Freitag, März 30, 2007

Befreiungsschlag der Bundesanwaltschaft?

Der Bundesrat hat laut Mitteilung des EJPD einen ausserordentlichen Bundesanwalt mit der Führung eines Ermittlungsverfahrens gegen einen Mitarbeiter der Bundeskriminalpolizei betraut:
Im Rahmen eines von der Bundesanwaltschaft geführten Verfahrens soll ein Mitarbeiter der Bundeskriminalpolizei für die Untersuchung wichtige Informationen verschwiegen haben. In der Folge reichte die Bundeskriminalpolizei gegen diesen Mitarbeiter Strafanzeige wegen Falschaussage (Art. 307 StGB) und Begünstigung (Art. 305 StGB) ein.
In welchem Verfahren sich der Bundespolizist strafbar gemacht haben soll, ist nicht bekannt.

(s. auch die Berichterstattung der NZZ)

Euro 2008: Die Rolle der Strafjustiz

Im Nationalen Sicherheitskonzept Schweiz für die UEFA EURO 2008 wird auch die Justiz in die Pflicht genommen:
Daneben wird für die EURO 2008 – unter Wahrung der Unabhängigkeit der Justiz – eine möglichst einheitliche Praxis der Justizbehörden angestrebt. Eine Arbeitsgruppe der Konferenz der Strafverfolgungsbehörden der Schweiz (KSBS) hat verschiedene Massnahmen erarbeitet, um bei typischen Straftaten und ausländischen Angeschuldigten ohne Wohnsitz in der Schweiz nach einheitlichen Richtlinien Sicherheitsleistungen zu erheben, ein rasches erstinstanzliches Verfahren durchzuführen und diese Personen unmittelbar anschliessend in ihre Heimatstaaten zurückzuführen. Die Vertreter von Strafverfolgungsbehörden verschiedener Kantone haben es trotz (noch) unterschiedlicher Strafprozessordnungen problemlos geschafft, sich für die EURO 2008 auf ein einheitliches Verfahren nach eben solchen Grundsätzen zu einigen. Dieser Beitrag der Strafjustiz wird eine weitere Grundlage zur Gewährleistung der Sicherheit an der EURO 2008 bilden.
Die Strafverfolger einigen sich also trotz unterschiedlicher Strafprozessordnungen auf ein einheitliches Verfahren, und dies alles unter Wahrung der Unabhängigkeit der Justiz. Nicht schlecht! Der Beitrag der ach so unabhängigen Justiz kann etwa so zusammengefasst werden:
  1. Verhaftung der Tatverdächtigen
  2. Beschlagnahme sämtlicher Vermögenswerte zur Sicherung der Kosten / Geldstrafen
  3. Rasches (was immer das heisst) erstinstanzliches Verfahren unter Einziehung der beschlagnahmten Vermögenswerte
  4. Abschiebung in den Heimatstaat (vor Vollzug allfälliger Strafen?)
Einmal mehr betätigt sich die durch nichts legitimierte KSBS als faktischer Gesetzgeber zum Wohle des Landes, seiner Bürger und Besucher. Die Justiz ist gefordert, dieser Gesetzgebung durch die Hintertür entgegenzutreten. Erste Anzeichen dafür gibt es: Die Empfehlungen der KSBS zur Strafzumessung wurden zumindest in einem Kanton als nicht mit dem Willen des Gesetzgebers vereinbar zurückgewiesen.

Donnerstag, März 29, 2007

Freispruch für streitbare Patientenschützerin

Das Kantonsgericht des Kantons St. Gallen hat Margrit Kessler (s. meinen früheren Beitrag) von sämtlichen Vorwürfen freigesprochen. Hier drei Presseberichte darüber:Ob damit das letzte Wort gesprochen ist, wage ich zu bezweifeln. Die bisherige Rechtsprechung des Bundesgerichts in vergleichbaren Angelegenheiten lässt eine Beschwerde jedenfalls nicht als aussichtslos erscheinen.

Verschlechterungsverbot / Konfrontationsrecht

Ein heute online gestellter Entscheid (6P.238/2006 vom 15.03.2007) bot dem Bundesgericht Gelegenheit, ein paar grundsätzliche Feststellungen zum Verschlechterungsverbot und zum Konfrontationsrecht in Erinnerung zu rufen.

Zum Verschlechterungsverbot:
Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers liegt keineswegs in jeder Gesetzesverletzung auch eine Verletzung von Art. 29 Abs. 1 BV. Aus dieser Bestimmung folgen insbesondere die Verbote der formellen Rechtsverweigerung, der Rechtsverzögerung und des überspitzten Formalismus (Botschaft über eine neue Bundesverfassung vom 20. November 1996, BBl 1997 181), nicht aber das Verschlechterungsverbot. Dieses zählt nach konstanter Rechtsprechung nicht zuden verfassungsmässigen Rechten und lässt sich auch nicht aus der EMRK herleiten (Zusammenfassung der Rechtsprechung im Urteil 6S.234/2005 vom 29.Juni 2006, E. 2.1.2) (E. 2.2).
Der Beschwerdeführer hätte nur die willkürliche Anwendung kantonalen Rechts rügen können, was das Bundesgericht für den vorliegenden Fall aber gleich mitverworfen hat.

Zum Konfrontationsrecht:
Das Abstellen auf Aussagen aus der Voruntersuchung ist mit Konvention und Bundesverfassung unter Vorbehalt der Wahrung der Verteidigungsrechte vereinbar. Dem Anspruch, den Belastungszeugen Fragen zu stellen, kommt grundsätzlich ein absoluter Charakter zu. Demgegenüber ist das Recht, Entlastungszeugen zu laden und zu befragen, relativer Natur. Der Richter hat insoweit nur solche Beweisbegehren, Zeugenladungen und Fragen zu berücksichtigen und zuzulassen, die nach seiner Würdigung rechts- und entscheiderheblich sind (BGE 129 I 151E. 3.1 mit Hinweisen; 125 I 127 E. 6c/bb S. 135) (E. 3.2).
Etwas speziell am vorliegenden Fall war, dass der Beschwerdeführer beantragt hatte, die abgelehnten Zeugen seien mit Dritten zu konfrontieren:
Der Beschwerdeführer hat indessen gar nicht beantragt, an der Berufungsverhandlung mit seiner Lebenspartnerin E. und seinem in dieser Angelegenheit bereits wegen Nötigung rechtskräftig verurteilten Bruder D. konfrontiert zu werden. Er hat nur verlangt, dass die beiden mit den drei Belastungszeugen A., B. und C. konfrontiert würden. Für diesen Antrag kann er aus Art. 6 Ziff. 1 und Ziff. 3 lit. d EMRK nichts ableiten.

Mittwoch, März 28, 2007

Guido A. Zäch auch vor Bundesgericht erfolglos

Das Bundesgericht weist die Beschwerden von Guido A. Zäch gegen das Urteil des Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt ab (Urteil 6S.415/2006 vom 19.03.2007). Damit bleibt es bei der bedingten Gefängnisstrafe von 16 Monaten wegen Veruntreuung. Bemerkenswert erscheint mir eigentlich nur der Kostenentscheid des Bundesgerichts:
Der Beschwerdeführer unterliegt in beiden Verfahren und hat daher die Kosten zu tragen (Art. 156 Abs. 1 OG, Art. 278 Abs. 1 Satz 1 BStP). Mit Rücksicht auf den Umfang und den Inhalt der Beschwerdeschriften ist die Gerichtsgebühr auf je Fr. 10'000.--, mithin auf insgesamt Fr. 20'000.--, festzulegen (vgl.Art. 153a OG, Art. 278 Abs. 1 i.V.m. Art. 245 BStP sowie Tarif für die Gerichtsgebühren im Verfahren vor dem Bundesgericht [SR 173.118.1]) (E. 19).
Das Bundesgericht begründet die exorbitant hohe Gerichtsgebühr auch mit dem Umfang und mit dem Inhalt (!) der Beschwerdeschriften (zusammen 258 Seiten). Im Urteil tönt das dann so:
Auch unter Berücksichtigung dessen ist aber die Beschwerdeschrift äusserst weitschweifig. Zwar ist sie in einzelne Hauptabschnitte gegliedert, doch werden darin die zahlreichen Einwände in mehrfachen Wiederholungen und unter Vermischung von Tat- und Rechtsfragen vorgetragen. Die vielfach erhobene Rüge der willkürlichen Beweiswürdigung im Besonderen wird weitgehend mit bloss appellatorischen Ausführungen begründet (E. 2).
Oder so:
Der Beschwerdeführer macht in seiner umfangreichen (107 Seiten umfassenden) Nichtigkeitsbeschwerde in überaus weitschweifigen, vielfach wiederholten Ausführungen im Wesentlichen geltend, dass ... (E. 12.2).
s. dazu auch die Berichterstattung im Tages-Anzeiger.

Ein Lichtblick für die Unschuldsvermutung

Das Bundesgericht heisst eine Laienbeschwerde wegen doppelter Verletzung der Unschuldsvermutung gut (Urteil 6S.554/2006 vom 15.03.2007). Der Beschwerdeführer war wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung im Strassenverkehr bestraft worden, machte aber geltend, er könne zufolge Auslandaufenthalts gar nicht der Lenker gewesen sein. Die kantonalen Strafbehörden gingen darauf nicht ein:
Quant au fond, force est de constater que X. n'a jamais, tout au long de la procédure, apporté la preuve de ce qu'il ne conduisait pas son véhicule le jour où l'infraction a été constatée, bien que cette opportunité lui ait été offerte à deux reprises au moins, soit devant la Commission de police et devant le Tribunal. Au surplus, aucun indice ne permet de dire que tel ne serait pas le cas, la correspondance de Y., non datée du reste, n'étant pas suffisante. En pareil cas, la présomption selon laquelle le détenteur du véhicule est censé le conduire s'applique.
Dazu das Bundesgericht:
En l'espèce, le Tribunal de police reproche littéralement à l'accusé de n'avoir pas apporté la preuve qu'il ne conduisait pas son véhicule le jour de l'infraction alors qu'il aurait pu démontrer ce fait. C'est clairement méconnaître qu'il incombait à l'accusation, et à elle seule, de démontrer la présence de l'intéressé au volant lors de l'excès de vitesse. Il y a là un renversement du fardeau de la preuve contraire à la présomption d'innocence (E. 6).
Das Bundesgericht begnügt sich aber nicht mit der Feststellung einer unzulässigen Beweislastumkehr, sondern erkennt auch bei der Beweiswürdigung eine Verletzung der Unschuldsvermutung:
A la lumière de ces éléments, le déplacement de l'accusé à l'étranger et le fait qu'il ait pu prêter sa voiture apparaissent plausibles. Sa présence au volant devenait pour le moins douteuse (même si sa défense, peu conventionnelle, manquait de rigueur). D'ailleurs, le texte du jugement n'exclut pas que le Tribunal de police ait éprouvé un doute. En réalité cette autorité n'exprime pas la conviction que l'intéressé conduisait la voiture mais invoque une présomption - discutable (voir ATF 106 IV 142 consid. 3)- d'après laquelle le détenteur du véhicule est censé le conduire. Dans la mesure où cela traduisait un doute du juge, ce doute aurait dû profiter à l'accusé (E. 7).

Ein Fall für Strassburg?

Gegen X. wird ein Strafverfahren durchgeführt wegen Verdachts der Ausnützung einer Notlage und der sexuellen Belästigung. Im Zuge dieser Strafuntersuchung verfügten die Strafverfolgungsbehörden die Durchsuchung der Räumlichkeiten von X. nach pornografischem Material speziell mit Kinderaufnahmen und weiteren Beweismitteln im Zusammenhang mit dem Tatbestand der Ausnützung einer Notlage. Die Durchsuchung führte zur Beschlagnahme von Computern und Datenträgern. Gegen die von der Vorinstanz verfügte Entsiegelung gelangte X. mit staatsrechtlicher Beschwerde ans Bundesgericht. Erfolg hatte er insofern, als das Bundesgericht überhaupt auf die Beschwerde eintrat. In der Sache drang er aber nicht durch (Urteil 1P.621/2006 vom 12.03.2007). Hier ein paar Zitate und Bemerkungen aus dem erstaunlichen Entscheid:
Der Beschwerdeführer fühlt sich offenbar zu Jugendlichen hingezogen, die deutlich jünger sind als er, und der kantonalen Behörde sind der betroffene Jugendliche und dessen Aussagen bekannt. Bei dieser Sachlage ist der Verdacht des Besitzes verbotener Pornografie, namentlich mit Kinderaufnahmen, verfassungsrechtlich haltbar. Der Umstand, dass das Schutzalter des Jugendlichen geringfügig überschritten ist, lässt den Anfangsverdacht nicht verfassungswidrig erscheinen (E. 4.1).
Der Verdacht ist also verfassungsrechtlich haltbar. Wieso er das ist, erfährt der Leser freilich nicht. Es ist halt einfach so.

In der Folge stützt sich das Bundesgericht auf offenbar zweideutige Aussagen von X., welche dieser anlässlich der Hausdurchduchung, also nach Ausstellung des Durchsuchungsbefehls, gemacht hatte. Aber das spielte keine Rolle. Vielleicht wurde es gar nicht gerügt.

Ebenfalls keine Rolle spielte die Tatsache, dass wegen verbotener Pornografie formell gar kein Strafverfahren eröffnet worden war:
Dass die Strafuntersuchung gegen den Beschwerdeführer formell nicht wegen des Verdachts der Pornografie eröffnet wurde, ist aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden. Für die Zulässigkeit der Beschlagnahme ist erheblich, ob ein Tatverdacht besteht, nicht, ob deswegen formell ein Strafverfahren eröffnet worden ist (E. 4.4).
Und ich dachte immer, bei einem Tatverdacht sei ein Strafverfahren zu eröffnen. Falsch gedacht!

X. rügte auch eine Verletzung des Diskriminierungsverbots (Art. 8 Abs. 2 BV). Bei heterosexuellen und mit gleichaltrigen Partnerinnen oder Partnern verkehrenden Männern werde niemand auf die Idee kommen, einen Besitz verbotener Pornografie zu konstruieren, wenn diese ausführten, sie hätten pornografisches Material auf ihrem Computer gespeichert. Dieses Argument kontert das Bundesgericht wie folgt:
Das Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer wird nicht wegen seiner Homosexualität, sondern wegen einer sexuellen Beziehung mit einem 16-jährigen Jugendlichen geführt, dessen sexuelle Selbstbestimmung beeinträchtigt sein könnte. In diesem Zusammenhang steht der Pornografieverdacht. Es ist offensichtlich, dass strafbare Handlungen durch das Diskriminierungsverbot von Art. 8 Abs. 2 BV nicht geschützt werden. (...). Da Beschlagnahme und Entsiegelung wegen eines begründeten strafrechtlichen Verdachts und nicht wegen der Lebensform des Beschwerdeführers bewilligt wurden, ist sein Vorbringen unbegründet (E. 5.2).
So einfach kann Rechtsprechung sein.

Montag, März 26, 2007

Betrug oder Veruntreuung?

In einem zur Publikation in der amtlichen Sammlung vorgesehenen Entscheid (6S.404/2006 vom 16.02.2007) äussert sich das Bundesgericht ausführlich zum Verhältnis zwischen Betrug (Art. 146 StGB) und Veruntreuung (Art. 138 StGB). Es wirft der Vorinstanz vor, einen nicht nachgewiesenen Betrugsvorwurf kurzerhand unter dem Tatbestand der Veruntreuung zu sanktionieren, was in der Praxis allzu oft vorkommt bzw. vorkam:
Die Vorinstanz geht davon aus, soweit aus prozessualen Gründen eine Verurteilung wegen Betruges ausscheide, gelange der Tatbestand der Veruntreuung zur Anwendung. Es könne nicht die Meinung des Gesetzgebers gewesen sein, denjenigen straflos zu lassen, der sich das Vertrauen erschlichen habe und der sich über seine wahren Absichten hinsichtlich der Verwendung der anvertrauten Sache oder des Vermögenswertes bereits bei Übergabe bzw. beim Vertragsschluss im Klaren gewesen sei (...). Dies setzt indes voraus, dass die durch Täuschung erlangten Vermögenswerte im Sinne von Art. 138 Ziff. 1 Abs. 2 anvertraut sind (E. 7).

Im Grunde nimmt die Vorinstanz hier nur deshalb Veruntreuung an, weil der Beschwerdeführer und die übrigen Tatbeteiligten die Gelder, die ihnen aufgrund der nicht arglistigen Täuschungen überwiesen worden waren, für eine Gegenleistung entgegenahmen, die gar nicht erbracht werden konnte (E. 7.2).
Die Veruntreuung scheitert im vorliegenden Fall am Tatbestandselement des Anvertrautseins bzw. der Werterhaltungspflicht nach Art. 138 Ziff. 1 Abs. 3. Dazu fasst das Bundesgericht Lehre und Rechtsprechung wie folgt zusammen:
Die Werterhaltungspflicht, d.h. das Anvertrauen eines Vermögenswerts im Sinne von Art. 138 Ziff. 1 Abs. 2 StGB, kann auf ausdrücklicher oder stillschweigender Abmachung beruhen (BGE 120 IV 117 E. 2b). Massgeblich ist, ob dem Täter die Verfügungsmacht über den Vermögenswert von einem anderen bewusst und freiwillig übertragen wird (Stefan Trechsel, Schweizerisches Strafrecht, Kurzkommentar, Art. 138 N 8). Nach der Rechtsprechung genügt für die Werterhaltungspflicht die Begründung eines "faktischen" oder "tatsächlichen" Vertrauensverhältnisses (BGE 86 IV 160 E. 4a; 92 IV 174 E. 2; krit. Niggli/Riedo, a.a.O., Art. 138 N 82/94; ferner Stratenwerth/Jenny, a.a.O., § 13 N 50 in Bezug auf gemäss Art. 20 OR nichtige Verträge; ebenso Rehberg/Schmid/Donatsch, Strafrecht III, 8. Aufl. 2003, S. 102; Trechsel, a.a.O., Art. 138 N 7; differenzierend Schubarth, a.a.O., Art. 140 N 8). In der Lehre wird demgegenüber für das Anvertrautsein von Vermögenswerten verschiedentlich verlangt, dass die Begründung der Verfügungsmacht des Täters, d.h. das Grundgeschäft zwischen Treugeber und Treuhänder rechtlichgültig zustande kommt. Dem Täter soll nicht bloss tatsächliche Verfügungsmacht, sondern Verfügungsberechtigung eingeräumt werden. Nachdieser Auffassung genügt es namentlich nicht, wenn die Verfügungsmacht durch Täuschung erlangt wird (Niggli/Riedo, a.a.O., Art. 138 N 86 f./94; vgl. auch Jenny, a.a.O., S. 406 f. FN 30; anders Felix Bommer, Grenzen des strafrechtlichen Vermögensschutzes bei rechts- und sittenwidrigen Geschäften, Diss. Bern 1996, S. 240; ders., Zum Verhältnis von Betrug und Veruntreuung, Urteilsanmerkung, ZBJV 141/2005, S. 125 ff.; Jürg-Beat Ackermann, Wirtschaftsstrafrecht 2003-2005, Aktuelle Rechtsprechung, in: Aktuelle Anwaltspraxis, Bern 2005, S. 661). In diesem Sinne hat das Bundesgericht in einem früheren Entscheid erkannt, ein Vermögenswert sei nicht anvertraut, wenn zur Erlangung der Verfügungsmöglichkeit eine Täuschung oder ein Gewahrsamsbruch notwendig war (BGE 111 IV 130 E. 1a). Bezieht sich die Täuschung indes gerade darauf, dass der Getäuschte dem Täter die Verfügungsmacht einräumt, ist die Sache bzw. der Vermögenswert nach der Rechtsprechung anvertraut (BGE 117 IV 429 E. 3c, S. 436) (E. 6.2).
Im konkreten Fall war eine Werterhaltungspflicht zu verneinen:
Für die Beschaffung der Garantie hatte der Auftraggeber einen Betrag von DM 200'000.-- zu hinterlegen, welche treuhänderisch durch die Treuhandgesellschaft des Beschwerdeführers verwaltet wurde (...). Nach dieser vertraglichen Regelung stellten die von den geschädigten Kunden übertragenen Vermögenswerte reine Vermittlungsgebühren, d.h. Gegenleistungen für die versprochene vertragliche Leistung dar (...). Es handelte es sich namentlich nicht um eine Einlage, die in fremdem Interesse in einer bestimmten Weise hätte investiert werden müssen. Die Gelder waren demnach nicht dazu bestimmt, später wieder - allenfalls mit einer bestimmten Rendite - an die Geschädigten zurückzufliessen. Diese waren mithin keine Investoren, sondern Kunden, die gegen eine Vermittlungsgebühr ein Bankpapier erwerben wollten. Im Übrigen wäre die Annahme einer Werterhaltungspflicht selbst dann fraglich, wenn die Vermögenswerte als Anlage in ein bestimmtes Projekt geflossen wären, da solche Investitionen in der Regel mit Risiken verbunden sind, die im Extremfall zu einem Totalverlust der angelegten Beträge führen können. Wie es sich damit im Einzelnen verhält, kann hier indes offen bleiben, da der Beschwerdeführer vertraglich jedenfalls nicht verpflichtet war, die ihm übertragenen Gelder in ein bestimmtes Projekt zu investieren. Er hat die Gelder als Gebühren, mithin als Gegenleistung für die von ihm bzw. den Mitbeteiligten vorgetäuschten Bemühungen für sich selbst bzw. für die Mitbeteiligten eingenommen (BGE 118 IV 239 E. 2b S. 241; vgl. auch Niggli/Riedo, a.a.O., Art. 138 N 45). Aus gegenseitigen Zuwendungen aus synallagmatischen Verträgen entstehen denn auch nur Ansprüche auf Gegenleistungen, nicht aber auf Werterhaltung (Rehberg, a.a.O., S. 367). Die von den Kunden überwiesenen Vermögenswerte waren daher nicht anvertraut (E 7.2).

Freitag, März 23, 2007

Pyrrhussieg

Das Bundesgericht heisst die Nichtigkeitsbeschwerde eines Beschwerdeführers gut, der vom Obergericht des Kantons Zürich wegen Ausnützung einer Notlage verurteilt worden war. Die Beschwerde war "erfolgreich", weil sich der Beschwerdeführer laut Bundesgericht nicht wegen Ausnützens einer Notlage, sondern wegen Schändung strafbar gemacht hat:
Zusammenfassend ergibt sich, dass der Beschwerdeführer sich nicht der Ausnützung einer Notlage (Art. 193 StGB), sondern der Schändung (Art. 191 StGB) schuldig gemacht hat. Die Beschwerde ist demnach im Schuld- bzw. Strafpunkt gutzuheissen, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache im Sinne der vorstehenden Erwägungen zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Bei der Neubeurteilung wird sie der höheren Strafandrohung in Art. 191 StGB nicht Rechnung tragen dürfen, da dem das Verbot der reformatio in peius entgegensteht (Urteil 6S.171/2006 vom 15.02.2007, zur Publikation in der amtlichen Sammlung vorgesehen, E. 8).

Donnerstag, März 22, 2007

Update: Die Verteidigung des Verteidigers ...

... wird offenbar immer mehr zum Thema vor dem Geschworenengericht Zürich. Wenn ich den heutigen Beitrag der Printausgabe der NZZ lese, stelle ich fest, dass die Verteidigung erneut Thema war:
Thematisiert wurde auch das Auffinden der Tatwaffe, die gemäss Pepes Verteidiger von der Polizei bei der Spurensicherung am Tatort übersehen worden sein soll. Erst am 24. Januar 2005 übergab der Verteidiger selber den Revolver in der Ego-Bar einem Polizisten. Nachdem die Versiegelung der Bar aufgehoben worden war, hatte sich der Anwalt mit einem Schlüsseldienst und Pepes Ehefrau Zutritt zum Tatort verschafft, «um sich einen ersten Überblick zu verschaffen», wie der Polizist als Zeuge die damalige Erklärung des Anwalts wiedergab. Als der Polizist in der Bar eintraf, habe ihm der Anwalt die Waffe präsentiert und erklärt, er habe diese soeben in einem roten Putzkübel, der am Boden stand, gefunden. Ein in die Tatortarbeit involvierter Polizist erklärte dazu vor Gericht: «Ein Polizist ist von Natur aus neugierig, wenn dort ein Kübel gestanden hätte, hätte man auch hineingeschaut.»
Derweil geht die Verteidigung per Internet weiter. Hier der Bericht zum vierten Prozesstag.

Mittwoch, März 21, 2007

Die Verteidigung des Verteidigers

Freundlicherweise wurde ich von anonymous darauf hingewiesen, dass heute auch die NZZ über die Verteidigung via Internet berichtet (s. meine früheren Beiträge hier und hier). Interessant ist die Verteidigung des Verteidigers (gemäss NZZ):
Verteidiger Drück erklärte, die Veröffentlichungen auf seiner Website seien eine Gegenmassnahme zur Tatsache, dass das psychiatrische Gutachten einzelnen Medien (konkret dem «Tages-Anzeiger») zugespielt und im Vorfeld ausführlich zitiert worden sei. Beim Internet-Auftritt sei es ihm nur darum gegangen, Behauptungen mit sachlichen Argumenten entgegenzutreten. Zudem habe der Staatsanwalt am ersten Prozesstag ja Tele Züri auch ein ausführliches Interview gegeben. Gerichtspräsident Martin hielt fest, er habe tatsächlich noch nie erlebt, dass ein Staatsanwalt in diesem Prozess-Stadium am TV so viel sage, und sprach von «Eskalation durch die Medien». Staatsanwalt Markus Oertle seinerseits kritisierte später im Verlauf des Tages, dass Drück Zeugen vor dem Prozess in seiner Anwaltskanzlei befragt und manipuliert habe.
Wie das auch immer endet, dem Beschuldigten wird es tendenziell wohl eher schaden als nützen. Und damit ist die Frage über Sinn und Unsinn einer Strafverteidigung per Internet jedenfalls für die auch in solchen Belangen nicht gerade offene Schweiz beantwortet.

Update: Strafverteidigung per Internet

Laut einem heute im Tages-Anzeiger (nur Printausgabe) erschienenen Artikel wurde der Verteidiger vom Gerichtspräsidenten für sein Verhalten gerügt (s. dazu meinen gestrigen Beitrag). Dieses - so die etwas merkwürdige Begründung - verletzte das Unmittelbarkeitsprinzip. Die Geschworenen, welche die Akten nicht kennen, wurden angewiesen, die Homepage nicht zu beachten. Dem Verteidiger wurde zudem die Prüfung eines Disziplinarverfahrens in Aussicht gestellt.

Et Voilà! Ich bin gespannt, ob die Homepage trotzdem weitergeführt wird, denn inzwischen dürfte ja klar sein, dass sie jedenfalls dem Beschuldigten nicht dienlich sein kann.

Falsches Verständnis von Notwehr

Das Bundesgericht hebt einen Entscheid des Obergerichts des Kantons Zürich auf und macht ihm zum Vorwurf, die Notwehr nicht begriffen zu haben (Urteil 6S.291/2005 vom 13.02.2007):
Da Z. dennoch angriff, stellte sich alsdann die Frage, ob der Beschwerdeführer sein Messer auch einsetzen durfte. Die Vorinstanz verneint dies mit der Begründung, einem Angriff mit blosser Körpergewalt dürfe der Notwehrberechtigte ebenfalls nur mit blosser Körpergewalt begegnen. Das allerdings kann nicht richtig sein. Das Notwehrrecht gibt nicht nur das Recht, mit gleichen Mitteln abzuwehren, mit denen der Angriff erfolgt,sondern mit solchen, die eine effektive Abwehr ermöglichen. Der Notwehrberechtigte kann nur darauf verwiesen werden, dem Angriff mit blosser Körperkraft zu begegnen, wenn er körperlich überlegen ist. Dazu trifft die Vorinstanz jedoch keinerlei Feststellungen (E. 5).

Anspruch auf Einsicht in die schriftliche Krankengeschicte des Täters

Das Bundesgericht hebt auf Beschwerde des Opfers hin einen Einstellungsentscheid der Aargauer Justiz wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs auf (Urteil 1P.714/2006 vom 13.03.2007). Den Strafverfolgungsbehörden (und damit auch dem Gericht und den Parteien) lag keine vollständige schriftliche Krankengeschichte des Beschuldigten vor. Trotzdem wurde das Strafverfahren wegen Schuldunfähigkeit eingestellt.
Der Beizug der vollständigen Krankengeschichte und die Gewährung der Einsicht der Beschwerdeführer darin drängt sich umso mehr auf, als der Hausarzt im Zeitpunkt, als die Gutachter mit ihm telefonisch Rücksprache nahmen, damit rechnen musste, gegebenenfalls selbst der fahrlässigen Tötung angeschuldigt zu werden. Letzteres ist inzwischen auch geschehen. In Anbetracht dessen haben die Beschwerdeführer erst recht ein berechtigtes Interesse, die mündlichen Angaben des Hausarztes anhand der schriftlichen Krankengeschichte zu überprüfen (E. 3.2).

Unanfechtbarer Anwaltsausschluss

Ein Untersuchungsrichter im Kanton Waadt hat einem Beschuldigten nicht erlaubt, sich von seinem Verteidiger zu einer Einvernahme begleiten zu lassen. Die dagegen geführte Beschwerde wurde von der Anklagekammer abgewiesen. Auf eine dagegen gerichtete Einheitsbeschwerde in Strafsachen trat das Bundesgericht in einem Präsidialentscheid (Urteil 1B_38/2007 vom 14.03.2007) mit folgender Begründung nicht ein:
La décision attaquée est une décision incidente contre laquelle le recours en matière pénale (art. 78 ss LTF) n'est recevable qu'aux conditions de l'art. 93 al. 1 LTF. Une telle décision ne peut donc faire l'objet d'un recours au Tribunal fédéral que si elle peut causer un préjudice irréparable (art. 93 al. 1 let. a LTF - il est manifeste que l'hypothèse de l'art. 93 al. 1 let. b LTF n'entre pas en considération ici). Dans la procédure de recours enmatière pénale, la notion de préjudice irréparable correspond à celle del'art. 87 al. 2 OJ, qui soumettait à la même condition la recevabilité du recours de droit public contre de telles décisions incidentes. Selon la jurisprudence, il doit s'agir d'un dommage de nature juridique, qui ne puisse pas être réparé ultérieurement par un jugement final ou une autre décision favorable au recourant. Cette réglementation est fondée sur des motifs d'économie de la procédure; en tant que cour suprême, le Tribunal fédéral doit en principe ne s'occuper qu'une seule fois d'un procès, et cela seulement lorsqu'il est certain que le recourant subit effectivement un dommage définitif (arrêt 1B_13/2007 du 8 mars 2007, avec des références à la jurisprudence relative à l'art. 87 al. 2 OJ) (E. 3).
Der Hinweis des Beschwerdeführers, dass gerade die Verfahrensökonomie die materielle Beurteilung der Beschwerde erfordere, blieb erfolgos:
En l'espèce, l'inconvénient invoqué par le recourant, à savoir l'impossibilité pour lui de comparaître devant le Juge d'instruction accompagné de son avocat, ne peut le cas échéant être considéré que comme un dommage de pur fait. Il s'ensuit que le recours est irrecevable (E. 3).
Dem ist jetzt wohl nur noch mit "erzieherischen Massnahmen" beizukommen: Wem der Anwalt verweigert wird, der verweigere jede Aussage.

Dienstag, März 20, 2007

Strafverteidigung per Internet

In einem Fall, der zur Zeit vor dem Geschworenengericht Zürich verhandelt wird (s. den heutigen Beitrag der NZZ) geht ein Strafverteidiger neue Wege, die etwa in Deutschland oder den USA schon länger praktiziert werden: Publikation von Material in laufenden Verfahren im Internet.

Die Darstellung des Verteidigers ist eine Art rollendes Plädoyer, das offenbar Zweifel am Beweisergebnis wecken will:
Anlässlich des heutigen Prozesstages wurden zwei Zeugen zum äusseren Ablauf des Tatgeschehens befragt. Es zeigte sich, dass die Aussagen beider Zeugen zum Tatablauf teilweise im augenfälligen Widerspruch zu deren eigenen, im Verlauf des Untersuchungsverfahrens gemachten Aussagen und/oder zu den übrigen Untersuchungsergebnissen standen. Ähnliche Widersprüche ergaben sich auch aus den Aussagen von Raffaele Pepe anlässlich des gestrigen, ersten Verhandlungstages. Und: Wie gestern, konnten auch heute nicht alle Widersprüche ausgeräumt werden.
Cui bono?

Samstag, März 17, 2007

Beschlagnahme von eMail beim Provider

Das Bundesverfassungsgericht hat in BVerfG 2 BvR 902/06 vom 29. Juni 2006 (HRRS) offen gelassen, ob und unter welchen Voraussetzungen die Strafverfolgungsbehörden eMails eines Beschuldigten beim Provider beschlagnahmen können. Eine Besprechung dieses Beschlusses von Schlegel ist nun ebenfalls in HRRS erschienen. Seine Zusammenfassung lautet wie folgt:
Zusammenfassend lässt sich damit konstatieren, dass die in den E-Mail-Systemen der Provider lagernden E-Mails unabhängig von ihrem Abrufstatus dem Fernmeldegeheimnis i.S.d. Art. 10 GG unterliegen und damit eine Abfrage im Rahmen eines strafprozessualen Ermittlungsverfahrens sich derzeit nur im Rahmen der §§ 100a f. StPO vollziehen kann. Die §§ 94 ff., 102 ff. StPO sind nicht anwendbar. Hier ist der Gesetzgeber aufgerufen, die Telekommunikationsüberwachung nach der StPO einem schlüssigen Gesamtkonzept zuzuführen, das auch den Zugriff auf E-Mails überzeugend und verhältnismäßig regelt, damit die nun wiederholt wahrgenommenen Unstimmigkeiten bei der Anwendung der Eingriffsvorschriften der StPO weder die strafrechtlichen Ermittlungen unmöglich machen, noch die verfassungsrechtlichen Anforderungen verfehlen.
Auf die Schweiz übertragen dürfte das heissen: Die "Beschlagnahme" von eMail beim Provider erfolgt nach den Regeln des BÜPF und nicht nach den Regeln der strafprozessualen Durchsuchung und Beschlagnahme. Die Lehre (es gibt eigentlich nur Hansjakob, seines Zeichens Strafverfolger) ist da freilich anderer Auffassung. Danach soll BÜPF nur zur Anwendung kommen, wenn die Beschlagnahme ohne Wissen des Beschuldigten erfolgt.

Die Schweiz und ihre Probleme mit der EMRK

Laut einem Bericht des Taqes-Anzeiger vom Donnerstag wurde die Schweiz vom EGMR erneut wegen einer Verletzung von Art. 5 EMRK verurteilt. Die richterliche Haftprüfung fand erst nach fünf Tagen, statt nach längstens 96 Stunden statt. Aus der Pressemitteilung des EGMR:

Kaiser v. Switzerland (no. 17073/04) Violation of Article 5 § 3

The applicant, Célestine Kaiser, is a national of the Central African Republic who was born in 1964 and lives in Zurich. On 5 November 2003 she was arrested and taken into police custody on suspicion of having brought a foreign woman into Switzerland, supposedly to offer her a job as a waitress but then encouraging her to work as a prostitute. After five days the applicant was presented to a judge, who remanded her in custody. Relying in particular on Article 5 (right to liberty and security), the applicant complained, among other things, that she had not been brought promptly before a judge following her arrest. The Court held unanimously that there had been a violation of Article 5 § 3 and considered that the finding of a violation constituted in itself sufficient just satisfaction for the damage sustained by the applicant. It awarded her EUR 2,750 for costs and expenses. (The judgment is available only in French.)

Im Jahr 2006 ergingen neun Urteile gegen die Schweiz (s. Statistik EGMR 2006), die damit statistisch schlechter wegkommt als etwa Holland, Norwegen, Portugal, Serbien, Spanien, Schweden, Albanien, Belgien, Dänemark, Georgien oder Deutschland.

Bei den Verletzungen von Art. 10 EMRK (Meinungsäusserungsfreiheit) ist die Schweiz mit drei Verurteilungen auf dem "Stockerl". Sie wird nur von Österreich (7 Verurteilungen) und der Türkei (35) übertroffen.

Freitag, März 16, 2007

Keine Parteientschädigung in Bagatellstrafsachen

In einem solothurnischen Strafverfügungsverfahren wurde ein Beschuldigter wegen Ruhestörung zu einer Busse von CHF 60.00 und zur Tragung der Verfahrenskosten verurteilt. Auf Einsprache hin wurde das Verfahren mangels Beweisen eingestellt (!). Eine Parteientschädigung wurde dem Einsprecher verweigert, was nun zuletzt das Bundesgericht sanktioniert hat (1P.778/2006 vom 06.03.2007). Aus der Begründung:
Ob der Beizug eines Anwalts im konkreten Fall als geboten erscheint, ist eine Ermessensfrage. Dem Obergericht stand diesbezüglich ein weiter Ermessensspielraum zu, in den das Bundesgericht nur bei unhaltbaren Schlüssen eingreift (BGE 132 I 13 E. 5.1 S. 17, mit Hinweisen). Nach Auffassung des Obergerichts handelte es sich vorliegend um eine Bagatellstrafsache. Dies stellt der Beschwerdeführer nicht in Frage. Allein das Argument, aufgrund der diversen Beanspruchungen des Beschwerdeführers sei der Beizug eines Anwalts geboten gewesen, lässt den Standpunkt des Obergerichts, mangels Komplexität des Falles und in Anbetracht des hohen Bildungsstandes des Beschwerdeführers sei ein Anwalt nicht erforderlich gewesen, nicht als unhaltbar erscheinen (E. 5).
Dass nach dem klaren Wortlaut von § 37 StPO/SO ein Anspruch besteht, half dem Einsprecher nichts:
Im Urteil 1P.134/1999 vom 25. Mai 1999 entschied das Bundesgericht in einem den Kanton Solothurn betreffenden Fall, dass es nicht willkürlich ist, einem Freigesprochenen in einer Bagatellsache keine Parteientschädigung zuzusprechen, wenn der Beizug eines Verteidigers nicht als geboten erschien; daran ändert nichts, dass die §§ 36 und 37 StPO/SO keine entsprechende Klausel enthalten (...). (E. 5).
Immer diese hochgebildeten Paragrafenreiter ...

Donnerstag, März 15, 2007

Antizipierte Beweiswürdigung

Im schweizerischen Strafprozessrecht spielt die antizipierte Beweiswürdigung eine Rolle, die in den meisten anderen Ländern mit vergleichbaren rechtsstaatlichen Standards undenkbar ist. Die antizipierte Beweiswürdigung erlaubt es dem Strafrichter, Beweisanträge des Beschuldigten abzuweisen. Ein Beispiel kann einem heute online gestellten Urteil des Bundesgerichts (6S.559/2006 vom 02.03.2007) entnommen werden.
Aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör folgt, dass der Richter rechtzeitig und formrichtig angebotene erhebliche Beweismittel abzunehmen hat (BGE 122 I 53 E. 4a, mit Hinweisen). Dies verwehrt es ihm indessen nicht, einen Beweisantrag abzulehnen, wenn er ohne Willkür in freier, antizipierter Würdigung der beantragten zusätzlichen Beweise zur Auffassung gelangen durfte, dass weitere Beweisvorkehren an der Würdigung der bereits abgenommenen Beweise voraussichtlich nichts mehr ändern würden (BGE 124 I 208E. 4a; 122 II 464 E. 2a; 122 III 219 E. 3c; 122 IV 157 E. 1d, je mitHinweisen) (E. 3.2).
Im zu beurteilenden Fall hatte der Beschwerdeführer gerügt, dass die Vorinstanzen auf Aussagen des Opfers einer Vergewaltigung abstellte, aber den der Verteidigung abgewiesen hatte, ein aussagepsychologisches Glaubhaftigkeitsgutachten einzuholen:
Nach der Rechtsprechung ist die Prüfung der Glaubhaftigkeit von Aussagen primär Sache der Gerichte. Auf eine Begutachtung durch einen Sachverständigen ist nur zurückzugreifen, wenn der Richter aufgrund besonderer Umstände auf zusätzliches medizinisches oder psychologisches Fachwissen angewiesen ist. Dies ist etwa der Fall, wenn Anzeichen bestehen, dass die betreffende Person wegen einer ernsthaften geistigen Störung, Drogensucht, übermässigen Medikamentenkonsums oder sonstiger Umstände in ihrer Wahrnehmungs-, Erinnerungs- oder Wiedergabefähigkeit beeinträchtigt und zur wahrheitsgemässen Aussage nicht fähig oder nicht willens sein könnte. Dem Richter steht bei der Beantwortung der Frage, ob aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalles der Beizug eines Sachverständigen zur Glaubhaftigkeitsbegutachtung notwendig ist oder nicht, ein Ermessensspielraum zu (E. 3.4).
Dass bereits die Frage, ob solche Anzeichen bestehen, einer besonderen Expertise bedürfen, wird von dieser Rechtsprechung m.E. zu Unrecht ausgeblendet. Auch der Experte wird doch letztlich nur Anzeichen für oder gegen die Glaubhaftigkeit von Aussagen nennen können. Wenn dem Richter als Laien bereits bei der Frage, ob die Glaubhaftigkeit zu untersuchen sei ein Ermessen eingeräumt wird, billigt man ihm im Ergebnis die selbe Fachkompetenz zu wie dem Experten.
So ist dem Appellationsgerichtdarin zuzustimmen, dass das Verhalten der Beschwerdegegnerin anlässlich ihrer Befragungen keinerlei Anhaltspunkte für Auffälligkeiten liefert, welche eine aussagepsychologische Begutachtung nötig erscheinen liessen. Auch wenn die Beschwerdegegnerin an einer posttraumatischen Belastungsstörung und einerdependenten Persönlichkeitsstruktur leidet, muss dies keine unmittelbaren Folgen auf die Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen haben. Dies gilt umso mehr, als sich die psychischen Schwierigkeiten der Beschwerdegegnerin laut dem fraglichen Evaluationsbericht lediglich in Angstzuständen, depressiver Verstimmung und einem niedrigen Selbstwertgefühl manifestieren. Insoweit - d.h. namentlich in Bezug auf die Diagnose, die auch vom Beschwerdeführer nicht in Frage gezogen wird, und die daraus resultierenden gesundheitlichen Auswirkungen für die Beschwerdegegnerin - hat das Appellationsgericht den fraglichen Evaluationsbericht aber als zulässige Entscheidgrundlage heranziehen dürfen (E. 3.6).

Mittwoch, März 14, 2007

Hausdurchsuchung im Goetheanum

Nach einer Darstellung auf der Website des Goetheanum fanden am 6. März 2007 in Dornach umfangreiche Durchsuchungen und Beschlagnahmungen durch die Straatsanwaltschaft Solothurn statt. Aus der Darstellung:
Wie sich herausstellte, hatten Angehörige der Gruppierung „Gelebte Weihnachtstagung“ (GWT) bereits im Sommer 2006 eine Strafanzeige gegen die Mitglieder des Vorstandes eingereicht und darin den Vorwurf der Veruntreuung im Zusammenhang mit vergangenen Prozeßkosten erhoben. Dem ersten Durchsuchungsteam folgten zwei weitere, so daß bald über 40 Beamte im Archiv des Goetheanum, den Büros der Vorstandsetage sowie der Finanzbuchhaltung Akten sichteten, in Kisten verstauten, sowie Schubladen durchforsteten und Computerdaten kopierten. Das unwirkliche Treiben dauerte den ganzen Tag und die Mitarbeitenden fragten sich, wie eine Anzeige der bekannten Randgruppe den Anlaß für solch ein Aufgebot in solchem Ausmaß geben kann. Prof. Dr. Christian Brückner, der Anwalt des Goetheanum traf gegen 9.30 Uhr am Goetheanum ein und vermutete schon bald, daß die Durchsuchung in keinem Verhältnis zur Lage der Tatsachen stand. Parallel zur Durchsuchung wurden die Mitglieder des Vorstandes viele Stunden zu Fragen der Entscheidungswege und Details des Konstitutionsprozesses einzeln vernommen. In vielen Fragen spiegelte sich die Sichtweise der GWT wieder. Am Abend, als es am Goetheanum wieder still wurde, trafen nach und nach die Vorstandsmitglieder ein und berichteten von ihren Verhören. Es stellte sich heraus, dass die Fragen sich im wesentlichen darauf bezogen, ob die Vorstände persönlich für die Kosten in den Auseinandersetzungen um die Konstitution aufzukommen haben oder ob es legitim sei, dass sie von der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft bezahlt werden, obwohl sie in mancher gerichtlichen Auseinandersetzung nicht direkt als Beklagte angesprochen war. Aus diesem Zusammenhang ergab sich der Vorwurf der „ungetreuen eschäftsführung“ oder gar der „Veruntreuung“.

Vom Wert der Unschuldsvermutung

In einem SVG-Administrativverfahren wandte sich ein Beschwerdeführer ans Bundesgericht mit der Behauptung, er sei nicht der Lenker des geblitzten Fahrzeugs gewesen. Er sei aufgrund von blossen Vermutungen der Vorinstanz zu einem Ausweisentzug verurteilt worden. Man habe ihm die Beweislast zugeschoben. Das Bundesgericht hat ihm nun erklärt, dass nicht Vermutung, sondern richterliche Überzeugung zum Urteil führte (6A.98/2006 vom 23.02.2007):
Die Einwände sind offensichtlich unbegründet. Die Rekurskommission hat die Täterschaft des Beschwerdeführers nicht bloss vermutet und ihm nicht den Entlastungsbeweis zugeschoben. Vielmehr hat sie ihre Überzeugung zum Ausdruck gebracht, dass der Beschwerdeführer beim Vorfall vom 2. Oktober 2004 das Fahrzeug gelenkt hatte. Von einer Verletzung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung sowie von einer unzulässigen Umkehr der Beweislast kann keine Rede sein.
Ob dieser Entscheid richtig ist, kann nicht beurteilt werden. Insbesondere darf man nie von der Qualität der Begründung auf die Qualität des Urteils schliessen.

Strafmilderung

In BGE 132 IV I E. 6.1 hatte das Bundesgericht entschieden, dass ein Beschuldigter unter dem geltenden Verjährungsrecht Anspruch auf Strafmilderung (Art. 64 zweitletzter Absatz aStGB) hat, wenn zwei Drittel der Verjährungsfrist verstrichen sind. Dabei ist auf den Zeitpunkt des zweitinstanzlichen Urteils abzustellen sei. An diese Rechtsprechung hatte das Bundesgericht in einem heute online gestellten Entscheid (6S.384/2006 vom 01.03.2007, gewerbsmässiger Betrug) zu erinnern:
Der Tatzeitraum erstreckt sich von August 1993 bis September 1996. Anwendbar ist der seit dem 1. Januar 1995 geltende Art. 146 Abs. 2 StGB. Gewerbsmässiger Betrug verjährt unter neuem Verjährungsrecht in 15 Jahren(Art. 70 Abs. 1 lit. b StGB). Bis zum 30. September 2002 galt eine 10-jährige ordentliche Verjährungsfrist (Art. 70 al. 3 aStGB). Unabhängig davon, welches Verjährungsrecht angewendet wird, steht somit fest, dass die Strafe nach Ablauf von 10 Jahren seit der Tat zu mildern ist. Im Zeitpunkt des vorinstanzlichen Urteils (9./21. November 2005) lagen die Taten teilweise schon mehr als 10 Jahre zurück. Indem diesem strafmildernden Umstand bei der Strafzumessung keine Rechnung getragen wurde, hat die Vorinstanz Bundesrechtverletzt (E. 9.2).
Ein zweiter Beschuldigter konnte von dieser Praxis nicht profitieren, weil er sich vor ca. 11 Jahren eines SVG-Delikts schuldig gemacht hatte:
Für den Beschwerdeführer II fällt eine Strafmilderung nach Art. 64 zweitletzter Absatz StGB von vornherein ausser Betracht, da er am 11. Februar 1996 eine grobe Verkehrsregelverletzung begangen hat, für die er am 15.Januar 1997 zu 5 Tagen Gefängnis bedingt und einer Busse von Fr. 2'500.-- verurteilt wurde. Er hat sich somit seit der zu beurteilenden Tat nicht wohlverhalten (E. 9.2).
Bei ihm hatte die Vorinstanz dafür bei der Bildung der Zusatzstrafe gepatzt.

Dienstag, März 13, 2007

Noch acht Jahre für Marco Camenisch

Das Geschworenengericht Zürich hat nach der Korrektur des Bundesgerichts das Strafmass gegen Marco Camenisch neu festgelegt (s. dazu meine früheren Beiträge hier und hier). Statt der ursprünglichen 17 Jahre Zuchthaus lautet die Strafe neu auf acht Jahre. Der Antrag der Staatsanwaltschaft, Camenisch zu verwahren, blieb erfolglos.

Quellen: NZZ, Tages-Anzeiger.

Freitag, März 09, 2007

Für abstruse Behauptungen bestraft

Der türkische Politiker Perincek ist am Freitag von einem Lausanner Polizeirichter wegen Rassendiskriminierung (Art. 261bis al. 4 StGB) verurteilt worden. Er hatte wiederholt öffentlich den Völkermord von 1915 geleugnet. Art. 261bis al. 4 StGB lautet wie folgt:
...
wer öffentlich durch Wort, Schrift, Bild, Gebärden, Tätlichkeiten oder in anderer Weise eine Person oder eine Gruppe von Personen wegen ihrer Rasse, Ethnie oder Religion in einer gegen die Menschenwürde verstossenden Weise herabsetzt oder diskriminiert oder aus einem dieser Gründe Völkermord oder andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit leugnet, gröblich verharmlost oder zu rechtfertigen sucht,
...
wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.
Gemäss NZZ wurde Perincek zu einer bedingten Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu CHF 100.00 und zu einer Busse über CHF 2,000.00 verurteilt.

Ein erster Kommentar, den ich in einer Radiosendung hörte, lautete wie folgt:
Endlich ist Perincek für seine abstrusen Behauptungen bestraft worden.
Genau dies trifft den (rechtspolitisch) wunden Punkt: Muss jemand, der Quatsch verbreitet, wirklich bestraft werden? Ist es wirklich notwendig, ihm oder ihr ein zusätzliches Forum zur Verfügung zu stellen? Auch juristisch dürfte hier das letzte Wort noch nicht gesprochen sein.

Dieter Behring wieder in Untersuchungshaft

Gemäss einem Artikel der NZZ ist Dieter Behring erneut verhaftet worden. Offenbar werden ihm neue Delikte angelastet.

Die Ehefrau des Opfers als Opfer

Das Bundesgericht kassiert einen Einstellungsentscheid eines Zürcher Richters, welcher der Ehefrau des Opfers die Leigitimation zu einem Rechtsmittel verweigert hatte.

Art. 2. Abs. 2 lit. b OHG lautet wie folgt:

Der Ehegatte, die eingetragene Partnerin oder der eingetragene Partner des Opfers, dessen Kinder und Eltern sowie andere Personen, die ihm in ähnlicher Weise nahe stehen, werden dem Opfer gleichgestellt bei:

...

b. der Geltendmachung von Verfahrensrechten und Zivilansprüchen (Art. 8 und 9), soweit ihnen Zivilansprüche gegenüber dem Täter zustehen;

...


Nach Bundesgericht hat sich die Vorinstanz zu wenig mit dieser Norm auseinander gesetzt (6S.491/2006 vom 25.01.2007):
Dementsprechend hätte sich der Einzelrichter mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob die Beschwerdeführerin ihrerseits gestützt auf Art. 2 Abs. 2 lit. b OHG dem Opfer gleichgestellt ist. Um nach dieser Bestimmung Verfahrensrechte (Art. 8 OHG) geltend machen zu können, wird vorausgesetzt, dass dem Ehegatten des Opfers Zivilansprüche gegenüber dem Täter zustehen. Angesichts der zu Beginn einer Untersuchung oft bestehenden Ungewissheit über die Opferqualität sind im Zweifelsfalle den Personen, die als Opfer in Frage kommen, die Rechte gemäss Opferhilfegesetz zu gewähren (so auch Steiger-Sackmann, a.a.O., N 8 zu Art. 8 OHG mit Hinweis). Nachdem sich die Vorinstanz zur Frage, ob der Beschwerdeführerin in diesem Sinne Zivilansprüche zustehen bzw. sie diese anmelden könnte, offengelassen hat, lässt sich die Gesetzesanwendung nicht nachprüfen. Der angefochtene Entscheid leidet deshalb an einem Mangel im Sinne von Art. 277 BStP (E. 6.5).

Donnerstag, März 08, 2007

Schläger-Urteile bestätigt

Das Bundesgericht hat die Urteile zu den Beschwerden der sechs Neonazis online gestellt, die im Kanton Thurgau zwei Jugendliche massiv angegriffen und verletzt hatten. Das Obergericht des Kantons Thurgau hatte die Täter zu Zuchthausstrafen von bis zu sechseinhalb Jahren verurteilt, u.a. wegen versuchter vorsätzlicher Tötung. Näheres zum Sachverhalt findet sich in den Urteilen selbst, oder zusammengefasst in der NZZ

Interessant ist ein Auszug aus der Rüge eines Täters, der Anklagegrundsatz sei verletzt (6S.417/2006 vom 21.02.2007):

Im Übrigen sind die Rügen des Beschwerdeführers unbegründet. Die Anklageschrift schildert den Sachverhalt sehr eingehend. Sie wirft dem Beschwerdeführer und seinen Mittätern alle wesentlichen Tathandlungen hinreichend genau und detailliert vor. Ob darin eine versuchte schwere Körperverletzung oder gar Tötung zum Nachteil von B. zu sehen ist oder - wie vom Staatsanwalt in der Anklageschrift vertreten - eine einfache Körperverletzung und Unterlassung der Nothilfe sowie eventuell eine Gefährdung des Lebens und ein Angriff, ist eine rechtliche Würdigung, an welche das Obergericht nicht gebunden war.

Der Beschwerdeführer macht nicht geltend, und es ist auch nicht ersichtlich, dass der Vorwurf der versuchten schweren Körperverletzung zum Nachteil von B. für ihn überraschend gekommen sei und das Obergericht seinen Anspruch auf rechtliches Gehör und seine Verteidigungsrechte verletzt habe. Angesichts der gleichzeitigen Anklage wegen versuchter Tötung zum Nachteilvon A. musste der Beschwerdeführer auch in Bezug auf das andere Opfer mit einer schwereren rechtlichen Qualifizierung der Tat rechnen, und er hatte jedenfalls im obergerichtlichen Verfahren Gelegenheit, zu diesem Vorwurf Stellung zu nehmen. Da die Anklage auch den für die subjektiven Kriterien des Tatbestandes der versuchten schweren Körperverletzung massgebenden Sachverhalt enthält (dazu angefochtenes Urteil, S. 28), verletzt der angefochtene Entscheid den Anklagegrundsatz und damit die verfassungsmässigen Rechte des Beschwerdeführers nicht. Die subjektiven Tatbestandselemente lassen sich in vorliegendem Fall allein aus den äusseren Tatumständen herleiten, weshalb es unter dem Gesichtspunkt des Anklagegrundsatzes nicht zu beanstanden ist, dass die Anklageschrift sich nicht ausdrücklich dazu äussert, was der Beschwerdeführer wollte und was er in Kauf nahm (E. 4.3).

Natürlich ist das Obergericht nicht an die rechtliche Würdigung der Anklage gebunden. Man wüsste ja aber als Beschuldigter oder Verteidiger schon gern auch, gegen welche rechtliche Würdigung man sich denn verteidigen soll. Bemerkenswert erscheint auch die Feststellung des Bundesgerichts, die subjektiven Tatbestandselemente liessen sich allein aus den äusseren Tatumständen herleiten.

Mittwoch, März 07, 2007

SAirGroup: Die Politik meldet sich erneut

Während in Bülach die letzten Plädoyers der Verteidiger gehört werden, gelangt die Geschäftsprüfungskommission des Ständerats an die Medien. Im Zusammenhang mit den Zahlungen der SAirGroup an Sabena hörte sie bekanntlich die (a.) Bundesräte Leuenberger und Deiss an (s. meinen früheren Beitrag) und liess gestern nun folgendes mitteilen:
Die GPK-S ist zum Schluss gekommen, dass die betroffenen Bundesräte weder Einfluss auf den Verwaltungsrat der SAirGroup nahmen noch sonst wie ihren Kompetenzrahmen überschritten. Das Gespräch vom 2. Februar 2001 zwischen dem damaligen Verwaltungsratspräsidenten der SAirGroup und den beiden Bundesräten umfasste keine neuen wesentlichen Fakten, die eine Entscheidung des Verwaltungsrates der SAirGoup über die fragliche Zahlung hätte beeinflussen können. Folge dessen sieht die GPK-S keinen weiteren Handlungsbedarf in dieser Angelegenheit.
Honegger hat das Gespräch sicher einfach falsch verstanden und die beiden Bundesräte hatten ja bestimmt auch keine Meinung zu den Zahlungen noch zu sonst was. Und das Timing der Medienmitteilung war sicher rein zufällig.

Montag, März 05, 2007

SAirGroup-Strafprozess: Mehrere Millionen Verfahrenskosten

Gemäss einem Beitrag des Tages-Anzeiger kostet der SAirGroup Strafprozess mehrere Millionen Franken:
Der Leiter der auf Wirtschaftsdelikte spezialisierten Staatsanwaltschaft III des Kantons Zürich, Christian Weber, veranschlagt alleine die externen Kosten für das Verfahren auf vier bis fünf Millionen Franken.

Externe Kosten von vier bis fünf Millionen? Auf eine Million mehr oder weniger kommt es offenbar nicht an, v.a. wenn man - im Gegensatz zu SAirGroup - ohnehin über nahezu unbeschränkte Mittel verfügt. Staatsanwälte haben das Privileg, das zu tun, was sie den Beschuldigten vorwerfen. Im Gegensatz zu diesen obliegen ihnen keine finanziellen Verpflichtungen, die sie verletzen könnten.

Freitag, März 02, 2007

Ballast am Bundesgericht

Klickt man sich durch die heute online gestellten Urteile des Bundesgerichts, erhält man den Eindruck davon, wie viel strafrechtlicher "Ballast" sich in Lausanne ansammelt. Die meisten Entscheide betreffen Laienbeschwerden, auf die das Bundesgericht nicht eintreten konnte:
  • 13.02.2007, 1P.746/2006, Zuständigkeitsfragen, Garantie des Wohnsitzrichters und des verfassungsmässigen Richters, Ausstand
  • 13.02.2007, 1P.754/2006, Zuständigkeitsfragen, Garantie des Wohnsitzrichters und des verfassungsmässigen Richters, Ausstand
  • 13.02.2007, 6S.3/2007, Straftaten , Üble Nachrede
  • 15.02.2007, 1P.24/2007, Strafprozess, Nichteintretensverfügung
  • 15.02.2007, 1P.50/2007, Procédure pénale
  • 16.02.2007, 1P.601/2006, Strafprozess
  • 19.02.2007, 1P.40/2007, Strafprozess, amtliche Verteidigung
  • 19.02.2007, 6B_5/2007, Strafrecht (allgemein), Nichteröffnung einer Strafuntersuchung
  • 19.02.2007, 6S.29/2007, Straftaten, Gewerbsmässiger Betrug etc.
  • 19.02.2007, 6S.72/2007, Straftaten, Beschimpfung; versuchte Nötigung
  • 20.02.2007, 6S.10/2007, Droit pénal (en général), Ordonnance de classement (calomnie)
  • 20.02.2007, 6S.4/2007, Infractions, Violation simple de la LCR
  • 20.02.2007, 6S.543/2006, Droit pénal (en général), Ordonnance de classement (violation du secret de fonction)
  • 20.02.2007, 6S.67/2007, Straftaten, Verletzung von Verkehrsregeln

Donnerstag, März 01, 2007

Unerbittliches Bundesstrafgericht

Ein verfahrensleitender Entscheid des Bundesstrafgerichts im Al-Kaida-Prozess (s. meinen letzten Beitrag) lässt jeden Strafverteidiger wünschen, ja nie (mehr) nach Bellinzona reisen zu müssen. Ich beschränke mich hier darauf, den im Entscheid SK.2006.15 vom 03.01.2007 festgehaltenen Sachverhalt darzustellen:
Am 6. Oktober 2006 wurden die Verteidiger eingeladen, Beweisanträge zu stellen. Mit Verfügung vom 19. Oktober 2006 wurde Bundesstrafrichter G. zum Vorsitzenden bestimmt. Der Vorsitzende bestimmte mit Verfügung vom 9. November 2006 Französisch als Verhandlungssprache, verlängerte die Frist für Beweiseingaben bis 30. November 2006 und legte den Beginn der Hauptverhandlung auf den 22. Januar 2007 fest. Ein Verschiebungsgesuch von Rechtsanwalt Lattion wies der Vorsitzende am 16. November 2006 ab; gleichzeitig bezeichnete er den 26. Januar 2007 als letzten Verhandlungstag und wies auf das Recht zur Substitution hin. Die Rechtsanwälte Frei, Vogelsang, Luginbühl und Wiedler Friedmann ersuchten am 20., 22. respektive 24. November 2006 um Verschiebung auf die Wochen vom 12. bis 16. oder 26. bis 30. März 2007, während welcher Zeit alle Verteidiger abkömmlich seien. Diese Anträge lehnte der Vorsitzende mit Schreiben vom 21., 22., 23. und 27. November 2006 ab. Rechtsanwalt Frei erneuerte sein Verschiebungsbegehren am 30. November und 11. Dezember 2006, während Rechtsanwalt Kunz am 30. November 2006 ein eigenes stellte. Sie wurden mit der Beweisverfügung vom 11. Dezember 2006 respektive mit Brief vom 12. Dezember 2006 durch den Vorsitzenden abschlägig beschieden (E. B.).
Straffe Prozessführung! Aber will man es der Strafkammer verargen, endlich wieder einmal eine Hauptverhandlung durchzuführen?

Verwertbarkeit von Privatgutachten

Das Bundesgericht hat sich in einem heute online gestellten Urteil (6S.511/2006 vom 09.02.2006) erneut mit der Frage der Verwertbarkeit von Privatgutachten auseinander gesetzt, die Frage letztlich aber offen gelassen. Es dürfte eine Frage der Zeit sein, bis die Praxis nach BGE 113 IV 1 geändert wird. Die Bedenken des Bundesgerichts im Zusammenhang mit Privatgutachten überzeugen:
Ein Parteigutachten besitzt nicht den gleichen Stellenwert wie ein Gutachten, das vom Gericht nach dem vorgegebenen Verfahrensrecht eingeholt wurde. Der Privatgutachter ist nicht unabhängig und unparteiisch wie der amtliche Sachverständige, sondern er ist Beauftragter des Angeschuldigten, mithin einer Partei. Die Ergebnisse von Privatgutachten, welche im Auftrag des Beschuldigten erstellt worden sind, gelten denn auch als Bestandteil der Parteivorbringen (...). Zwar ist nicht ausgeschlossen, dass das Gericht in der Lage ist, entsprechend den Richtlinien zur Beweiswürdigung zu prüfen, ob das private Gutachten in rechtserheblichen Fragen überzeugt (vgl. BGE 125 V 351 E. 3c). Es besteht jedoch die Gefahr, dass der Richter ein qualitativ ungenügendes Gutachtennicht richtig würdigen kann, weil ihm das entsprechende Fachwissen fehlt. Privatgutachterliche Schlussfolgerungen, die dem Anliegen des Auftraggebenden angepasst sind, können vom Laien oft nur schwer auf ihre Zuverlässigkeit überprüft werden. Dies gilt namentlich, wenn sie auf einer unvollständigen Grundlage beruhen. Zu erkennen, welche Elemente für ein Gutachten, das den geltenden wissenschaftlichen Anforderungen genügt, im Einzelnen notwendig sind, erfordert in der Regel ein Fachwissen, das dem Richter eben gerade fehlt. Er ist auf ein Gutachten angewiesen, welches lege artis erstellt wurde, wenn er in der Lage sein soll, dessen Überzeugungskraft zu überprüfen. Das Bundesgericht hat deshalb in einem unveröffentlichen Entscheid festgehalten, dass ein Parteigutachten grundsätzlich bloss geeignet ist, die Erstellung eines (zusätzlichen) Gerichtsgutachtens zu rechtfertigen oder darzulegen, dass das Gerichtsgutachten nicht schlüssig oder mangelhaft ist. Das Abstellen auf ein Privatgutachten würde sich daher grundsätzlich als willkürlich erweisen (Urteil des Bundesgerichts 6P.158/1998 vom 11. Februar 1999, E. 3b, zitiert in: Felix Bommer, Basler Kommentar, Strafgesetzbuch I,N 15 zu Art. 13 StGB) (E. 2.4.3).
Diese Ausführungen lassen sich jedenfalls teilweise auch auf andere Beweismittel übertragen, die ausserhalb eines Verfahrens erhoben wurden. Grundsätzlich sollte nur auf justizförmig und damit in nachvollziehbarer Weise erhobene Beweismittel abgestellt werden.