnis eine absolut zentrale Rolle. Entsprechend arbeiten die Ermittler darauf hin – auch mit Methoden, die in der Schweiz nicht erlaubt sind. Bei uns muss ein Geständnis stets durch starke weitere Indizien gestützt sein. Zudem wird der Grundsatz «Im Zweifel für den Angeklagten» stärker gewichtet. In der Schweiz ist deshalb die Wahrscheinlichkeit, dass ein Unschuldiger verurteilt wird, viel geringer als in den USA, sagt die forensische Psychologin Henriette Haas. «Eher wird einmal ein Schuldiger nicht verurteilt.»

Meine Beurteilung als Strafverteidiger (ich behaupte einfach mal, dass ein Verteidiger näher dran ist als ein Ermittler oder Richter):
  1. Das Wissen um den richtigen Einsatz offener oder geschlossener Fragen ist kaum vorhanden, am ehesten tatsächlich noch bei der Polizei. Juristen neigen offenbar einfach dazu, wissenschaftliche Erkenntnisse nicht zur Kenntnis nehmen zu wollen. Dies liegt vielleicht daran, dass noch immer nicht ganz unumstritten ist, ob die Jurisprudenz überhaupt als Wissenschaft gelten kann.
  2. Was ein kognitives Interview ist und wie man diese Technik einsetzt, weiss hierzulande kaum jemand.
  3. Das Geständnis ist auch in unserem Prozessrecht das zentrale Beweismittel, auf das natürlich mit genau den selben Methoden hingearbeitet wird wie in den USA. Wer den Freispruch eines geständigen Beschuldigten in der Schweiz kennt, teile mir das bitte mit.
  4. Dass die Unschuldsvermutung in der Schweiz stärker gewichtet wird als in den USA ist ein Schuss ins Blaue und trifft wahrscheinlich nicht zu. Dazu ein ganz aktueller Literaturhinweis: Beyond a Reasonable Doubt.
  5. Dass in der Schweiz die Wahrscheinlichkeit von Fehlurteilen angeblich viel geringer ist als in den USA könnte auch daran liegen, dass es in der Schweiz im Gegensatz zu den USA keine entsprechende Forschung gibt.

Spannend übrigens auch die Links der SonntagsZeitung:

Quelle: Sie können ihren Augen nicht trauen, SonntagsZeitung vom 04.02.2007, S. 77.

    Samstag, Februar 03, 2007

    Praxisänderung beim Eventualvorsatz?

    In einem viel beachteten und zu Unrecht kritisierten Entscheid hat das Bundesgericht (bzw. der Kassationshof, den es seit 1.1.2007 gar nicht mehr gibt) eine Beschwerde des "Rasers von Muri" gutgeheissen (6S.280/2006 vom 21.01.2007). Anders als die Vorinstanz hat das Bundesgericht auch hier (vgl. meinen früheren Beitrag) den Eventualvorsatz verneint. Es ging um folgenden Sachverhalt:
    Die Vorinstanz wirft [..] dem Beschwerdeführer vor, dass er beschleunigte, als F. ihn zu überholen begann, und dass er trotz des herannahenden Gegenverkehrs nicht abbremste, um F. den Abschluss des Überholmanövers durch Einschwenken nach rechts vor seinem Fahrzeug zu ermöglichen. Durch sein Verhalten habe er das Risiko einer Frontalkollision zwischen F. und dem entgegenkommenden Fahrzeug geschaffen. Dieses Risiko sei ihm bewusst gewesen (E. 3.1).
    Das Bundesgericht hat den Eventualvorsatz wahrscheinlich hauptsächlich deshalb verneint, weil der überholende Verkehrsteilnehmer jederzeit die Herrschaft über das Geschehen hatte:
    Im Gegenteil sprechen einige Umstände dafür, dass der Beschwerdeführer - allenfalls pflichtwidrig unvorsichtig - davon ausging und darauf vertraute, dass F. das Überholmanöver schon noch rechtzeitig abbrechen und dadurch die drohende Frontalkollision vermeiden werde. Der Beschwerdeführer gefährdete durch das inkriminierte Verhalten auch sich selbst. Eventualvorsatz ist daher nicht leichthin anzunehmen (siehe BGE 130 IV 58 E. 9.1.1 S. 63/64 mit Hinweisen). F. konnte auf dem übersichtlichen Streckenabschnitt den nahenden Gegenverkehr ebenso gut erkennen wie der Beschwerdeführer. F. konnte grundsätzlich selber am besten abschätzen, wann der Moment gekommen sei, an dem er spätestens durch Abbremsen das Überholmanöver abbrechen musste, um eine Kollision mit dem entgegenkommenden Fahrzeug zu verhindern. Ein solcher Abbruch des Überholmanövers war jederzeit möglich, da keine Fahrzeuge folgten. F. hatte insoweit die Herrschaft über das Geschehen. Der Abbruch des Überholmanövers erscheint als die natürliche Reaktion des Überholenden, wenn bei nahendem Gegenverkehr aus irgendwelchen Gründen eine Frontalkollision droht, zumal von einem solchen Zusammenstoss neben den Insassen des entgegenkommenden Fahrzeugs in erster Linie die Insassen des überholenden und nicht diejenigen des überholten Fahrzeugs betroffen sind (E. 4.2.5).
    Dem wäre eigentlich nichts hinzuzufügen. Das Bundesgericht hat dann aber dennoch bemerkenswerte Überlegungen speziell zum Eventualvorsatz im Bereich des Strassenverkehrsrechts nachgeschoben:
    Im Übrigen kann bei Unfällen im Strassenverkehr nicht ohne weiteres aus der hohen Wahrscheinlichkeit des Eintritts des tatbestandsmässigen Erfolgs auf dessen Inkaufnahme geschlossen werden. Erfahrungsgemäss neigen Fahrzeuglenker dazu, einerseits die Gefahren zu unterschätzen und andererseits ihre Fähigkeiten zu überschätzen, weshalb ihnen unter Umständen das Ausmass des Risikos der Tatbestandsverwirklichung nicht bewusst ist. Einen unbewussten Eventualdolus aber gibt es nicht (E. 4.4).
    Der Entscheid ist zur Publikation in der amtlichen Sammlung vorgesehen.

    Keine Playstation in Untersuchungshaft

    Das Bundesgericht schützt einen Entscheid des Regierungsrats des Kantons Aargau, der einem Untersuchungshäftling im Bezirksgefängnis Zofingen die Benützung einer privaten Playstation verweigert hatte (Urteil 1P.780/2006 vom 22.01.2007):
    Bei der vorliegenden Frage geht es nicht um die Gewährleistung des für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlichen Mindestmasses an Freiheit, sondern um Lockerungen des Anstaltsbetriebs, die der Staat als Träger des Gefängniswesens nach seinen finanziellen und personellen Möglichkeiten einführen kann. Ziff. 8.1 der Hausordnung kann somit nicht als verfassungswidrig bezeichnet werden. Damit kann auch offen bleiben, ob den Gefahren, die mit einer Playstation verbunden sind, durch die Plombierung der Hohlräume und die Versiegelung der für den Internetzugang vorgesehenen Schnittstellen begegnet werden könnte. Solche Änderungen am Gerät und deren nachhaltige Durchsetzung würden im Übrigen regelmässige Kontrollen bedingen, was zu einem zusätzlichen Aufwand für das Anstaltspersonal führte (E. 2.5).
    Dieses Ergebnis hätte man auch einfacher begründen können. Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, dass das Benützen einer Playstation in den Schutzbereich der persönlichen Freiheit nach Art. 11 BV fällt.

    Ob der Entscheid des Regierungsrats des Kantons Aargau klug ist, wage ich hingegen zu bezweifeln. In anderen Untersuchungsgefängnissen werden Playstations mit guten Gründen zugelassen. Sich selbst untehaltende Häftlinge sind in der Regel einfacher zu führen als solche, die auf Zeitschriften angewiesen sind, die sie nicht lesen oder verstehen können.

    Donnerstag, Februar 01, 2007

    SAirGroup-Strafprozess: Gut gemacht, SuperMario

    Mario Corti benützt den Prozess in Bülach seit Tagen dazu, sich selbst zu inszenieren und die Anklage lächerlich zu machen. Das Publikum dankt es ihm, denn mit ihm kam zweifellos Farbe in den grauen Bülacher Prozessalltag. Vergesssen hat Corti dabei, dass es nicht das Publikum oder die Medien sind, welche das Urteil zu fällen haben.

    Dass ein solches Verhalten eines Beschuldigten ziemlich riskant ist, dürfte jedem Strafverteidiger klar sein. Nicht bloss riskant, sondern geradezu dumm ist es dagegen, andere Prozessbeteiligte oder Dritte anzugreifen und sich damit weitere Gegner zu machen, die sich natürlich (auch ausserhalb des Gerichtsgebäudes) wehren können. Genau dies widerfährt Corti heute, denn gemäss NZZ online geht die angegriffene UBS AG zum Gegenangriff über und lässt sich via Medien wie folgt vernehmen:

    Hätte man seitens der SAirGroup den Willen und Mut gehabt, eine richtige und konsequente Sanierung durchzuführen, hätte man mit grösster Wahrscheinlichkeit wesentliche Teile der Swissair retten können.

    Ende März habe die UBS Corti eine Dokumentation übergeben, in welcher sie schätzte, dass die Schulden der SAirGroup um bis zu 3 Mrd. Fr. höher waren als der Wert des Unternehmens. Corti habe dies aber zurückgewiesen.

    Dieser Gegenangriff fliesst selbstverständlich mindestens indirekt in den Prozess ein und unterstützt damit die Anklage. Gut gemacht, SuperMario!