Mittwoch, November 30, 2005

Urteile des Bundesstrafgerichts und der Eclat im eidg. Untersuchungsrichteramt

Eine ganze Reihe neuer Urteile ist online, was heute gerade auch im Zusammenhang mit dem Eclat im eidgenössischen Untersuchungsrichteramt interessiert, über den der Tagesanzeiger berichtet.

Danach ist eine Untersuchungsrichterin seit knapp einem Monat freigestellt. Den Hauptgrund für diese Massnahme bildete laut Aufsichtsbehörde "die Situation der von der Untersuchungsrichterin bearbeiteten Verfahren beziehungsweise die ausstehenden Abschlüsse ." Dass dies tatsächlich der Hauptgrund ist, wage ich zu bezweifeln, weil er eine derart drastische Massnahme kaum rechtfertigen würde. Hingewiesen wird auf einen Entscheid des Bundesstrafgerichts vom 21. Oktober 2005 (BH.2005.30), aus dem folgende Passage zitiert sei:

Damit verstösst die Vorinstanz nicht nur gegen die erwähnte Anordnung der Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts, sondern manifestiert auch, dass sie nicht willens oder nicht fähig ist, das Verfahren mit der notwendigen Beförderlichkeit voranzutreiben. Eine Verletzung des Beschleunigungsgebots ist somit zu bejahen. Angesichts der Tatsache, dass seit dem erwähnten abmahnenden Entscheid rund fünf weitere Monate ohne wesentliche Beweiserhebungen verstrichen sind, handelt es sich um eine schwere Verletzung des Beschleunigungsgebots. Die Beschwerde ist demnach und alleine aus diesem Grund gutzuheissen und der Beschwerdeführer ist aus der Untersuchungshaft zu entlassen E. 5.2)

Update 3: "Annahme verweigert"

Die heutigen Pressereaktionen finden Sie im Solothurer Tagblatt und etwas ausführlicher in der Solothurner Zeitung.

Meine Kritik, dass die Staatsanwaltschaft in den Strafuntersuchungen schlicht nicht existent sei und zuviel der Polizei überlasse, wird von der Staatsanwaltschaft vehement zurückgewiesen. Das beweist immerhin, dass die Staatsanwaltschaft doch existiert. Jetzt sollte der Wahrnehmung ihrer Führungsrolle in den Strafuntersuchungen ja nichts mehr entgegen stehen.

Der Polizeikommandant weist in der Presse den Vorwurf, dass die Polizei zu viel Kompetenzen im Ermittlungsverfahren habe, vehement zurück. Ernst zu nehmen ist das freilich nicht. Ich kenne jedenfalls keinen Polizisten, der sich je über zuviel Kompetenzen beklagt hätte.

Zwischenergebnis: In der Sache scheinen sich alle mehr oder weniger einig zu sein, weisen aber die sie selbst betreffenden Vorwürfe vehement zurück. Zugestanden sind lediglich organisatorische Anlaufschwierigkeiten.

Dienstag, November 29, 2005

Nicht jeder Handel mit Hanfprodukten illegal

Mit dieser Begründung hat das Kassationsgericht des Kantons Zürich die Verurteilung eines Gesellschafters aufgehoben, der nicht gewusst haben will, dass "seine" Gesellschaft illegale Hanfgeschäfte tätigte. Die Vorinstanz habe gemäss NZZ (Artikel nicht online) nicht dargelegt, weshalb der Gesellschafter die illegalen Tätigkeiten hätte erkennen können. Schliesslich sei nicht jeder Handel mit Hanfprodukten illegal. Die Erwägungen der Vorinstanz seien nicht nachvollziehbar und daher willkürlich.

Montag, November 28, 2005

Update 2: "Annahme verweigert"

Die Diskussion um die neue solothurnische Staatsanwaltschaft findet heute ihren Weg zurück in die Medien. Heute berichtet das Solothurner Tagblatt über den aktuellen Stand und zitiert aus diesem Weblog. Dazu folgende Klarstellungen:

  1. "Nicht existent" - und das war meine einzige Kritik an der neuen Staatsanwaltschaft - ist die Staatsanwaltschaft im Vorverfahren, das sie nach Gesetz ja eigentlich führen muss. Dies war einer der Mängel des alten Systems, der mit der Strafverfolgungsreform behoben werden sollte. Nach den ersten Monaten unter dem neuen Regime ist festzustellen, dass die Untersuchungshandlungen nach wie vor weitgehend der Polizei delegiert oder gar überlassen werden. Dass ich gerade heute die gegenteilige Erfahrung machen durfte, ändert an meinen grundsätzlichen Bedenken nichts, muss aber fairerweise auch erwähnt sein.
  2. Die fachliche Aufsicht über die Staatsanwaltschaft obliegt den Gerichtsinstanzen, welche deren Verfügungen und Anträge zu prüfen haben (Haftfgericht und Strafkammer des Obergerichts). Dass es für die Verteidigung äusserst schwierig ist, sich gegen die Staatsanwaltschaft durchzusetzen, liegt ja sicher nicht nur daran, dass die Argumente der Staatsanwaltschaft derart überzeugend wären. Telefonkontrollen und Haftanträge werden beispielsweise praktisch ausnahmslos bewilligt, obwohl die entsprechenden Anträge im Vergleich zu anderen Kantonen oft nur rudimentär begründet werden. Nach meiner Auffassung liesse sich die Qualität und damit auch die Effizienz der staatsanwaltlichen Tätigkeit steigern, wenn ihre Anträge und Verfügungen kritischer gewürdigt würden. In dieser Hinsicht kann die politische Aufsicht keinen Beitrag leisten.

Sonntag, November 27, 2005

Hausdurchsuchung bei der Geschädigten?

Die Sonntagszeitung berichtet über eine Hausdurchsuchung in den Büros von Josef Blatter bei der Fifa. Diese soll im Rahmen eines Verfahrens wegen ungetreuer Geschäftsbesorgung zum Nachteil der Fifa erfolgt sein. Der Fantasie der Strafverfolgungsbehörden sind halt keine Grenzen gesetzt.

Samstag, November 26, 2005

Das rechtsstaatliche Gewissen der Schweiz

In den letzten drei Beiträgen habe ich auf gestern online gestellte Entscheide des Bundesgerichts hingewiesen. In allen drei Entscheiden hat die Erste öffentlichrechtliche Abteilung des Bundesgerichts Entscheidungen der Obergerichte Schaffhausen, Bern und Aargau als verfassungswidrig aufgehoben. Alle drei Urteile erscheinen als zwingend und werfen kein gutes Licht auf die kantonalen letztinstanlichen Gerichte.

Als rechtsstaatliches Gewissen der Schweiz erweist sich einmal mehr die genannte Abteilung des Bundesgerichts, welche ja nur eine verschwindende Minderheit der unhaltbaren kantonalen Entscheiden vorgelegt kriegt. Die meisten Rechtssuchenden können oder wollen sich bereits das Kostenrisiko, das mit einem Gang ans Bundesgericht verbunden ist, nicht leisten. Darauf spekulieren ganz offensichtlich auch kantonale Gerichte uns sich mehr oder weniger bewusst über Gesetz und Verfassung hinwegsetzen. Es wird mir jedenfalls niemand plausibel erklären können, dass die Richter, die an den drei aufgehobenen Urteilen mitgewirkt hatten, davon überzeugt sind, Recht gesprochen zu haben.

Kostenauflage an Nichtverurteilte?

Die Strafverfolgungsbehörden des Kantons Aargau haben ein Strafverfahren gegen einen Beschuldigten eingestellt, diesem aber die Verfahrenskosten auferlegt. Diesen Entscheid musste der Beschwerdeführer bis vor Bundesgericht ziehen. Dieses nennt die längst bekannten Voraussetzungen für eine Kostenauflage an Nichtbeschuldigte und legt dar, dass solche Entscheide zu begründen seien (BGE 1P.534/2005 vom 15.11.2005). Dies hielten weder die Strafverfolgungsbehörden noch das Obergericht des Kantons Aargau für notwendig:
Die Beschwerdekammer hat denn auch im angefochtenen Entscheid über sechs Seiten für die keineswegs besonders weitschweifige Begründung der Kostenauflage aufgewendet und setzt sich daher selber in einen gewissen Widerspruch zu ihrer Aussage, die Staatsanwaltschaft habe die Begründungspflicht nicht verletzt. Dies ist vielmehr der Fall, der Beschwerdeführer hat in der kantonalen Beschwerde zu Recht eine Verletzung der Begründungspflicht gerügt (E. 5.1).

Hotelbriefkasten - keine rechtsgültige Zustellung

Dass ein Hotelbriefkasten nicht dem Herrschaftsbereich eines Hotelgastes zuzurechnen ist, musste das Bundesgericht anlässlich einer Laienbeschwerde gegen einen Entscheid des Obergerichts des Kantons Bern feststellen (BGE 1P.550/2005 vom 10.11.2005):
Unter diesen Umständen hat der Gemeindeverwalter die Gerichtsurkunde, indem er sie, als das Hotel geschlossen und die Hoteleigentümer abwesend waren, in den Hotelbriefkasten warf, offensichtlich nicht in den Herrschaftsbereich der Beschwerdeführerin gebracht und diese damit nicht rechtsgültig am 16. März 2005 zugestellt (E. 3.1).

Keine Kostenauflage an die Auskunftspersonen

Das Untersuchungsrichteramt Schaffhausen hat ein Strafverfahren eingestellt und die Kosten einer Auskunftsperson auferlegt, welche von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch gemacht hatte. Dass es dafür keine gesetzliche Grundlage gibt, hat das Untersuchungsrichteramt ebenso wenig gekümmert wie die Staatsanwaltschaft und das Obergericht des Kantons Schaffhausen, welche die Rechtsmittel der Auskunftsperson abgeschmettert hatten. Vor Bundesgericht hatte die Auskunftsperson leichtes Spiel (BGE 1P.464/2005 vom 10.11.2005):
Die Tragung der Kosten eines eingestellten Strafverfahrens durch Auskunftspersonen (Dritte) ist weder in den oben genannten noch in anderen Bestimmungen der Schaffhauser Strafprozessordnung vorgesehen. Indem das Obergericht die Auferlegung der Verfahrenskosten an den Beschwerdeführer dennoch bestätigt, verletzt es das Legalitätsprinzip. Die Beschwerde ist
insoweit begründet (E. 3.3).

Update: "Annahme verweigert"

Mein Beitrag zur Kolumne von Markus Schneider hat zahlreiche Reaktionen ausgelöst. Besonders gefreut hat mich der Kommentar von Markus Schneider selbst, der seine Reaktion (leider) als einziger hier gepostet hat (Hinweis an alle, die hier nicht posten: man kann seine Kommentare auch anonym veröffentlichen).

Schneider und ich (und übrigens bisher alle anderen Reaktionen, die ich auf anderem Weg erhalten habe) stimmen letztlich überein, dass der Ist-Zustands kein Zustand ist. Nicht einig scheinen wir uns bloss darin zu sein, wo Handlungsbedarf besteht. Schneider erkennt ihn als Politiker bei der politischen Aufsicht, während ich ihn als Strafverteidiger bei der Führung der Staatsanwaltschaft selbst und bei den fachlichen Aufsichtsgremien (insb. Haftgericht und Strafkammer des Obergerichts, die über hochqualifizierte Köpfe verfügen) orte. Wenn Schneider und ich nicht völlig von der Rolle sind, liegt die Lösung ja auf der Hand: das eine tun und das andere nicht lassen.

Zum politischen Ansatz habe ich noch ein paar grundsätzliche Bemerkungen, die m.E. nicht ausser Acht gelassen werden dürfen:
  1. Die Staatsanwaltschaft ist keine Justizbehörde. Sie gehört wie die Polizei der Exekutive und nicht der dritten Gewalt an (s. dazu einen früheren Beitrag). Art. 90 KV unterscheidet denn auch zwischen der Strafgerichtsbarkeit (Justiz) und den Strafverfolgungsbehörden (Exekutive). Dass die beiden wichtigsten Strafverfolgungsbehörden im Kanton Solothurn - nämlich die Polizei und die Staatsanwaltschaft - unterschiedlichen Departementen angehören, erscheint mir als struktureller Unsinn, der die politische Problemlösung sicher nicht vereinfacht.
  2. Innerhalb der Exekutive nimmt die Staatsanwaltschaft eine Sonderstellung ein, was die politische Aufsicht erschwert. Die Staatsanwaltschaft hat justizielle Funktion und muss über Unabhängigkeit gegenüber der Regierung verfügen (vgl. dazu die Diskussion auf Bundesebene sowie meine früheren Beiträge dazu: hier, hier, hier und hier).

Donnerstag, November 24, 2005

Lebenslange Verwahrung

Mit Pressemitteilung vom 23.11.2005 orientiert das EJPD über die Verabscheidung der Botschaft (Entwurf und Vernehmlassungsergebnisse) zur Umsetzung der Verwahrungsinitiative. Mehr dazu auf der Themenseite "Lebenslange Verwahrung" des BJ.

Verdeckte Ermittler im Rechtshilfeverfahren

Ein zur Publikation in der amtlichen Sammlung vorgesehener Entscheid des Bundesgerichts (BGE 1A.180/2005 vom 25.10.2005) befasst sich mit dem Einsatz ausländischer verdeckter Ermittler in Strafrechtshilfeverfahren. Aus E. 3.4:
Diese Eigenheiten des rechtshilfeweisen Einsatzes verdeckter Ermittler rechtfertigen, diese Rechtshilfemassnahme nur zu Gunsten von Staaten zuzulassen, zu denen ein besonderes Vertrauensverhältnis besteht und die Gewähr bieten, sich trotz fehlender Kontrollmöglichkeiten der Schweiz an die Auflagen und Bedingungen zu halten, unter denen die Rechtshilfe gewährt wurde. Als Ausdruck eines solchen kann der Abschluss eines Staatsvertrages gesehen werden, in welchem der (gegenseitige) Einsatz verdeckter Ermittler ausdrücklich vorgesehen und geregelt wird.
Interessant ist übrigens die prozessuale Vorgeschichte und etwa die Tatsache, dass die Bundesanwaltschaft vor Bundesgericht erfolglos die Aufhebung ihrer eigenen Verfügung beantragt.

Ungewöhnlich harsch ist die Kritik des Bundesgerichts an einem Entscheid des Präsidenten der Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts:
Er hat seine sachliche Zuständigkeit klar überschritten, indem er sich über [eine Verfügung der Bundesanwaltschaft] hinwegsetzte und befand, die Rechtshilfe an die Niederlande sei unrechtmässig erfolgt, anstatt allein zu prüfen, ob die Voraussetzungen des BVE erfüllt seien oder nicht (E. 2.3).

Dienstag, November 22, 2005

"Annahme verweigert"

In seiner Kolumne im Solothurner Tagblatt übt Markus Schneider teils beissende Kritik an der neuen Solothurnischen Strafverfolgungsbehörde und fordert Massnahmen der politischen Aufsichtsbehörden. Dazu kann ich mir einen Kommentar natürlich nicht verkneifen:

Nach Jahrzehnten hat die politische Aufsicht endlich eingegriffen und die Strafverfolgung in kürzester Zeit grundlegend und zukunftsweisend reformiert. Dass vier Monate nach einer solchen Reform noch manches nicht so laufen mag wie es sollte, erscheint als verständlich. Bedenklich ist aber, dass die neue Superbehörde auch nach vier Monaten noch immer schlicht nicht existent zu sein scheint und ihre Aufgaben immer mehr der Polizei überlässt. Damit macht sie exakt das Gegenteil dessen, was der Gesetzgeber mit der Reform angestrebt hat. Gefragt ist jetzt aber nicht die politische Aufsicht, sondern die Führung der Staatsanwaltschaft selbst und die Gerichte, welche die fachliche Aufsicht ausüben (sollten) und dabei an akuter Beisshemmung zu leiden scheinen. Wenn die Gerichte den Kollegen von der Staatsanwaltschaft nicht alles durchehen liesse, würden sie sehr rasch besser, was im Interesse aller - ja, auch im Interesse der Beschuldigten - läge.

Montag, November 21, 2005

Treu und Glauben im Völkerrecht

Das Bundesgericht hat die Beschwerde eines deutschen Staatsangehörigen abgewiesen(BGE 1A.199/2005 vom 09.11.2005), der im vereinfachten Verfahren wegen bestimmter Delikte ausgeliefert worden war, sich nun aber wegen schwererer Delikte in Deutschland zu verantworten hat. Das Bundesamt für Justiz stimmte einem deutschen "Nachtragsersuchen" zu. Dagegen machte der Beschwerdeführer u.a. einen Verstoss gegen Treu und Glauben geltend: Der Haftbefehl, welcher der Auslieferung an Deutschland zugrunde lag, habe sich auf minderschwere Fälle beschränkt. Er habe darauf vertraut, dass keine weiteren Strafvorwürfe gegen ihn vorlägen und habe der vereinfachten Auslieferung nur aus diesem Grund zugestimmt.

Das Bundesgericht macht zuerst allgemeine Ausführungen zum völkerrechtlichen Grundsatz von Treu und Glauben und stellte dann für den anwendbaren Fall in E. 5.2 fest:
Vor der Übergabe begangene, im damaligen Auslieferungsersuchen nicht genannte Straftaten dürfen deshalb nur mit Zustimmung der Schweiz verfolgt bzw. dafür verhängte Strafen vollstreckt werden. Diese Zustimmung darf nur erteilt werden, wenn die Auslieferungsvoraussetzungen erfüllt sind, d.h. es gelten dieselben
Voraussetzungen, die gegolten hätten, wenn schon im Mai 2004 über die (akzessorische) Auslieferung für die vorliegend beantragte Strafvollstreckung und -verfolgung hätte entschieden werden müssen. Die Rechtsstellung des Beschwerdeführers ist deshalb durch das Vorgehen der deutschen Behörden nicht verschlechtert und sein Vertrauen, nur wegen der im Haftbefehl vom 30. März 2004 genannten Straftaten ausgeliefert worden zu sein, nicht enttäuscht worden.
Ob der Beschwerdeführer dieses Argument versteht? Ich verstehe es jedenfalls nicht.

Samstag, November 19, 2005

Überwachung der Internettelefonie

"10 vor 10" hat gestern darüber berichtet, dass die Schweiz keine Mittel zur Überwachung der Internettelefonie (s. dazu meinen früheren Beitrag zu den Entwicklungen in den USA) habe, obwohl der Bund eben ein Überwachungszentrum für CHF 30 Mio. eingerichtet habe. Dies stelle ein "massives Problem" für die Strafverfolgung dar. Mindestens so problematisch ist aber doch, dass der Staat davon auszugehen scheint, es gebe nur potentielle Verbrecher, und jede Überwachungslücke als massives Problem qualifiziert. Darüber verliert "10 vor 10" leider kein Wort.

Im Beitrag gesteht ein Staatsanwalt offen zu, dass die Überwachung von VoIP nicht möglich sei, während die zuständige Stelle des Bundes (DBA) im Interesse der Strafverfolgung eine Stellungnahme verweigert (wie clever!). Der Beitrag von "10 vor 10" ist online.

Freitag, November 18, 2005

Verbrechensplanung aus dem Gefängnis

Der Bundesrat empfiehlt die Ablehnung der Motion "Schluss mit Verbrechensplanung von Gefängnisinsassen" von NR Ulrich Schlüer. Schlüer und seine 24 mitunterzeichnenden Kollegen forderten die Aufhebung des angeblich vom Bundesgericht verfügten "Abhörverbots für Telefongespräche von Gefängnisinsassen".

Die Gefängnisinsassen (und das Bundesgericht) werden von den Motionären wohl unterschätzt. Letztere zu unterschätzen dürfte dagegen nicht ganz einfach sein.

Donnerstag, November 17, 2005

Oil for food

Gemäss Tagesanzeiger Online droht eine Welle von Strafverfahren gegen rund 40 Unternehmen in der Schweiz (vgl. dazu meinen früheren Beitrag). Die Akten sind nun offenbar bei der Bundesanwaltschaft, die aber noch keine Verfahren eröffnet hat.

Die potentiell betroffenen Unternehmen, die ja aus dem veröffentlichten Bericht bekannt sind, werden es den Behörden danken, dass Ihnen so viel Zeit eingeräumt wird, sich auf allfällige Verfahren vorzubereiten. Meine Prognose daher: Der Zug ist für die Strafverfolger längst abgefahren, was sie selbstverständlich nicht daran hindern wird, lastwagenweise Beweismittel sicherzustellen, bevor die Verfahren dann wieder eingestellt werden.

Vorbefasste Oberrichter

Das Bundesgericht hat die Richter der I. Strafkammer des Zürcher Obergerichts auf Beschwerde hin als befangen erklärt. Diese hatten den Beschwerdeführer zu einer Busse von CHF 5,000.00 verurteilt. Das Urteil wurde vom Kassationsgericht bestätigt, dann aber vom Bundesgericht wegen Verletzung des Konfrontationsrechts aufgehoben (BGE 1P.676/2004 vom 22.03.2005). Im Rahmen der Neubeurteilung wollten dieselben Richter der I. Strafkammer den Fall erneut selbst beurteilen, was sich der Beschwerdeführer nicht gefallen lassen wollte und gemäss BGE 1P.591/2005 vom 02.11.2005 nun auch nicht gefallen lassen muss. Aus der Urteilsbegründung (E. 3.2):
"Angesichts dieser Haltung bestehen begründete Zweifel daran, dass die gleichen Richter in der Lage wären, das Ergebnis der ergänzenden Zeugenbefragung unvoreingenommen in die erneut vorzunehmende Beweiswürdigung miteinzubeziehen. Die Tatsache, dass das Bundesgericht die vom Beschwerdeführer gestellten Zusatzfragen als nicht von vornherein irrelevant bezeichnet hat, wird kaum etwas an der im obergerichtlichen Urteil zum Ausdruck kommenden Gewissheit der Richter zu ändern vermögen, dass die von der Zeugin bereits gemachten Angaben für eine Verurteilung des Beschwerdeführers genügten. Dass sich die Richter selbst für unbefangen erklären, kann im Übrigen nicht ausschlaggebend sein. Die Garantie des unvoreingenommenen und unbefangenen Richters wird schon verletzt, wenn bei objektiver Betrachtungsweise auch nur der Anschein von Befangenheit besteht. Dieser Anschein kann aber hier nicht von der Hand gewiesen werden."

Mittwoch, November 16, 2005

Game over

Der Interessenverband der Musikbranche Ifpi Schweiz droht wieder einmal mit Klagen und Strafprozessen gegen private Raubkopierer (s. dazu meinen früheren Beitrag.). Was legal ist und was nicht definiert Ifpi gleich selbst und behauptet mit abenteuerlichen Zahlen (s. NZZ Online) einen enormen Schaden, den die "Musikpiraten" angeblich anrichten sollen. Die Aktion mit der dümmlichen Bezeichnung "Game over" soll sich zunächst gegen erwachsene, berufstätige Musikdiebe richten, "zu denen sich das illegale Herunterladen von Files von den minderjährigen Jugendlichen mehr und mehr verschoben haben soll."

Selbstversuch

Ein bei gelb blinkender Ampel geblitzter Autofahrer aus der Ostschweiz traute seinen Augen nicht und kontrollierte quasi im Selbstversuch gleich mehrfach, was denn da los sei.

Ergebnis: innert 97 Sekunden vier mal von der selben Radaranlage erfasst, und zwar nicht wegen Missachtung des Signals, sondern wegen übersetzter Geschwindigkeit (59, 63, 77 und 67 km/h). Die Gurte trug er übrigens auch nicht (s. Tagesanzeiger).

Dienstag, November 15, 2005

Unverhältnismässig streng und nicht nachvollziehbar

Der Kassationshof des Bundesgerichts hebt ein Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich wegen bundesrechtswidriger Strafzumessung auf (BGE 6S.367/2004 vom 26.10.2005):
Insgesamt würdigt die Vorinstanz einzelne zumessungsrelevante Komponenten unzutreffend. Die Strafe erweist sich in ihrer Höhe als unverhältnismässig streng und ist nicht nachvollziehbar (E. 4.6).
Keinen Erfolg hatte der Beschwerdeführer mit seinen Argumenten gegen die angeordnete Verwahrung (Art. 43 Ziff. 1 Abs. 2 StGB).

Montag, November 14, 2005

Polen und der Europäische Haftbefehl

EU Law Blog berichtet über einen Entscheid des Polnischen Verfassungsgerichts zum Europäischen Haftbefehl. Die Änderungen der Strafprozessordnung, welche den Rahmenbeschluss umsetzen sollten, wurden teilweise als verfassungswidrig qualifiziert (vgl. dazu meinen Hinweis auf ein entsprechendes Urteil des Bundesverfassungsgerichts).

Unbegründet, aber doch nicht ganz unbegründet

Das Bundesgericht hat in einem heute online gestellten Entscheid (BGE 6P.104/2005 vom 27.10.2005) einen teilweise falsch begründeten Entscheid des Obergerichts des Kantons Aargau als im Ergebnis richtig geschützt, indessen darauf verzichtet, dem Beschwerdeführer Kosten aufzuerlegen:
"Vorliegend ist jedoch auf eine Kostenauflage zu verzichten, weil die teilweise unrichtige Begründung des angefochtenen Entscheids dem Beschwerdeführer Anlass gab, Beschwerde zu führen."
Auf seinen Anwaltskosten bleibt er freilich sitzen.

Freitag, November 11, 2005

Telekommunikationsüberwachung

Statewatch äussert sich im aktuellen News online zu den Entwicklungen bei der Überwachung der Telekommunikation. Erwähnt seien hier die aktuellen Vorlagen der EU (vgl. The surveillance of telecommunications in the EU).

Von besonderem Interesse sind die aktuellen Statistiken aus Grossbritannien, wekhe die jährlichen Zahlen seit 1937 zeigen: Telephone tapping and mail-opening figures 1937-2004. Zum Vergleich die Zahlen aus den USA von CDT. Statewatch beklagt sich, dass im Jahr 2003 in Grossbritannien mehr Überwachungen bewiligt wurden als in den USA. Auf die Zahlen in der Schweiz habe ich kürzlich hingewiesen. Hier nun eine Gegenüberstellung der für das Jahr 2003 bewilligten Telefonüberwachungen:
  • USA: 1,442
  • GB: 4,827
  • CH: 2,928 (ohne die 3,815 rückwirkenden Überwachungsmassnahmen)
In der Schweiz beklagt man sich wie berichtet nicht über die stetig steigenden Überwachungsmassnahmen, sondern bestenfalls über die Kosten. Ich finde keine Worte mehr dazu.

Donnerstag, November 10, 2005

Kurzen Prozess ...

... machte das Bundesgericht mit einer Nichtigkeitsbeschwerde und einer staatsrechtlichen Beschwerde eines wegen Drogendelikten zu 3 1/4 Jahren Zuchthaus und 10 Jahren Landesverweisung verurteilten Beschwerdeführers. Seine Rügen behandelte das Bundesgericht im heute online gestellten BGE 6P.83/2005 vom 20.10.2005 wie folgt:

  • Gehörsverletzung: "Rügen offensichtlich unbegründet"

  • Willkür: "wegen ungenügender Begründung nicht einzutreten"

  • Unschuldsvermutung: "Eine Verletzung des Grundsatzes 'in dubio pro reo' (vgl. BGE 127 I 38 E. 2a) ist nicht ersichtlich."

  • Begründungepflicht (Art. 29 Abs. 2 BV): "Die Erwägungen des Kantonsgerichts, insbesondere dessen Rückgriff auf die gerichtsnotorische Tatsache der 'Kundenabwanderung', sind nachvollziehbar und genügen den verfassungsrechtlichen Begründungsanforderungen von Art. 29 Abs. 2 BV."

  • Mittäterschaft: "Die Vorinstanz nimmt zu Recht Mittäterschaft an. Der Beschwerdeführer bringt dagegen vor Bundesgericht keine neuen stichhaltigen Argumente vor."

  • Strafzumessung: "Die Vorinstanz hat die massgeblichen Strafzumessungsfaktoren berücksichtigt und zutreffend gewürdigt."

  • Landesverweisung: "Eine Bundesrechtsverletzung ist nicht ersichtlich."

  • unentgeltliche Rechtspflege: "Seine Gesuche sind abzuweisen, da die Rechtsbegehren von Anfang an aussichtslos erschienen."

Mittwoch, November 09, 2005

PlameGate light

Gemäss Tagesanzeiger Online sind heute zwei Journalisten der Berner Zeitung wegen Veröffentlichung amtlicher geheimer Verhandlungen (Art. 293 StGB) verurteilt worden, die das Stimmverhalten im Berner Regierungsrat veröffentlicht hatten. Die beiden blieben jedoch straffrei. Absatz 3 der genannten Strafnorm sieht dies vor:
Der Richter kann von jeglicher Strafe absehen, wenn das an die Öffentlichkeit gebrachte Geheimnis von geringer Bedeutung ist.
Ihre Quelle hatten die Journalisten übrigens nicht preisgegeben.

28 Tage ohne Anklageerhebung

Eine Anti-Terrorismus-Vorlage der britischen Regierung hatte vorgesehen, Verdächtige bis zu 90 Tage (bisher 14 Tage) festhalten zu können, ohne Anklage zu erheben. Das ging dem Parlament zu weit und wies die Vorlage zurück. In einer zweiten Abstimmung wurde der Kompromiss beschlossen: 28 Tage (s. Tagesanzeiger Online und NZZ Online).

Gesetzgebungsmaschinerie auf Hochtouren

Gemäss heutiger Pressemitteilung wird das Opferhilfegesetz (OHG) total revidiert. Entwurf und Botschaft sind online.

Einiges tut sich auch im Bereich häusliche Gewalt (vgl. dazu die Themenseite des BJ mit aktuellen und weniger aktuellen Beiträgen).

Dienstag, November 08, 2005

Verfassungsmässigkeit der Kaida-Verfahren

SCOTUSblog und NZZ Online berichten über den Entscheid des U.S. Supreme Court, eine Verfassungsbeschwerde von Salim Ahmed Hamdan zur Entscheidung anzunehmen. Hamdan, angeklagter Häftling in Guantanamo (s. dazu die Website der Military Commissions mit der Anklageschrift gegen Hamdan et. al.), bringt folgende Fragen zur Entscheidung (Quelle: SCOTUSblog):
1. Whether the military commission established by the President to try petitioner and others similarly situated for alleged war crimes in the 'war on terror' is duly authorized under Congress's Authorization for the Use of Military Force (AUMF), Pub. L. No. 107-40, 115 Stat. 224; the Uniform Code of Military Justice (UCMJ); or the inherent powers of the President?
2. Whether petitioner and others similarly situated can obtain judicial enforcement from an Article III court of rights protected under the 1949 Geneva Convention in an action for a writ of habeas corpurs challenging the legality of their detention by the Executive branch?

Das Urteil der Vorinstanz (United States Court of Appeals for the District of Columbia Circuit), an dem der neu gewählte Chief Justice Roberts mitgewirkt hatte, ist online.

Keine (weitere) Überdehnung des Pornographie-Tatbestands

Terra Incognita berichtet über einen gestern online gestellten Entscheid des Bundesgerichts zu Art. 197 Ziff. 3 StGB (BGE 6S.315/2005 vom 12.10.2005). Das Bundesgericht blockte die eher absurd anmutenden Bestrebungen der Strafverfolgungsbehörden des Kantons Waadt ab, den Pornographie-Tatbestand zu subjektivieren.

Sonntag, November 06, 2005

Telefonüberwachung in der Schweiz

NZZ am Sonntag berichtet über den Unmut der Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektor-innen und direktoren KKJPD (die nennt sich tatsächlich so) über die rasant steigenden Kosten der Telefonüberwachung. Jährlich fallen in der Schweiz ca. CHF 15 Mio. an Gebühren an, was gemäss der allzeit um den Rechtsstaat besorgten Vizepräsidentin der KKJPD Karin Keller-Sutter (FDP, SG) "rechtsstaatlich problematisch" sei. Es gehe auch "um das Prinzip, dass Private der Justiz Beweismittel kostenlos zur Verfügung stellen müssen. "

Interessant sind übrigens auch die Zahlen, die im Bericht genannt werden. Zwischen dem Jahr 2000 (4,000) und dem Jahr 2004 (8,000) habe sich die Zahl der Überwachungen verdoppelt (hierzu werden keine rechtsstaatlichen Bedenken angemeldet). Andere Zahlen präsentiert dagegen der Dienst für besondere Aufgaben DBA, dessen Statistik freilich wenig aussagekräftig ist (s. auch meinen früheren Beitrag).

"quasi rechtshilfeweise"

Aus einer Verfügung der Staatsanwaltschaft:

"Über die Eröffnung einer Untersuchung kann nach Auffassung der Staatsanwaltschaft unter dem Regime der geänderten Strafprozessordnung erst nach Eingang der vollständigen Akten (Anzeige mit allen Ermittlungsergebnissen und Beilagen) von der Polizei entschieden werden. Die bisher erfolgten Massnahmen (Telefonkontrollen und Hausdurchsuchung) erfolgten quasi rechtshilfeweise in der Ermittlungstätigkeit der Polizei gegen Unbekannt."


s. dazu meinen Kommentar in den Zitaten.

Freitag, November 04, 2005

Profifussballer diskriminiert?

Die Stadtpolizei Zürich hat einen bekannten Profifussballer unmittelbar vor dem Stadion angehalten, in Handschellen gelegt, abgeführt, einer Leibesvisitation unterzogen (dazu ist es offenbar aus Sicherheitsgründen unumgänglich, sich nackt ausziehen zu müssen) und befragt. Der Fussballer soll eine Verkehrsregel übertreten und sich unkooperativ verhalten haben. Darüber berichtet 10 vor 10 (s. auch die Medienmitteilung der Stadtpolizei Zürich und die Berichterstattung im Tagesanzeiger).

Gemeinsamer Nenner solcher Fälle aus eigener Erfahrung: Die Betroffenen sind Schwarze. Daraus können verschiedene Schlüsse gezogen werden, am ehesten sicher denjenigen, dass die eigene Erfahrung nicht repräsentativ ist.

Dienstag, November 01, 2005

Aufsicht über die Bundsanwaltschaft

Das schriftliche Vernehmalssungsverfahren zur Neuregeleung der Aufsicht über die Bundesanwaltschaft (einheitliche Aufsicht) ist abgeschlossen. Laut Solothurner Tagblatt (Artikel online nicht verfügbar) stösst die Vorlage auf erheblichen Widerstand. Die Schweizerische Richtervereinigung, mehrere Kantone, SP und CVP lehnen sie ab. Hauptargument ist offenbar die als gefährdet erachtete Unabhängigkeit der Bundesanwaltschaft (s. dazu meinen früheren Beitrag).