Donnerstag, Juni 29, 2006

Weniger Strafanzeigen in der Schweiz

Das Bundesamt für Polizei (fedpol) hat heute die Polizeiliche Kriminalstatisktik 2005 und die Betäubungsmittelstatistik 2005 veröffentlicht. Der Medienmitteilung ist zu entnehmen, dass gegenüber dem Vorjahr ein Rückgang der polizeilich registrierten Straftaten um 10.5% zu verzeichnen ist.

Dieses für die zumindest für die Polizei besorgniserregende Ergebnis wird dann allerdings gleich wieder korrigiert:
Fedpol weist erneut darauf hin, dass die Statistiken mit methodischen Mängeln behaftet sind. Die vorliegenden Zahlen sind demnach lediglich als Indikatoren und - über mehrere Jahre betrachtet - als Basis für Trendaussagen zu bewerten.
Deshalb sei nun beschlossen worden, das Konzept der Kriminalstatistik umfassend zu revidieren. Neue, verlässliche Zahlen seien ab 2010 verfügbar.

Guantanamo-Tribunale unrechtmässig

Der U.S. Supreme Court hat in Hamdan v. Rumsfeld (s. meinen früheren Beitrag) die Unrechtmässigkeit der Militärtribunale festgestellt. Erste Berichte darüber finden sich unter folgenden Links:

Entscheid: USSC No. 05–184, Hamdan v. Rumsfeld vom 29.06.2006

Hamdan v. Rumsfeld Website mit media files

Lyle Denniston und Marty Ledermann

NZZ

Verdeckte Ermittlungen in Chatrooms

Das Schweizer Fernsehen hat gestern in 10 vor 10 über die Ermittlungen der Kantonspolizei Zürich in Chatrooms berichtet. Die Fahnder loggen sich in Chatrooms für Jugendliche ein, geben sich als minderjährige Mädchen aus und locken potentielle Täter an, die dann verfolgt werden. Das Bezirksgericht Zürich hat nun einen dieser potentiellen Täter freigesprochen, weil die verdeckte Ermittlung nicht richterlich bewilligt worden sei. Die Polizei bestreitet, dass überhaupt eine verdeckte Ermittlung vorliege und dass das BVE anwendbar sei. Sie verlangt eine Nachbesserung des BVE.

Wesentlich einfacher wäre es doch, die Ermittlungen einfach bewilligen zu lassen, was ja nicht schwierig ist. Die Polizei scheint es einfach nicht zu mögen, ihre Tätigkeit unter richterlicher Kontrolle ausüben zu müssen.

Die Forderungen der Polizei zeugen auch von einem merkwürdigen Staatsverständnis. Die Polizei setzt sich über die Regeln des Gesetzgebers hinweg und leitet daraus dann auch noch den Anspruch ab, die verletzen Regeln müssten halt geändert werden. Eine solche Mentalität kann nur entstehen, wenn man der Polizei Regelverstösse regelmässig durchgehen lässt und sie praktisch nie ahndet.

Nichtige Restakten am Eidg. Untersuchungsrichteramt

Einem Entscheid der Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts ist wahrlich skurriles zu entnehmen. Dem Entscheid vom 6. Juni 2006 (BK.2006.4) liegt das Bemühen eines Beschuldigten zu Grunde, nach der Einstellung des Verfahrens gegen ihn eine Entschädigung zu beanspruchen. Dabei musste er erfahren, dass das Verfahren noch gar nicht eingestellt ist.

Zunächst stellte sich das Problem, dass die Einstellungsverfügung nicht bei den Akten war:
Da die Einstellungsverfügung nach wie vor nicht in den Akten des Untersuchungsrichteramtes enthalten war, zog die Beschwerdekammer über diesen Umstand beim Untersuchungsrichteramt Erkundigungen ein. Hierauf stellte das Untersuchungsrichteramt der Beschwerdekammer am 5. Mai 2006 das Original der erwähnten Einstellungsverfügung mit der Bemerkung zu, die Verfügung hätte sich noch bei den Restakten der ehemaligen – für den Fall zuständigen – Untersuchungsrichterin befunden.
Dann stellte sich heraus, dass die Einstellungsverfügung vordatiert war:
Aus den übermittelten Belegen ist ersichtlich, dass die vom 31. März 2004 datierende Einstellungsverfügung am 16. April 2004 erstellt wurde (act. 13 und 14).
Fragt man sich, weshalb die Untersuchungsrichterin die Einstellungsverfügung vordatiert, stösst man auf den Umstand, dass am 1. April 2005 die Kompetenz zur Einstellung eines Verfahrens vom Untersuchungsrichteramt auf die Bundesanwaltschaft überging. Dies wiederum führte dazu, dass die Einstellungsverfügung als nichtig qualifiziert wurde mit folgender Konsequenz:
Es wird nun der Gesuchsgegnerin obliegen, die Untersuchung formell einzustellen und sich insbesondere über die Verfahrenskosten im Sinne von Art. 246bis BStP auszusprechen. Der Gesuchsteller wird hernach erneut an die Beschwerdekammer gelangen und eine Entschädigung verlangen können.
Und was ist nun mit der (ehemaligen) Untersuchungsrichterin? Entlassen mit sieben Monatslöhnen wurde sie ja nicht aus diesem Grund, oder etwa doch (s. dazu meinen früheren Beitrag)?

Mittwoch, Juni 28, 2006

Mordfall Unterseen - Urteil bestätigt

Das Bundesgericht hat das Urteil des Berner Obergerichts im "Mordfall Unterseen" (vgl. dazu die früheren Beiträge der NZZ hier und hier) gegen eine staatsrechtliche Beschwerde der Täter geschützt (Urteil 1P.787/2005 vom 06.06.2006). Diese hatten so ziemlich alles beanstandet, was gegen ein psychiatrisches Gutachten und gegen die Gutachter selbst mit staatsrechtlicher Beschwerde gerügt werden kann. Eine Zusammenfassung des Urteils stellt die NZZ hier bereit.

Dienstag, Juni 27, 2006

Update: Angriffe auf das Anwaltsgeheimnis in den USA

Mangels neuer Entscheide des Bundesgerichts weiche ich wieder mal in die USA aus, wo heftige Debatten um das Anwaltsgeheimnis und auf andere Beschränkungen der Verteidigunsrechte geführt werden.

In einem aufsehenerregenden Entscheid haben die Beschuldigten im KPMG-Verfahren einen wichtigen Teilsieg zu verzeichnen. Das Verbot, dass ein Arbeitgeber die Verteidigungskosten seiner Angestellten übernimmt, wird von einem Bundesrichter als verfassungswidrig erklärt. Den Entscheid finden sie hier. Er enthält Erwägungen, die durchaus auch hierzulande in Erinnerung zu rufen sind:
As a unanimous Supreme Court wrote long ago, the interest of the government "in a criminal prosecution is not that it shall win a case, but that justice shall be done." Justice is not done when the government use the threat of indictment – a matter of life and death to many companies and therefore a matter that threatens the jobs and security of blameless employees – to coerce companies into depriving their present and even former employees of the means of defending themselves against criminal charges in a court of law. If those whom the government suspects are culpable in fact are guilty, they should pay the price. But the determination of guilt or innocence must be made fairly – not in a proceeding in which the government has obtained an unfair advantage long before the trial even has begun.
Zu diesem und zu verwandten Themen s. auch meinen früheren Beitrag und die aktuellen Kommentare bei White Collar Crime Prof Blog oder im Wall Street Journal Law Blog.

Sonntag, Juni 25, 2006

Datenschutz c. Staatsschutz

Das Vorhaben der Polizei, die Besteller von Tickets für die Rütlifeier einer Staatsschutzüberprüfung zu unterziehen, ist gemäss SonntagsZeitung gesetzeswidrig. Zu einem anderen Ergebnis war offenbar der Chef des DAP gekommen, der offenbar kein Problem darin gesehen hatte, dem privaten Veranstalter der Rütlifeier indirekt ISIS-Daten (vgl. dazu die ISIS-Verordnung) zur Verfügung zu stellen.

Der Präsident der Rechtskomission des NR lässt sich wie folgt zitieren:
Das Vorgehen von DAP und Polizei ist skandalös. Herr von Daeniken braucht offensichtlich Nachhilfeunterricht im Datenschutzrecht.
Dass alles, was aus dem DAP kommt, mit Vorsicht zu geniessen ist, ist längst bekannt. Es braucht also nicht länger Kraftausdrücke, sondern Taten.

Samstag, Juni 24, 2006

Update 5: Staatsanwälte unter Druck

Gemäss einem heute erschienenen Bericht des Tagesanzeiger stellt sich der Bundesanwalt immer mehr ins Abseits, was jedoch an seiner eher grosszügigen Selbsteinschätzung nichts ändert. Zu seinem Verhältnis zum Justizminister wird Roschacher wie folgt zitiert:
Man sei sich nur «sachlich» nicht einig, wie die Aufsicht über die Bundesstrafverfolgung zu regeln sei. Solche Fragen gehe man konstruktiv an, «wie sich das unter Magistraten gebührt» [Hervorhebung duch mich].
Der Tagi erklärt dem Bundesanwalt (der breiten Leserschaft war dies ja sicher bekannt), dass Staatsanwälte eigentich nicht zu den Magistraten gezählt werden. Hätte er das bloss schon gewusst, als er für das Amt kandidierte ...

Donnerstag, Juni 22, 2006

Anklageprinzip verletzt

Gemäss einem heute online gestellten Urteil des Bundesgerichts (6P.1/2006 vom 09.06.2006) hat das Obergericht des Kantons Zürich das Anklageprinzip verletzt, indem es den Beschuldigten wegen einer Unterlassung verurteilt hat, obwohl ihm ein aktives Tun vorgeworfen worden war:
In der Anklageschrift wird dem Beschwerdeführer vorgeworfen, dass er das fragliche Werbeplakat "aufstellen liess" und dass er dies "veranlasste" im Wissen darum, dass für den genannten Preis nicht die abgebildeten, sondern weniger leistungsfähige Gegenstände erhältlich waren. Damit wird dem Beschwerdeführer ein Tun vorgeworfen. Die Umschreibung des Anklagesachverhalts kann vernünftigerweise nicht etwa auch in dem Sinne verstanden werden, dass der Beschwerdeführer die Aufstellung des irreführenden Werbeplakats zugelassen, d.h. nicht verhindert habe (E. 1.4.1).

Mittwoch, Juni 21, 2006

Standespolizei Bern?

In Burgdorf wurde die Familie Brünisholz angeblich von einer Horde Neonazis verprügelt. Anlässlich der gestrigen Medienkonferenz haben die Strafverfolgungsbehörden erhebliche Zweifel an einem rechtsradikalen Hintergrund der Tat geäussert und damit die Kritik des Anwalts der Familie auf sich gezogen. Dieser wirft den Strafverfolgern "erhebliche Verfahrensfehler" vor. Wie die Polizei darauf reagiert, ist in einem online nicht verfügbaren Artikel des Solothurner Tagblatts zu entnehmen. Gemäss dem stellvertretenden Pressechef der Kantonspolizei ist
"das Vorprellen des Anwalts mit selektiven Zitaten aus den Akten eines hängigen Verfahrens klar standeswidrig." Die Kantonspolizei Bern prüfe, "wie solchem Verhalten begegnet respektive Einhalt geboten werden kann". Möglicherweise müsse die Anwaltskammer mit [dem Vorgehen des Anwalts] beschäftigen, "da solche Aussagen des Verteidigers geeignet seien, den Ruf der Kantonspolizei zu schädigen."
Irgendwie rührend, wie sich die Kapo Bern nun auch noch ums Standesrecht kümmert. Wir dürfen auf die Reaktion der Anwaltskammer gespannt sein.

Ausschluss einer Verteidigerin

HRRS weist auf einen Beschluss des BGH vom 24. Mai 2006 hin (BGH 2 ARs 199/06 / 2 AR 102/06). Für einen Kurzüberblick eignet sich auch die Pressemitteilung des BGH.

Der Beschluss äussert sich zunächst zur Stellung des Verteidigers und zu den Grenzen seiner Tätigkeit:
Die Stellung als Verteidiger in einem Strafprozess und das damit verbundene Spannungsverhältnis zwischen Organstellung und Beistandsfunktion macht eine besondere Abgrenzung zwischen erlaubtem und unerlaubtem Verhalten in Bezug auf den Straftatbestand der Strafvereitelung, § 258 StGB, erforderlich (vgl. BGHSt 38, 345, 347 ff.). Hierbei wird im Zweifel davon auszugehen sein, dass es sich um wirksame Verteidigung handelt (vgl. BGHSt 46, 36, 46). Die Grenzen zulässigen Verteidigungsverhaltens ergeben sich dabei nicht unmittelbar aus § 258 StGB selbst, vielmehr verweist die Vorschrift auf die Regelungen des Prozessrechts. Danach darf der Verteidiger grundsätzlich alles tun, was in gesetzlich nicht zu beanstandender Weise seinem Mandanten nützt. Die Achtung der rechtsstaatlich notwendigen effektiven Strafverteidigung - auch im Blick auf Art. 12 GG - gebietet erhebliche Zurückhaltung bei gerichtlicher Inhaltskontrolle von Verteidigerverhalten; dies muss gerade auch für die Abgrenzung von erlaubtem und unerlaubtem Verteidigerverhalten gelten (vgl. 9 BGHSt 47, 278, 282; Hervorhebungen durch mich).
Für den vorliegenden Fall war aber entscheidend, dass der ausgeschlossenen Verteidigerin verteidigungsfremdes Verhalten vorzuwerfen war:
Ein Fall effektiver Strafverteidigung liegt nicht vor, wenn die zu beurteilenden Handlungen eines Verteidigers sich als verteidigungsfremdes Verhalten erweisen, die sich nur den äußeren Anschein der Verteidigung geben, tatsächlich aber nach den Maßstäben des Strafverfahrensrechts und des materiellen Strafrechts nichts zu solcher beizutragen vermögen (vgl. BGHSt 46, 36, 45). Liegt - wie hier - zum Beispiel ein Leugnen des gesamten Holocaust vor, drängt sich die Annahme verteidigungsfremden Verhaltens bei Äußerungen auch im Rahmen von Beweisanträgen oder sonstigen Prozesserklärungen auf, da diese zur Sachaufklärung oder rechtlichen Beurteilung im konkreten Verfahren unter keinem denkbaren Gesichtspunkt etwas beizutragen vermögen (vgl. BGHSt 47, 278, 283).
Für schweizerische Rechtsaussfassung zu weit geht dann aber folgende Feststellung des BGH, welche wohl auf die in Deutschland herrschende Organtheorie zurückzuführen ist:
Durch ihr Verhalten in der Hauptverhandlung ist sie zumindest hinreichend verdächtig, in strafbarer Weise unmittelbar dazu angesetzt zu haben, das Verfahren gegen den Angeklagten für geraume Zeit zu verzögern oder gar einen Abschluss endgültig zu vereiteln, wobei die Art und Weise ihrer Handlungen gerade auch die subjektive Seite belegen.

Beschwerde als Beweis der Renitenz?

Was man so alles gegen die Beschlagnahme und die Verwertung von Fahzeugen geltend machen kann, zeit ein heute online gestelltes Urteil des Bundesgerichts (BGE 1P.17/2006 vom 30.05.2006).

Mindestens über die folgende Erwägung des Bundesgerichts dürfte sich der Beschwerdeführer mit Recht ärgern. Er machte nämlich geltend, es sei ihm keine Möglichkeit gegeben worden, die beschlagnahmten Fahrzeuge freiwillig herauszugeben, was aber "formelle Voraussetzung für eine gültige Beschlagnahme" darstelle. Dem stellte das Obergericht entgegen, die vorgängige Herausgabeaufforderung hätte sowieso nichts gebracht. Dazu das Bundesgericht:
Die Beschwerde ist auch insoweit unbegründet. Wenn sich der Beschwerdeführer im vorliegenden Verfahren gegen die Beschlagnahme und Verwertung der Fahrzeuge richtet, ist es nicht willkürlich, wenn das Obergericht daraus geschlossen hat, der Beschwerdeführer hätte die Fahrzeuge ohnehin nicht freiwillig herausgegeben (E. 2.10).

Dienstag, Juni 20, 2006

Update: Hudson v. Michigan

Zu Hudson v. Michigan (s. meinen früheren Beitrag) liegt das Urteil vor. Für einen raschen Überblick empfehle ich den Beitrag auf SCOTUSblog.

Panoptikum

Ein wunderbarer kleiner Beitrag von "Akte: Surveillance" über Jeremy Bentham's Panoptikum.

Gesetzliche Grundlage für Strafmediation?

Der Kantonsrat des Kantons Zürich wird die gesetzliche Verankerung der Strafmediation neu diskutieren (s. dazu den Beitrag der NZZ).

Der Staatsanwalt am Geldhahn des Verteidigers

In einem wenig sorfgältig begründeten Entscheid vom 24.04.2006 (BB.2006.2) hat das Bundesstrafgericht die Beschwerde eines amtlichen Verteidigers zurückgewiesen, der bei der Bundesanwaltschaft erfolglos die Entschädigung seiner bisher geleisteten Aufwendungen (CHF 19,494.45) bzw. eine Akontozahlung beantragt hatte. Aus dem Entscheid:
Die Zusprechung einer Akontozahlung ist eine rein vorläufige, Billigkeitsüberlegungen entspringende Massnahme, die nicht gesetzlich geregelt ist. Der effektive Entscheid über die Festsetzung und die Höhe des Honorars des amtlichen Verteidigers erfolgt erst bei Verfahrensabschluss. Es besteht in einem nicht abgeschlossenen Verfahren weder ein Rechtsanspruch des amtlichen Verteidigers auf Honorarzahlung für seine bisher erbrachten Aufwendungen noch ein solcher auf Leistung einer Akontozahlung (E. 1.3).

Durch die nicht erfolgte Honorarfestsetzung ist der Beschwerdeführer daher nicht im Rechtssinne beschwert, womit keine genügende Beschwerdelegitimation vorliegt; das Gleiche gilt hinsichtlich seines Eventualantrags auf Leistung einer Akontozahlung. Diese wurde von der Beschwerdegegnerin im Übrigen bloss „zurzeit“ verweigert (E. 1.4).
In der Folge hat die Beschwerdekammer noch angefügt, es habe anlässlich einer Koordinationssitzung Bundesstrafgericht, Bundesanwaltschaft und Untersuchungsrichteramt vom 5. Dezember 2005 eine Weisung betreffend Verteidigungs-, Kosten- und Vollzugsfragen vom 27. September 2005 erlassen, wonach
grundsätzlich auf allen Stufen des Bundesstrafverfahrens auf entsprechendes Gesuch hin eine Akontozahlung an den amtlichen Verteidiger nach jeweils einem Jahr oder bei Aufwendungen von CHF 10,000.00 (Honorar und Auslagen) zulässig
sei. Die Voraussetzungen waren damit im vorliegenden Fall erfüllt, aber eben: keine Beschwer im Rechtssinn, da kein Rechtsanspruch.

Warum kein Anspruch bestehen soll, begründet die Beschwerdekammer freilich nicht (dazu gäbe es Literatur und Rechtsprechung). Was an diesem Entscheid besonders ärgert ist, dass es nun offenbar im Ermessen der Bundesanwaltschaft sein soll, Akontozahlungen an amtliche Verteidiger zu leisten, was als unerträglich erscheint und gegen die Waffengleichheit verstösst. Ich wage zu behaupten, dass so nicht primär die "unbequemen" Verteidiger berücksichtigt werden.

Wesentlich einsichtiger ist hier etwa das Obergericht des Kantons Solothurn (SOG 2002 Nr. 15), das insbesondere die Vorfinanzierungskosten berücksichtigt:
Die Entschädigung des amtlichen Verteidigers erfolgt zu einem Ansatz, welcher in nicht unerheblichem Masse unter jenem des Anwaltstarifes liegt. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint es als Zumutung, ihn in lange dauernden Verfahren auf sein Honorar warten zu lassen, welches ein beträchtliches Ausmass erreichen kann, was wiederum zu namhaften Vorfinanzierungskosten führt. Die solothurnische Gesetzgebung spricht sich jedenfalls nicht gegen solche Zahlungen aus und es ergibt sich aus ihr auch nicht, dass der Untersuchungsrichter nicht über solche Zahlungen entscheiden kann.
Schwer verständlich ist auch, dass zwischen Bundesstrafgericht, Staatsanwaltschaft und Untersuchungsrichteramt Koordinationssitzungen abgehalten werden, an denen Weisungen über Honorarfragen erlassen werden. Dies zeigt einmal mehr, dass das bisherige System falsch sein muss. Oder hat noch irgend jemand das Gefühl, ein Gericht, das mit nur einer Partei (Bundesanwaltschaft) über das Honorar der anderen Partei (der amtliche Verteidiger ist zwar gemäss dem hier zitierten Entscheid nicht Partei) verhandelt, sei unabhängig?

Montag, Juni 19, 2006

"aus objektiver Sicht keine erheblichen Zweifel"

In einem online verfügbaren Entscheid (BGE 1P.753/2005 vom 20.04.2006) hat das Bundesgericht eine staatsrechtliche Beschwerde eines Asylanten offenbar nur knapp abgewiesen. Darauf deutet nicht nur die ausserordentlich lange Verfahrensdauer hin, es lässt sich auch aus den wenig zwingenden Erwägungen erahnen:

Es ist daher nicht haltlos, die häufigen Telefonkontakte weitgehend dem Beschwerdeführer zuzuordnen und als Indiz für eine Drogentätigkeit zu werten. Die Rüge der willkürlichen Beweiswürdigung ist in diesem Punkt unbegründet (E. 1.3.3).

Vor allem aber gab er zu, insgesamt circa zwei bis zweieinhalb Kilogramm Kokain selbst verkauft zu haben, wobei er lediglich 800 Gramm in Zürich und in Dulliken ein Kilogramm oder mehr bezogen habe. Durch die Selbstbelastung erhält diese Aussage zusätzliches Gewicht (E. 1.4.3).

Dass Y. bei der Konfrontationseinvernahme angab, den Beschwerdeführer nicht zu kennen, und diese Aussage vor der ersten Instanz wiederholte, passt durchaus zu seinem grundsätzlichen Aussageverhalten, käme doch die direkte Bezeichnung der Person des Beschwerdeführers einer Namensnennung gleich. Die Schlussfolgerung des Obergerichts, das bestreitende Verhalten von Y. bei der Konfrontationseinvernahme sei unglaubwürdig, ist demnach vertretbar (E. 1.5.3).

Dagegen stellte Y. vor Amtsgericht in Abrede, dass der Beschwerdeführer bei der Konfrontationseinvernahme gestottert habe. Das Obergericht ging davon aus, dass es sich dabei um eine Falschaussage handelte, die darauf schliessen lasse, dass auch die Aussage Y. anlässlich der Konfrontationseinvernahme, den Beschwerdeführer nicht zukennen, falsch sei. In Anbetracht der Zeugenaussage des Untersuchungsrichters ist die Schlussfolgerung des Obergerichts nachvollziehbar (E. 1.5.3).

Nach dem oben Gesagten und in Anbetracht des grossen Ermessensspielraums des Obergerichts ist das vorliegende Beweisergebnis insgesamt vertretbar. Anhaltspunkte dafür, dass das Obergericht bloss auf die für den Beschwerdeführer ungünstigen Zeugenaussagen abgestellt und entlastende Aussagen generell als unwahr abgetan hätte, sind nicht ersichtlich. Daran vermögen auch die Vorbringen des Beschwerdeführers nichts zu ändern (E. 1.6).

Angesichts dieser Beweislage drängen sich aus objektiver Sicht keine erheblichen Zweifel daran auf, dass sich der Sachverhalt so zugetragen hat, wie er der Schlussverfügung zugrunde liegt (E. 2.3).

Weil's so schön war ...

... hat ein Opferanwalt nach seinem erst kürzlich erwirkten Entscheid (s. meinen früheren Beitrag) gleich nochmals vom Bundesgericht (BGE 1A.38/2006 vom 31.05.2006) feststellen lassen, dass zwischen Straftat und Vorschusszahlung kein enger zeitlicher Zusammenhang bestehen muss.

Auch hier stellte sich im Übrigen die Frage, ob ein Zwischenentscheid und damit die verkürzte Beschwerdefrist vorliege. Erneut wurde der Beschwerdeführer dank der falschen Rechtsmittelbelehrung geschützt. Dabei ist allerdings zu beachten, dass der hier angefochtene Entscheid vor demjenigen des Bundesgerichts in meinem früheren Beitrag ergangen war.

Mittwoch, Juni 14, 2006

Rolf who?

Rolf Lüthi ist mit der Durchführung einer Administrativuntersuchung zur Tätigkeit der Bundesanwaltschaft beauftragt worden. Dies berichtet die NZZ.

Mit der fachlichen Untersuchung hat das Bundesstrafgericht die beiden Richter Bernard Bertossa und Andreas J. Keller beauftragt. Die beiden Bundesstrafrichter werden allerdings bereits angeschossen, weil sie mit dem Fall Holenweger befasst gewesen sein sollen. Bei Keller ist das wohl nicht ganz falsch, aber auch nicht weiter problematisch. Bei Bertossa weiss ich es nicht.

Die parlamentarische Begleitung (ich fasse es noch immer nicht) übernimmt eine Subkommission der GPK der beiden Räte. Sie besteht gemäss NZZ neben Lucrezia Meier-Schatz aus Brigitte Häberli, Toni Brunner, Max Binder, Jean- Paul Glasson, Edith Graf-Litscher sowie aus Geri Müller.

Für die dritte Untersuchung, die eigentlich die erste ist, hatte der Justizminister bereits früher dem Zuger Polizeidirektor Hanspeter Uster den Auftrag erteilt, die Umsetzung der Effizienzvorlage zu überprüfen, mit der das Parlament die Ermittlungskompetenzen und den Personalbestand der Bundesanwaltschaft massiv ausgeweitet hatte. Dies dürfte wohl die spannendste Untersuchung werden.

Anwaltstarif aufgehoben; CHF 150.00 / h verfassungswidrig

Das Bundesgericht hat § 9 Abs. 2 des Anwaltstarifs des Kantons Aargau auf Beschwerde zweier Kollegen hin aufgehoben (BGE 2P.17/2004 vom 06.06.2006). Die aufgehobene Bestimmung lautet wie folgt:
Der Ansatz für unentgeltliche Rechtsvertretung beträgt pauschal Fr. 150.-- pro Stunde.
Nicht als verfassungswidrig hat das Bundesgericht zunächst einen gegenüber der gewillkürten Vertretung reduzierten Stundenansatz qualifiziert:
Allein der Umstand, dass gemäss § 9 Abs. 2 AnwT für Pflichtverteidigungen ein reduzierter Stundenansatz zur Anwendung gelangt, lässt die streitige Dekretsänderung mithin nicht als verfassungswidrig erscheinen (E. 7.3.4).
Weiter hält das Bundesgericht fest, ein Ansatz von CHF 150.00 sei nicht offensichtlich zu niedrig.
Er ist weder mit Blick auf die Verhältnisse in den anderen Kantonen noch aufgrund der einschlägigen Präjudizien offensichtlich zu niedrig (E. 7.5).
Korrigiert hat das Bundesgericht hingegen seine Rechtsprechung, wonach bei amtlichen Mandanten nur Anspruch auf Deckung der Selbstkosten bestehe:
In Anbetracht der stark gewachsenen Zahl der amtlichen Mandate sowie der veränderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen erscheint es stossend, wenn ihnen für diesen Teil ihrer Tätigkeit bloss die eigenen Aufwendungen abgegolten werden. Es ist mit dem Willkürverbot und indirekt auch mit Art. 27 BV nicht mehr vereinbar, als Untergrenze für eine "angemessene Entschädigung" lediglich die Deckung der Selbstkosten vorzuschreiben (E. 8.5).
Diese Erkenntnis hat das Bundesgericht wie folgt konkretisiert:
Gestützt hierauf lässt sich im Sinne einer Faustregel festhalten, dass sich die Entschädigung für einen amtlichen Anwalt im schweizerischen Durchschnitt heute in der Grössenordnung von 180 Franken pro Stunde (zuzüglich Mehrwertsteuer) bewegen muss, um vor der Verfassung stand zu halten, wobei kantonale Unterschiede eine Abweichung nach oben oder unten rechtfertigen können (E. 8.7, Hervorhebungen duch mich).
Dieser Entscheid wird ganz gravierende Folgen für die meisten kantonalen Budgets haben.

Nicht einsichtig bleibt aber nach wie vor, wieso Anwälte als wohl einzige Berufsgruppe zu einem reduzierten Tarif abrechnen müssen, wenn der Staat der Schuldner ist. Dazu werde ich mich bei anderer Gelegenheit nochmals äussern.

Dienstag, Juni 13, 2006

Brandstiftung ja, aber Terrorismus?

NR Oskar Freysinger hat ein Postulat "Gegen eine finanzielle Unterstützung des Terrorismus" eingereicht, das gleich 38 Parlamentarier mitunterzeichnet haben. Aus dem eingereichten Text:
In Reaktion auf die bedauerliche Affäre um Daniel de Roulet, der 31 Jahre nach der Tat zugegeben hat, das Chalet des deutschen Pressemagnaten Axel Springer angezündet und damit einen terroristischen Akt verübt zu haben, wird der Bundesrat gebeten [...]
Ist ein Brandstifter ein Terrorist oder wird er es dann, wenn er das Haus eines Prominenten anzündet?

Das Postulat fodert übrigens vom Bundesrat,
einen Gesetzesentwurf auszuarbeiten, auf dessen Grundlage Rückzahlungen öffentlicher Gelder eingefordert werden können, wenn eine Person nachträglich terroristischer Aktivitäten für schuldig befunden wird.
Ist de Roulet schuldig befunden worden? Bei dieser Gelegenheit könnte der Bundesrat auch gleich eine gesetzliche Grundlage schaffen für die Rückforderung von Sitzungsgeldern für dümmliche parlamentarische Vorstösse, die von 38 Parlamentariern mitunterzeichnet wurden.

Einbruch ja, aber Brandstiftung?

Manchmal sieht man schon der Darstellung des Sachverhalts durch das Bundesgericht an, dass es die Rüge der Verletzung der Unschuldsvermutung abweist. Einen solchen Entscheid hat das Bundesgericht heute online gestellt (BGE 1P.2/2006 vom 19.05.2006):
Kurz nach 2 Uhr des 26. Dezember 1998 drang X. mit Hilfe eines von einem früheren Pächter leihweise erhaltenen und nicht zurückgegebenen Schlüssels unbefugterweise in das damalige Restaurant A. in B. ein, wo er diverse Spiel- und den Zigaretten-Automaten aufbrach und diesen Bargeld entnahm. Anschliessend verliess er das Lokal. Danach brach im Dartraum des Restaurants im Bereiche der Polstermöbel, welche X. in der Absicht etwas zu schlafen zusammengeschoben und wo er gemäss seinen Aussagen auch mit Rauchwaren und Papiertaschentüchern hantiert hatte, ein Brand aus, der um 4 Uhr der Polizei gemeldet wurde und der das Lokal praktisch verwüstete.
Das Bundesgericht tritt auf einige Rügen gar nicht ein und zerpflückt die Argumente zur Unschuldsvermutung, bewilligt aber die unentgeltliche Rechtspflege. Auffallend ist auch, dass der Fall relativ lange Zeit am Bundesgericht hängig war.

War es doch nicht so eindeutig, wie es das Urteil vermuten lässt?

Montag, Juni 12, 2006

Update 2: BWIS I - Null Respekt vor der Verfassung

"Unklar, problematisch, unverhältnismässig", titelt die NZZ ein Interview mit Bruno Baeriswyl zum "Hooligan-Gesetz" (BWIS I). Noch deutlicher als Baeriswyl hat sich Prof. Dr. Markus Schefer geäussert:
Ein Präjudiz für Verfassungsverletzungen
Damit wird meine hier und hier vertretene Auffassung bestätigt, was aber nichts daran ändert, dass das Referendumskomitee zur Aufgabe aufgefordert wird. Was zählt schon die Verfassung ...

Sonntag, Juni 11, 2006

Update 1: Totalüberwachung des Internetverkehrs

Die SonntagsZeitung (Artikel nicht online) setzt die Berichterstattung über die geplante Totalüberwachung (vgl. dazu meinen früheren Beitrag) fort und beklagt sich darüber, dass eine Diskussion darüber unerwünscht sei. Aus dem Artikel der SonntagsZeitung:
In der Vernehmlassung sollen nur Polizeistellen der Kantone und des Bundes sowie Untersuchungsrichter einbezogen werden. Leitende Staatsanwälte grosser Kanton sind bisher nicht informiert.

Update 4: Staatsanwälte unter Druck

Unter dem Titel Gegensteuer im «Fall Roschacher» berichtet die NZZ über Parlamentarier, die vor einer Intrige gegen den Bundesanwalt warnen. Es gebe "gewisse Kreise, die ein Interesse daran haben, die Bundesanwaltschaft zu destabilisieren". Kollege und Nationalrat Urs Hofmann habe
schon zweimal ungefragt Besuch erhalten von Anwälten, die bei ihm gegen die Bundesanwaltschaft lobbyiert hätten. In einem Fall habe es sich um Vertreter einer Firma gehandelt, die offenbar fürchtete, ins Visier des Bundesanwalts zu geraten [mit Verlaub, Herr Kollege, sehr plausibel tönt das nicht].
Die vom Justizminister und dem Bundesstrafgericht zu führenden Untersuchungen sollen daher von einer parlamentarischen Subkommission "eng begleitet" werden. Diese soll garantieren,
dass das Verfahren korrekt und fair abläuft, denn es gilt auch die Institution Bundesanwaltschaft zu schützen.
Wenn Staatsanwälte unter Druck geraten, sorgen sich manche urplötzlich um faire Verfahren. In diesem Fall traut man offenbar nicht mal dem Bundesstrafgericht zu, dafür zu sorgen; und all das nur, weil der Bundesanwalt in einem Interview verklärend andeutete, der Justizminister sei befangen.

Dieses Ablenkungstaktik ist übrigens bestens bekannt. Als vor gut einem Jahr ein solothurnischer Strafverfolger unter Druck geriet, lenkte er die mediale Aufmerksamkeit relativ erfolgreich auf eine angebliche Intrige von Anwälten und griff den kantonalen Justizminister an.

Samstag, Juni 10, 2006

Terrorismus und organisiertes Verbrechen

Der Bundesrat hat seinen Bericht "Effizientere Bekämpfung von Terrorismus und organisiertem Verbrechen" zuhanden der SiK-SR verabschiedet. Die Medienmitteilung findet sich hier.

Inhaltlich zielt der Bericht auf längere Aufbewahrungsfristen für Kommunikationsdaten ab und will mit den fragwürdigen internationalen Entwicklungen, deren Wirksamkeit niemand kennt, gleichziehen. Handlungsbedarf erkennt der Bundesrat auch beim Zeugenschutz (Ramos wird's freuen).

Unter dem Titel Dechiffrierung von Telekommunikationsverbindungen findet sich eine Passage, welche Fragen aufwirft:
Im VBS gibt es eine Gruppe kryptologischer Experten, die einen systematischen produktiven Dekryptierbetrieb unterhält. Diese Gruppe arbeitet eng mit der EKF zusammen. Die Dekryptierung erfolgt fast ausschliesslich zu Gunsten der Aufklärung, in erster Linie für den strategischen Nachrichtendienst SND. Für die Strafverfolgungsbehörden wird gegenwärtig kaum (gezielt) dekryptiert [Hervorhebungen durch mich].
Was genau die VBS-Experten im Bereich der Strafverfolgung genau machen und insebsondere was in diesem Bereich unter "kaum (gezielt)" zu verstehen ist, würde mich interessieren.

Donnerstag, Juni 08, 2006

Update 3: Staatsanwälte unter Druck

Die neusten Informationen sind der heutigen Ausgabe der Weltwoche hier und hier zu entnehmen. Aus den bisherigen Erkenntnissen scheint folgendes als erwiesen:

1. Der Bundesanwalt hat zu verantworten, dass der im Ausland verurteilte ehemalige kolumbianische Drogenhändler Ramon nicht nur passiv als Informant eingesetzt wurde, sondern dass ihm eine durchaus aktive Rolle zugewiesen wurde. Dies ist per se nicht ungesetzlich, jedenfalls solange Ramos nicht als agent provocateur auftrat.

2. Weder das Eidg. Untersuchungsrichteramt noch das Bundesstrafgericht waren über den Einsatz von Ramos orientiert. Es bestehen über den Einsatz von Ramos Geheimakten, die neben den offiziellen Strafakten separat geführt wurden.

Die Erstellung von Geheimakten macht nur Sinn, wenn man die darin enthaltenen Fakten auch der justiziellen Kontrolle entziehen will. Nicht zu Unrecht stellt daher die Weltwoche in Frage, ob der Rechtsstaat in der Schweiz überhaupt noch funktioniert. Die Antwort muss offen bleiben, denn Geheimakten - wenn es sie denn wirklich noch immer gibt - bleiben in aller Regel eben geheim und landen nicht bei einem Journalisten oder einem Strafverteidiger. Letztere ahnen es manchmal, etwa weil der Auslöser des Strafverfahrens nicht ersichtlich ist. Aber beweisen können sie es praktisch nie. Es interessiert in der Regel auch niemanden, denn nicht jeder Fall ist ein Fall Holenweger.

Schweizerische Strafprozessordnung

Nicht mehr topaktuell sind die letzten Informationen aus den Detailberatungen der Kommission für Rechtsfragen des Ständerats über die neue Strafprozessordnung, die der Medienmitteilung vom 31. Mai 2006 zu entnehmen sind:
In ihrem Bestreben, für die Kantone möglichst grossen Handlungsspielraum zu schaffen, beantragt die Kommission, gegenüber dem geltenden Recht die Fälle zu erweitern, in denen die Kantone die Strafverfolgung von einer nicht richterlichen Behörde ermächtigen lassen können (Art. 7). Die Kantone sollen eine solche Ermächtigung bei der Strafverfolgung der Mitglieder aller Vollziehungs- und Gerichtsbehörden vorsehen können, wogegen heute nur die obersten Vollziehungs- und Gerichtsbehörden in den Genuss einer solchen Immunität kommen können.
[Originell. Während der Trend anhält, alles und jedes unter Strafe zu stellen, soll gleichzeitig der Verfolgungszwang gegen Politiker, Beamte und Richter beschränkt werden?]
Die Kommission stimmt auch der Regelung zu, wonach der Bund und die Kantone ein Einzelgericht vorsehen können (Art. 19 Abs. 2). Dieses Gericht soll erstinstanzlich insbesondere Übertretungen sowie Verbrechen und Vergehen, für welche eine höchstens zweijährige Freiheitsstrafe verlangt wird, beurteilen können. Eine Minderheit der Kommission beantragt, diese für die Beurteilung durch ein Einzelgericht ausschlaggebende Höchststrafe auf ein Jahr zu reduzieren
[Die Kantone werden die Kompetenz aus Effizienzgründen ausschöpfen mit dem Ergebnis, dass weniger als 1% aller Strafverfahren durch ein Kollegialgericht
beurteilt werden].
Zur Öffentlichkeit von Urteilen beantragt die Mehrheit der Kommission, dass jede interessierte Person in schriftlich ergangene Urteile Einsicht nehmen kann, wenn die Parteien auf eine öffentliche Urteilsverkündung verzichtet haben, sowie in Strafbefehle (Art. 67). Für eine Minderheit der Kommission sollen solche Urteile nur für Personen einsehbar sein, die ein berechtigtes Interesse geltend machen können.
[Nichts gegen das Öffentlichkeitsprinzips. Aber dass jede interessierte Person in jeden Strafbefehl Einsicht nehmen kann, erscheint als nicht sachgerecht und dürfte die Akzeptanz von Strafbefehlen reduzieren].
Betreffend Bild- und Tonaufnahmen im Gerichtsgebäude beantragt die Kommission schliesslich, ein allgemeines Verbot zu erlassen (Art. 69)
[Der Entwurf wollte dies der Verfahrensleitung überlassen, was faktisch einem Verbot ja gleichkommt].

Mittwoch, Juni 07, 2006

Update 1: Unabhängige Staatsanwaltschaft?

In einem Interview im Solothurner Tagblatt (online offenbar nicht verfügbar), erklärt Kollege Christoph Mettler trotz zwei Patzern, warum die Vorlage des Bundesrats (einheitliche Aufsicht) richtig sein muss:
Denn es kommt letztlich einer Verletzung des Gewaltentrennungsverbotes [recte: Gewaltentrennungsgrundsatzes]gleich, wenn das Bundesstrafgericht mit Anweisungen in die Voruntersuchungen der Bundesanwaltschaft [diese führt nicht die Bundesanwaltschaft] eingreifen würde und dann später in der Gerichtsverhandlung darüber urteilt.
Genau hier liegt der Punkt, auch wenn die Bundesanwaltschaft nicht die Voruntersuchung leitet, sondern mit Hilfe der Bundeskriminalpolizei die Ermittlungen führt und nach der Voruntersuchung Anklage erhebt. Letztlich kommt es auf dasselbe heraus, weil die Bundesanwaltschaft ja dann auch die Anklage vor Bundesstrafgericht vertritt. Es führt kein Weg daran vorbei, dass die Vorlage des Bundesrats mit einer einheitlichen Aufsicht unter dem EJPD richtig ist.

Frau Kollegin Leuthard möchte sich in einem ihrer seltenen Positionsbezüge auch für die Gewaltentrennung stark machen (schliesslich machen das ja auch alle anderen). Weil sie das Prinzip aber offenbar gar nicht versteht, verletzt und schwächt sie es vielmehr. Der Tagesanzeiger zitiert sie wie folgt:
Doch beim anstehenden Entscheid, ob die Bundesanwaltschaft dem Justizminister, den Gerichten oder dem Parlament zu unterstellen sei, plädiere sie als Juristin für «ganz konsequente Gewaltenteilung» [...]. Laut Leuthard ist eine «Vermischung von Justizaufgaben mit der Politik» und deren «Einmischung in Dossiers und Vorgehensweisen» des Bundesanwalts «sehr gefährlich» für den Rechtsstaat und die Unabhängigkeit der Justiz.
Nur gut, dass sie das ausdrücklich "als Juristin" gesagt hat. Wir Juristen geniessen da ja im Gegensatz etwa zu den Politikern eine gewisse Narrenfreiheit.

Aller guten Dinge

Nach einem heute online gestellten Urteil des Bundesgerichts (BGE 6S.52/2006 vom 27.05.2006)muss sich das Obergericht des Kantons Luzern nun zum dritten mal mit dem selben Fall beschäftigen. Im ersten Anlauf hatte es den Beschwerdeführer in Verletzung von Bundesrecht wegen Bandenmässigkeit verurteilt (BGE 6P.104/2004 vom 24.03.2005). Im zweiten Anlauf hat es das Asperationsprinzip (Art. 68 Ziff. 1 StGB) falsch angewendet. Das Bundesgericht erklärt deshalb noch einmal, wie vorzugehen ist:
Richtigerweise muss deshalb zunächst für alle zu beurteilenden Strafen eine Gesamtstrafe bestimmt und beziffert werden. Erst in einem zweiten Schritt können die rechtskräftig ausgefällten Strafen davon abgezogen werden. Indem die Vorinstanz die Raubtaten bei der Bemessung der Strafe isoliert betrachtete, hat sie Art. 68 Ziff. 2 StGB unrichtig angewendet (E. 1.3).

Dienstag, Juni 06, 2006

Vom Bundesrat beantwortete Vorstösse

Hier eine aktuelle Auswahl der vom Bundesrat beantworteten parlamentarischen Vorstössen:

04.3423 nMo. Bühlmann. Brauchbare Kriminalitätsstatistik

06.3005 nMo. WAK-NR (02.432). Amts- und Rechtshilfe. Anforderungen und Prinzip der doppelten Strafbarkeit

06.3070 nIp. Lang. Die Schweiz und die Sklaverei

06.3071 nIp. Dunant. Ausländerkriminalität und Jugendgewalt durch Kenntnis der Fakten wirksamer bekämpfen

06.3081 nMo. Perrin. Angemessene Polizeimunition

06.3140 nMo. Wobmann. Mehr Transparenz in der Ausländerkriminalität

06.3167 nIp. Schibli. Freier Zugang im System Schengen für Euro-Polizisten auch zur Steuerschnüffelei

Unabhängige Staatsanwaltschaft?

Rund um die angekündigte Untersuchung (s. meinen letzten Beitrag) kommt nun die Diskussion um die Gewaltentrennung wieder in Gang: wer soll die Aufsicht über die Bundesanwaltschaft ausüben?


Die aktuelle Vorlage (s. Themenseite de BJ) soll die gegenwärtige Lösung (administrative Aufsicht beim EJPD, fachliche Aufsicht beim Bundesstrafgericht) ersetzen durch eine einheitliche Aufsicht beim EJPD. Die geplante einheitliche Aufsicht wird mit dem (Schein-)Argument der Gewaltentrennung zurückgewiesen. Das Argument stösst ins Leere, weil die Staatsanwaltschaft in einem modernen Rechtsstaat der Exekutive angehört und auch angehören muss, zumal sie im Strafverfahren Partei ist. Es muss endlich erkannt werden, dass die Exekutive den Strafanspruch des Staates durchzusetzen hat, indem sie die Verdächtigen verfolgt und anklagt. Mit der Anklage und erst dann kommt die Justiz zum Zug, welche in einem dialektisch ausgestalteten Verfahren (Staatsanwaltschaft c. Verteidigung) beurteilen muss, ob der Anklagesachverhalt als bewiesen gelten kann oder nicht (s. dazu einen meiner früheren Beiträge zur Diskussion im Kanton Solothurn).


Unbestritten und verfassungsmässig garantiert ist, dass das Gericht unabhängig sein muss. Aus der Sicht der Verteidigung könnte man überspitzt sagen, dass ein Gericht, das die fachliche Aufsicht über die Gegenpartei (Staatsanwaltschaft) ausübt, nicht unabhängig sein kann. Der Begriff der Unabhängigkeit hat im Zusammenhang mit dem Verhältnis zwischen der Staatsanwaltschaft und den drei Gewalten keine bzw. eine andere Bedeutung. Entscheidend ist allein, dass die Staatsanwaltschaft – genau wie übrigens die Verteidigung – weisungsungebunden handeln kann. Damit kann garantiert werden, dass am Ende nicht der Bundesrat entscheidet, gegen wen die Bundesanwaltschaft ermitteln soll. So sind m.E. die Empfehlungen des Ministerkomitees des Europarats zu verstehen (vgl. meinen früheren Beitrag).


Unbestritten dürfte auch sein, dass keine Behörde eines Rechtsstaats unkontrolliert sein darf. In der politischen Diskussion ist man sich jedenfalls einig, dass auch die Bundesanwaltschaft einer Aufsicht zu unterstellen ist. Wer diese Aufsicht ausüben soll, ist aber eigentlich völlig klar: es muss die administrativ vorgesetzte Behörde sein. Auf Stufe Bund ist dies nun halt das EJPD. Genau dies sieht die Vorlage (s. oben) vor und verdient damit volle Zustimmung.

Dass nun noch der Vorschlag auftaucht, die Bundesanwaltschaft unter parlamentarische Aufsicht zu stellen (s. demnächst im Beitrag von 10 vor 10), ist wohl eher politisch motiviert. Er ist sachlich genauso falsch wie das aktuelle geteilte Aufsicht, auch wenn er vom Präsidenten der Rechtskommission des Nationalrats

Bankunterlagen nach Russland

Der Entscheid der Bundesanwaltschaft, Bankunterlagen rechtshilfeweise an die russischen Behörden zu übergeben, ist rechtskräftig. Eine dagegen geführte Beschwerde hat das Bundesgericht in einem heute ins Netz gestellten Entscheid abgewiesen (1A.6/2006 vom 15.05.2006).

Eine Kurzzusammenfassung findet sich in der NZZ.

Update 2: Staatsanwälte unter Druck

Inzwischen ist die Pressemitteilung des Bundesstrafgerichts online. Hier ein Auszug:
Die Beschwerdekammer wird dabei unter anderem überprüfen, ob Anhaltspunkte für einen systematischen Einsatz widerrechtlicher Ermittlungsmethoden durch die Bundesanwaltschaft bestehen. Daneben wird im Verlaufe dieses Monats ein Bericht zu den Vorwürfen betreffend die geringe Anzahl der von der Bundesanwaltschaft erhobenen Anklagen abgeschlossen.

Von Lasermessungen und Geständnissen

In einem heute online gestellten Entscheid hat der Beschwerdeführer erfolgos gegen seine Verurteilung wegen Geschwindigkeitsübertretung gewehrt (BGE 1P.130/2006 vom 18.05.2006). Der Fall ist insofern speziell, als der Beschwerdeführer nach seiner Übertretung befragt wurde und nichts bestritten hatte. Unter anderem gesetützt auf seine eigenen Aussagen war er von der Vorinstanz verurteilt worden. Seine Rüge, dies sei willkürlich, wies das Bundesgericht als an Trölerei grenzend zurück.

Zu den technischen Aspekten fasste das Bundesgericht seine Feststellungen wie folgt zusammen:
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass das Kantonsgericht keineswegs in willkürlicher Weise zur Überzeugung gelangte, der Beschwerdeführer sei auf Grund der umstrittenen Lasermessung der ihm vorgeworfenen Geschwindigkeitsübertretung überführt. Auch wenn die Messung selber wegen des noch nicht abgeschlossenen Rückspulvorgangs des Videogerätes nicht fotografisch festgehalten ist, sondern nur eine Foto vorliegt, die den Porsche des Beschwerdeführers rund 2 Sekunden nach der Messung zeigt, ist die Messung ausreichend dokumentiert, um rechtserhebliche Zweifel an ihrer Korrektheit auszuschliessen. Eine Verwechslung fällt ohnehin ausser Betracht, nachdem der Beschwerdeführer nach dem Vorfall angehalten wurde und dabei keineswegs vorbrachte, die Geschwindigkeitslimite eingehalten zu haben und mit einem anderen grauen Porsche verwechselt worden zu sein. Unter diesen Umständen konnte das Kantonsgericht auch ohne Verfassungsverletzung die Einholung von technischen Expertisen ablehnen (E. 3.4).

Der Entscheid ist zweifellos richtig. Wenn der Beschwerdeführer wirklich unschuldig ist, hat er seine Verurteilung bereits mit seiner ersten Aussage besiegelt. Technische Mängel zu rügen, ist in aller Regel sinnlos. Die Lehren daraus können wie folgt zusammengefasst werden:

  1. Man halte sich an die signalisierte Geschwindigkeit.
  2. Wer Aussagen macht, darf sich nicht wundern, dass sie später gegen ihn verwendet werden.
  3. Technische Messungen anzufechten ist nur dann sinnvoll, wenn ihre Fehlerhaftigkeit praktisch bewiesen werden kann ("Es muss sich um erhebliche und nicht zu unterdrückende Zweifel handeln, d.h. um solche, die sich nach der objektiven Sachlage aufdrängen").

Update 1: Staatsanwälte unter Druck

Gemäss NZZ und Tagesanzeiger haben BR Blocher und der Präsident der Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts das Pfingstwochenende dazu genutzt, eine ausserordentliche Untersuchung gegen die Bundesanwaltschaft und insbesondere gegen den Bundesanwalt selbst anzukündigen (s. meinen letzten Beitrag). Roschacher hatte offenbar dem Justizminister gegenüber Auskünfte über das Verfahren Holenweger verweigert. Dies dürfte auf die nicht unbegründete Auffassung zurückzuführen sein, der Bundesanwalt sei von der Exekutive (der er angehört)unabhängig. Der Tagesanzeiger sieht darin einen Bruch mit Blocher, was so aber wohl nicht zu interpretieren ist. Bizarr wird die Angelegenheit aber, wenn Roschacher wirklich angeboten haben soll, statt den Justizminister den Verkehrsminister zu informieren. Die passende Antwort dazu hält Leutwyler bereit.

Sonntag, Juni 04, 2006

Update 4: Wir überwachen ...

In der Fax-Affäre (vgl. dazu meinen letzten Beitrag) hat die Militärjustiz gemäss Tagesanzeiger eine Person verhaftet und eine Woche lang in Untersuchungshaft genommen. Die Verletzung militärischer Geheimnisse soll Gegenstand des Verfahrens sein.

Staatsanwälte unter Druck

Während die Solothurner Staatsanwaltschaft wegen administrativer Peinlichkeiten und Führungsproblemen unter Druck ist (vgl. etwa hier), erreichen die Nachrichten aus der Bundesanwaltschaft langsam aber sicher Dimensionen, die nicht länger hingenommen werden dürfen. Hier ein paar Links aus der Presse:Ein Bundesanwalt, der für ein Erfolgserlebnis auf die Dienste eines verurteilten kolumbianischen Drogenhändlers und eines zweifelhaften deutschen V-Manns setzt, zieht zunächst einfach seine berufliche Qualifikation in Zweifel. Wenn er über seine Ermittlungsmethoden dann aber auch noch Geheimakten anlegt, die er nicht nur dem Beschuldigten, sondern auch dem Eidgenössischen Untersuchungsrichteramt vorenthält, ist er als oberster Strafverfolger schlicht nicht tragbar.

Bevor er zurücktritt oder zurückgetreten wird, wird er nun aber sicher wieder Verfahren gegen die Informanten einleiten, welche die peinlichen Informationen an die Presse herausgegeben haben.