Montag, Juli 31, 2006

Lausanne korrigiert Fehltritt des Bundesstrafgerichts bzw. der Bundesanwaltschaft

Das Bundesgericht hebt ein Urteil der Strafkammer des Bundesstrafgerichts in Bellinzona (SK.2005.10 vom 20.02.2006) wegen Verletzung des Anklagegrundsatzes auf Nichtigkeitsbeschwerde hin auf (Urteil 6S.177/2006 vom 14.07.2006). Das Bundesgericht stellte fest, dass der Beschwerdeführer wegen eines anderen als des ihm vorgeworfenen Delikts verurteilt wurde:
Dans ces conditions, le premier juge a violé l'art. 29 al. 2 Cst. et l'art. 169 PPF en condamnant le recourant pour des faits pour lesquels il n'avait pas été dénoncé, sans lui avoir donné l'occasion de se déterminer à ce propos. L'arrêt attaqué doit par conséquent être annulé et la cause renvoyée au premier juge pour qu'il statue à nouveau, dans le respect des droits de la défense (E. 2.2).
So gemein! Bellinzona wollte doch sicherlich nur die mangelhafte Anklage der Bundesanwaltschaft korrigieren.

25 Monate Präventivhaft sind genug

Das Bundesgericht entlässt einen Beschwerdeführer auf staatsrechtliche Beschwerde hin wegen Verletzung der Verhältnismässigkeit aus der Präventionshaft (Urteil 1P.415/2006 vom 24.07.2006).

Der Beschuldigte war erstinstanzlich zu einer Freiheitsstrafe von 24 Monaten verurteilt worden. Zudem war eine bedingt aufgeschobene Freiheitsstrafe von 18 Monaten (unter Anrechnung von ca. 9 Monaten Untersuchungshaft) widerrufen worden. Zum Zeitpunkt der Beschwerdeführung befand sich der Beschwerdeführer allerdings bereits wieder 25 Monate in Haft, war schon einmal erfolgreich ans Bundesgericht gelangt und hatte grünes Licht der Commission de libération conditionnelle. Somit stellte das Bundesgericht fest:
Ainsi, compte tenu de l'ensemble des circonstances, soit de la longue durée de la détention préventive, du fait qu'elle paraît proche de la peine encourue devant l'instance de recours et qu'elle dépasse la peine prononcée en première instance, alors que les conditions d'une libération conditionnelle pourraient être remplies, il y a lieu de constater que le maintien en détention du recourant viole le principe de la proportionnalité.

Sonntag, Juli 30, 2006

Update: Engeler's Plädoyer

Eben hatte Engeler noch gehofft, der Letzte zu sein (s. meinen Beitrag), schon berichtet Heidi Gmür in der NZZ am Sonntag, dass ein Mitglied des Bundesrats eine Anzeige wegen Veröffentlichung amtlicher geheimer Verhandlungen (Art. 293 StGB) gegen Unbekannt einreichen liess. Anlass gab der Artikel des Blatts vom letzten Sonntag, wonach das EDA auf Bitte Irans eine internationale Konferenz zum Streit um das Atomprogramm plane.

Damit darf die Meldung ja wohl als bestätigt betrachtet werden. Was ist bloss los in diesem Land?

Interne Anti-Korruptionsschulung ab sofort unter Strafandrohung obligatorisch?

Markus Steudler erinnert in der NZZ am Sonntag (kostenpflichtig) daran, dass per 1. Juli 2006 neue Strafbestimmungen im Bereich der Korruption in Kraft getreten sind. Die Novelle stellt nun auch die passive Privatbestechung und die Bestechung "fremder Amtsträger" (das Gesetz nennt sie so) unter Strafe.

Brisanter dürften allerdings die neuen Bestimmungen im Untenehmensstrafrecht sein, die Steudler wie folgt zusammenfasst:
Er bedeutet, dass eine Firma verurteilt und mit einer Busse von bis zu 5 Mio. Fr. bestraft wird, wenn einer ihrer Angestellten eine Privatbestechung begangen hat und die Firma nicht nachweisen kann, dass sie alle erforderlichen und zumutbaren organisatorischen Vorkehren getroffen hat, um dies zu verhindern.
Der unvermeidliche Marcel A. Niggli, der die Bedeutung der Gesetzesänderung als enorm bezeichnet, lässt sich wie folgt zitieren:

Wer jetzt nicht mindestens eine interne Schulung durchführt oder Kontrollmechanismen einrichtet, kann später nicht belegen, dass er alles unternommen hat.

Die Gerichte werden diesen Artikel strikt anwenden.

Ich rechne mit einer erheblichen Zunahme an Verurteilungen.

Woraus Niggli seine Erwartungen schöpft ist mir schleierhaft. Erfahrungswerte können es jedenfalls nicht sein. Die sagen nämlich, dass Art. 100 quater StGB auch in Zukunft häufiger geändert als angewendet wird.

Die aktuellen Gesetzestexte finden sich hier:

Material dazu findet sich hier:

Freitag, Juli 28, 2006

Engeler's Plädoyer

Die aktuelle Ausgabe der Weltwoche enthält das vorgezogenes Plädoyer von Urs Paul Engler, der sich am 16. August in Bern vor einer Einzelrichterin verantworten muss (vgl. dazu meinen früheren Beitrag).

Das Plädoyer hat verschiedene Stossrichtungen:
  1. In eigener Sache: Bekanntgabe des Gerichtstermins und der Gerichtspräsidentin (SP)
  2. In eigener Sache: Eigenlob und wohl ein bisschen Selbstüberschätzung bezüglich der Wirkungen der angeblich strafbaren Veröffentlichung
  3. Rechtspolitisch: Kritik an Art. 293 StGB
  4. Strafprozessual: In Fragestellen des Gerichtsstands Bern
  5. Bundesanwaltschafts-Bashing: Die Rolle des zuständigen Bundesanwalts bei der gescheiterten Untersuchung der Geheimnisverletzung, die der Publikation Englers vorausgegangen war
  6. ...
Ob dieses Plädoyer der eigenen Sache dient, wage ich zu bezweiflen: "He who represents himself has a fool for a client and an idiot for a lawyer." Hier ein paar Ausschnitte:

Die Gerichtspräsidentin müsste in der zweiten Runde die Verfügung eines Kollegen im Hause korrigieren.

Bern kann die Bedingungen der Produktion und der Verantwortlichkeiten gar nicht abklären. Wenn Gerichtspräsidentin [...] am 16. August um 8.30 Uhr die Verhandlung eröffnet, ist sie dazu gar nicht autorisiert. Der Prozess müsste abgebrochen werden, bevor er begonnen hat.

Nur die in der antiquierten Verehrung der Obrigkeit stehen gebliebene Berner Justiz behandelt Indiskretionen wie subversive Attacken auf die Staatsgewalt.

In Wirklichkeit ist Artikel 293 das Vehikel der Willkür der Regierungen und der Behörden, die, wann immer sie wollen, sich so der Öffentlichkeit und deren Reaktion auf Entscheidungsprozesse entziehen können.

Die Indiskretionen, die als Reaktionen auf die Politik der Geheimhaltung mittlerweile zum System gehören, haben Wirkung, richten politisch aber gar keinen Schaden an. Die gestörte Befindlichkeit erschreckter Beamtenseelen oder rauere Luftwirbel im Bundesrat sind keine Gründe, das Rechtsgut der freien Berichterstattung in Frage zu stellen.

Demokratiepolitisch abartig ist, dass die korrekte, exakte Aufklärung über reale Vorgänge im Bundeshaus kriminalisiert wird.

Die amtliche Propaganda ist die Schwester der Geheimhaltung; sie kann ihre Wirkung nur entfalten, wenn die Berichterstattung von oben gelenkt wird. Aktive Verlautbarung und Diskretion bedingen sich gegenseitig.

[...] ich verlange den unbedingten, den eindeutig demokratiepolitisch begründeten Freispruch, einen klaren Akt der Stärkung der Demokratie und der Bürgerrechte.

Garantenstellung im Unternehmen

Wie die NZZ heute berichtet, ist ein ehemaliger Laborleiter des Inselspitals Bern zu einer bedingten Gefängnisstrafe von 15 Tagen wegen fahrlässiger Tötung verurteilt worden. Dem Laboranten wurde vorgeworfen, für den Tod eines neugeborenen Mädchens mitverantwortlich zu sein, dem aufgrund einer Verwechslung Kalziumchlorid verabreicht worden war. Grund für die Verwechslung war eine falsche Etikettierung der Infusionsflaschen in der Inselapotheke.

Auf die staatsrechtliche Beschwerde konnte das Bundesgericht (Urteil 6P.71/2006 vom 14.07.2006) nicht eintreten. Dasselbe gilt für einen Teil der Nichtigkeitsbeschwerde, mit welcher der Beschwerdeführer u.a. die Verletzung von verfassungsmässigen Rechten (in dubio pro reo) rügte. Eintreten konnte das Bundesgericht nur auf die Rüge, der Beschwerdeführer sei der falsche Adressat des Vorwurfs. Dazu fasste das Bundesgericht zunächst seine Rechtsprechung zur Garantenstellung im Unternehmen zusammen:
Mitarbeitenden kommt eine Garantenstellung nur im Rahmen ihres Aufgabenbereichs und nur insoweit zu, als ihnen auch die entsprechenden Entscheidkompetenzen delegiert sind. Entscheidend ist die tatsächliche Herrschaftüber und Verantwortung für die Gefahrenquelle (E. 3.1).
Auf den Fall angewendet stellte das Bundesgericht fest:
Nach verbindlicher vorinstanzlicher Feststellung war der Beschwerdeführer als Laborleiter im Allgemeinen zuständig für die Organisation, Kontrolle und Überwachung des Tagesgeschäfts. Im Rahmen der Überprüfung der Dampfsterilisatoren war er konkret zuständig für die Produktion der "ohnehin herzustellenden sowie der für die Validierung benötigten Stoffe" (Urteil S. 16). Die Vorinstanz wirft ihm vor, als Laborleiter keine Sicherheitsvorkehren getroffen zu haben, um die Verwechslungsgefahr zu bannen, nachdem der Entscheid zur gleichzeitigen Validierung und Produktion des Kalziumchlorids an der Sitzung vom 24. Januar 2000 in seinem Beisein erörtert worden war. Die konkreten Vorsichtspflichten leitet sie aus dem Leitfaden zur "Good Manufacturing Practices" der "Pharmaceutical Inspection onvention" ab, wonach bei der Herstellung von Heilmitteln die Grundsätze der sofortigen Etikettierung, der getrennten Aufbewahrung und der Verwerfung bei Verwechslungsgefahr zu beachten seien (Urteil S. 35 f.). Zusammenfassend durfte die Vorinstanz von einer Garantenstellung des Beschwerdeführers ausgehen. Die Verantwortung für die parallel zur Validierung laufende Produktion war ihm übertragen worden, weshalb die Vorinstanz zu Recht ihn und nicht die Geschäftsleitung zur Verantwortung zog. Sein Einwand geht deshalb fehl (E. 3.2).

Sprachunkenntnis schützt vor Fristablauf nicht

Aus einem neuen Urteil des Bundesgerichts (1P.232/2006 vom 03.07.2006):
Aus dem angefochtenen Entscheid ergibt sich, dass der Beschwerdeführer zwar keinen Verteidiger, aber einen Übersetzer hatte. Er lebte damals seit rund zwei Jahren in der Schweiz, weshalb das Obergericht von ersten Erfahrungen mit der hiesigen Kultur und Sprache ausgehen durfte. Der Vorhalt, der Beschwerdeführer hätte sich nach Empfang des Strafbefehls bei Verständnisschwierigkeiten bei den Behörden oder in seinem persönlichen Umfeld erkundigen sollen, erscheint nicht übermässig streng. Allein der Umstand, dass dem Beschwerdeführer nach kantonalem Recht ein amtlicher Verteidiger zugestanden wäre, reicht für einen Anspruch auf Fristwiederherstellung wegen Sprachunkenntnis nicht aus (E. 3.4).
Das Urteil vermag mich deshalb nur bedingt zu überzeugen, weil der Beschwerdeführer im Strafbefehlsverfahren offenbar Anspruch auf einen amtlichen Verteidiger gehabt hätte. Ist die unterlassene Einsprache auf die fehlende Verteidigung zurückzuführen, was wohl angenommen werden darf, könnte der Strafbefehl sogar nichtig sein. Dies wäre m.E. zu bejahen, wenn es sich um einen Fall notwendiger Verteidigung gehandelt hätte.

Die Härte des Bundesgerichts vermag wohl auch der milde Kostenentscheid nicht zu kompensieren:
Dem Gesuch kann mangels Erfolgsaussichten nicht stattgegeben werden (Art. 152 OG). Aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalles ist aber auf die Erhebung einer Gerichtsgebühr zu verzichten (Art. 154 OG).

Donnerstag, Juli 27, 2006

Kopiert oder kopieren lassen?

Das Bundesgericht hatte in einem neuen Urteil (6P.9/2006 vom 05.06.2006) einen Fall aus dem Urheberstrafrecht zu beurteilen. Der Beschwerdeführer war von der Vorinstanz verurteilt worden, weil er einen Software-Schulungsordner kopiert hatte (Art. 67 Abs. 1 lit. e URG, Busse CHF 500.00). Dem Beschwerdeführer wurde in der Anklageschrift vorgeworfen, er habe die Dokumentation kopiert respektive durch eine seiner Angestellten kopieren lassen. Darin sah er eine unzulässige Alternativanklage. Dazu das Bundesgericht:
Der Beschwerdeführer legt denn auch nicht dar, inwiefern seine Rechte als Beschuldigter verletzt worden seien. Er konnte der Anklageschrift entnehmen, was ihm im Anklagepunkt II/1 zur Last gelegt wird, und er konnte sich gegenden Vorwurf, er habe den Ordner kopiert respektive durch eine Angestellte kopieren lassen, verteidigen (siehe auch BGE 1P.461/2002 vom 9. Januar 2003, E. 2, in Pra 2003 Nr. 82 S. 448). Dass der Beschwerdeführer nach seiner eigenen Darstellung den Schulungsordner weder selber kopierte noch durch eine Angestellte kopieren liess, berührt nicht den Anklagegrundsatz, sondern die Beweiswürdigung. Der Beschwerdeführer behauptet im Übrigen nicht, er habe im Untersuchungsverfahren die Einvernahme von Angestellten zur Klärung der Frage beantragt, wer in wessen Auftrag den Schulungsordner kopiert hat (E. 1.2).
Zum oben zitierten Entscheid s. auch die Beiträge im Archiv strafprozess ...

Materiell war u.a. zu entscheiden, ob die Dokumentation überhaupt urheberrechtlich geschützt sei, was das Bundesgericht bejahte:
Der fragliche Schulungsordner ist eine relativ umfangreiche Anwenderdokumentation, die angesichts ihres Aufbaus und ihrer Gliederung sowie der Auswahl und des Inhalts der Informationen in ihrer Gesamtheit als eine geistige Schöpfung mit individuellem Charakter im Sinne von Art. 2 Abs. 1 URG und damit als urheberrechtlich geschütztes Sprachwerk gemäss Art. 2 Abs. 2 lit. a URG anzusehen ist (E. 6.3).
Weiter rügte der Beschwerdeführer das Fehlen einer strafrechtlich relevanten Tathandlung, auch dies jedoch erfolglos:
Anstiftung zu vorsätzlicher und unrechtmässiger Herstellung eines Werkexemplars ist vorliegend schon deshalb nicht gegeben, weil offenkundig davon auszugehen ist, dass die Angestellte, welche den fraglichen Schulungsordner auf Anweisung des Beschwerdeführers kopierte, nicht mit dem erforderlichen (Eventual-)Vorsatz der Urheberrechtsverletzung gehandelt und damit keine Straftat begangen hat. Der Beschwerdeführer ist somit nicht Anstifter, sondern mittelbarer Täter, der die Angestellte als nicht vorsätzlich handelndes Werkzeug benützte, und er ist als solcher wie der Täter strafbar.
Egal, wer was wann gemacht hat: Täter ist der Beschwerdeführer. Verloren hat er den Fall allerdings nicht vor Bundesgericht, sondern wahrscheinlich in der Untersuchung.

Mittwoch, Juli 26, 2006

Auffallend hohe Strafe

Die Beschwerde eines Automobilisten, der in Zürich vor einer Traminsel ein anderes Auto überholt hatte und dafür mit CHF 10,000.00 gebüsst wurde, ist vor Bundesgericht bereits zum zweiten Mal geschützt worden (Urteil 6S.234/2005 vom 29.06.2006). Diesmal rügte er erfolgreich die Strafzumessung der Vorinstanz:
Der ausgefällten Strafe liegt lediglich noch der Vorwurf eines gefährlichen Überholmanövers zugrunde, welches die Vorinstanz als grobe Verkehrsregelverletzung im Sinne von Art. 90 Ziff. 2 SVG einstuft. Auf die übrigen ursprünglichen Anklagevorwürfe konnte die Vorinstanz zufolge absoluter Verjährung nicht mehr eintreten. Fr. 10'000.- Busse für ein Überholmanöver ist eine auffallend hohe Strafe. Dieses war zwar unnötig und nicht ungefährlich, wurde aber auf einem breiten und übersichtlichen Strassenabschnitt vorgenommen. Die ausgefällte Busse lässt sich bei der vorliegenden Begründung nicht mit dem Verschulden und den persönlichen Verhältnissen des Beschwerdeführers in Einklang bringen. Mit Blick auf die auffallende Strafhöhe erweist sich die Begründung mithin als ungenügend. Weiter macht der Beschwerdeführer zu Recht geltend, dass dem verjährungsbedingten Wegfall der Übertretungstatbestände und damit einem zumessungsrelevanten Umstand nicht in bundesrechtskonformer Weise Rechnung getragen wurde. Die Strafe ist insoweit zu reduzieren (E. 3.3).

"Unerreichbare" Polizeiakten

Im Fall der Besetzung des griechischen Generalkonsulats in Zürich im Februar 1999 hatte das Bundesgericht eine staatsrechtliche Beschwerde eines zu 14 Monaten Gefängnis bedingt verurteilten Geiselnehmers zu beurteilen (Urteil 1P.297/2005 vom 03.07.2006). Dieser hatte seine Rolle bei der Besetzung bestritten und wollte anhand von Polizeiakten beweisen, was seine Rolle wirklich war. Diese Akten wurden ihm allerdings nicht zugänglich gemacht. Vor Bundesgericht hat er folgerichtig gerügt,
die zuständigen Behörden seien ihrer Dokumentationspflicht nicht nachgekommen, bzw. durch die verweigerte Akteneinsicht habe der Beschwerdeführer keine Möglichkeit gehabt, gegebenenfalls entlastende Dokumente - darunter die Verhandlungsprotokolle der drei Verhandlungsrunden mit der Polizei, das Einsatzjournal und das Hauptjournal der Polizei - einzusehen.
Das Bundesgericht hatte damit Gelegenheit, ein Grundsatzurteil zur Frage der Dokumentationspflicht im Strafprozess zu fällen. Statt dessen wies es die Beschwerde aus schwierig nachvollziehbaren Gründen ab und wich den eigentlichen Fragen weitgehend aus.

Bei der Frage der Verletzung der Dokumentationspflicht wirft das Bundesgericht dem Beschwerdeführer vor, er befasse sich nicht hinreichend mit der Anwendung des kantonalen Verfahrensrechts, das hierfür "in erster Linie" massgeblich sei. Es trat somit gar nicht auf die Beschwerde ein.

Im Weiteren machte der Beschwerdeführer unter dem Asoekt des rechtlichen Gehörs folgendes geltend:
Demgegenüber macht der Beschwerdeführer geltend, aus den nicht beigezogenen, vollständigen polizeilichen Protokollen würde sich ergeben, dass er lediglich Überbringer der Nachrichten der Geiselnehmer und weder als Besetzer noch als Geiselnehmer tätig gewesen sei bzw. Einfluss auf den Ablauf der Ereignisse genommen habe. Insbesondere wäre aus diesen Akten hervorgegangen, dass ihm in keiner Weise eine wichtige Stellung und Funktion zugekommen sei (E. 5.3.2).
Dazu das Bundesgericht lapidar:
Der Beschwerdeführer legt jedoch nicht in einer den Anforderungen von Art. 90 Abs. 1 lit. b OG genügenden Weise dar, inwiefern sich damit am Schuldspruch etwas hätte ändern müssen und somit die dargelegte Schlussfolgerung des Kassationsgerichtes unzutreffend sei. Gesamthaft gesehen vermag der gerichtlich angenommene Umstand, dass dem Beschwerdeführer wegen des am 17. Februar 1999 stattgefundenen Gesprächs mit der polizeilichen Verhandlungsgruppe eine im Vergleich mit den übrigen Aktionsmitgliedern wichtige Funktion und Stellung zugekommen sei, bei objektiver Betrachtung keine Verfassungsverletzung zu begründen (E. 5.3.3).
Fazit: Die strafprozessuale Dokumentationspflicht ist nicht durchsetzbar, wenn nicht willkürliche Anwendung kantonalen Rechts nachzuweisen ist. Die immer wieder beschworene materielle Wahrheit findet ihre Grenze dort, wo eine Verwaltungsbehörde wie die Polizei Akten aus welchen Gründen auch immer nicht herausgeben mag.

Im Ergebnis wirft das Bundesgericht dem Beschwerdeführer etwas überspitzt ausgedrückt vor, seine Beschwerde nicht hinreichend begründet zu haben. Dass er dies mangels der fraglichen Akten gar nicht konnte, berücksichtigt das Bundesgericht nicht.

Montag, Juli 24, 2006

Update: Entsiegelung von Anwaltsakten

Im September des Vorjahres hatte ich über ein dreistufiges Verfahren berichtet, welches das Bundesstrafgericht für die Entsiegelung von berufsgeheimnisrelevantem Material zur Anwendung gebracht hatte. Auf staatsrechtliche Beschwerde der beiden Anwälte hin hat das Bundesgericht den Entscheid des Bundesstrafgerichts entschieden. Der Entscheid des Bundesgerichts (1S.31/2005 vom 06.02.2006) ist nun in der amtlichen Sammlung publiziert (BGE 132 IV 63). Aus der Regeste:
Das folgende dreistufige Verfahren verletzt kein Bundesrecht: Zuerst werden die für die Untersuchung sachdienlichen Dokumente ausgesondert. Nachher wird bestimmt, welche dieser Dokumente unter das Anwaltsgeheimnis fallen. Bei den übrigen sachdienlichen Dokumenten werden schliesslich, soweit nötig, die Namen der Klienten zu deren Schutz abgedeckt oder durch Codes ersetzt; dafür wird bei Bedarf ein aussenstehender Sachverständiger beigezogen (E. 4).

Sonntag, Juli 23, 2006

Datenschutz als liberales Grundrecht

hof. bricht in der NZZ eine Lanze für den Datenschutz und die informationelle Selbstbestimmung und wundert sich darüber, dass die liberalen Kräfte das Thema dem links-grünen Lager überlassen haben. Aus seinem lesenswerten Kommentar:
Sich für dieses Recht einzusetzen, ist ein urliberales Anliegen. Leider spürt man aber von Seiten bürgerlicher Parteien kaum ein diesbezügliches Engagement; die meisten datenschützerischen Vorstösse - ob sinnvoll oder nicht - stammen aus dem links-grünen Lager. Der aus wirtschaftlichen Bedenken genährte Vorbehalt gegenüber dem Datenschutz hat den liberalen Kräften den Blick auf das ihm zugrunde liegende Grundrecht getrübt. Dies kann etwa dazu führen, dass staatsschützerischen Begehrlichkeiten allzu unkritisch begegnet wird. Man vermisst bisher mahnende Worte von Seiten bürgerlicher Politiker zur Gesetzesrevision über die innere Sicherheit. Auch nachdem eine aus liberaler Sicht völlig unhaltbare erste Version mehrmals überarbeitet worden ist, geht der vorliegende Entwurf noch immer sehr weit, was die präventive Überwachung der Privatsphäre betrifft.
Das eigentliche Problem spricht hof. leider nur indirekt an. Es besteht m.E. darin, dass seit 9/11 die Unschuldsvermutung dem Generalverdacht gewichen ist.

Dafür nennt hof. ein paar aktuelle Felder, in denen bürgerliche Politik das Thema zurückerobern könnte:
Neben der Revision des Staatsschutzes verursachen auch die Massnahmen gegen den Hooliganismus aus datenschützerischer Sicht mehr als ein Stirnrunzeln. Grundrechte sind nicht einfach per Verfassung gegeben. Sie müssen dauernd verteidigt werden, auch in einem Land wie der Schweiz, dessen Freiheitsrechte gesichert scheinen.
Dabei übersieht hof. natürlich nicht, dass - ausser beim Bankgeheimnis - eine Lobby fehlt.

Samstag, Juli 22, 2006

Kostenpflichtig oder gratis?

Das Bundesgericht teilt eine Änderung der Zugriffsmöglichkeiten auf seine Urteilsdatenbanken via Internet mit. Während das bisherige Gratisangebot weitgehend unverändert bestehen bleibt, wird neu ein kostenpflichtiges Abonnement eingeführt, mit dem erweiterte Suchfunktionen angeboten werden. Diese können zurzeit hier getestet werden.

Mittwoch, Juli 19, 2006

Verfassungswidrige Zwangsmassnahmen gegen Strafverteidiger

Das Bundesverfassungsgericht hat die Beschwerde eines Strafverteidigers gutgeheissen, der bei den Gesprächen mit seinem Mandanten in der JVA abgehört wurde und dessen Büros durchsucht worden waren (BVerfG, 2 BvR 950/05 vom 04.07.2006).

Zur Sache:
Die Staatsanwaltschaft ermittelte nun auch gegen den Beschwerdeführer. Das Amtsgericht ordnete mit dem ersten der angegriffenen Beschlüsse das Abhören und Aufzeichnen der Gespräche zwischen dem Beschwerdeführer und seinem Mandanten in der Justizvollzugsanstalt an. Der Beschwerdeführer sei der Geldwäsche verdächtig. Aus der Überwachung des Mandanten habe sich ergeben, dass der Beschwerdeführer von den Geldflüssen zwischen seinem Mandanten und den Angehörigen seiner Organisation gewusst habe und auch davon, dass es sich um nicht versteuerte Einnahmen aus Bordellbetrieben handele. Auf diese Geldflüsse habe er durch Beratungen Einfluss genommen [...]. Zudem habe der Beschwerdeführer von einem anderen Gruppenmitglied erhaltenes Geld auf das Anstaltskonto des Mandanten eingezahlt. Es sei zu erwarten, dass der Beschwerdeführer mit seinem Mandanten in den zu überwachenden Gesprächen über die genaue Herkunft des Geldes sprechen werde (RN 4).

Mit dem weiteren angegriffenen Beschluss ordnete das Amtsgericht die Durchsuchung der Kanzleiräume des Beschwerdeführers an, um Unterlagen über die Geldflüsse und Geschäftsbeziehungen innerhalb der von dem Mandanten beherrschten Gruppierung aufzufinden. Die Begründung ist derjenigen des vorangegangenen Beschlusses nahezu wortgleich (RN 5).
Zum Recht:
Dass die Kanzleiräume des Beschwerdeführers, die von dem Durchsuchungsbeschluss betroffen waren, durch das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung geschützt werden, bedarf keiner Erörterung (vgl. BVerfGE 44, 353 <371>). Für den Besuchsraum der Justizvollzugsanstalt, in dem Verteidigergespräche geführt werden, ist dies zweifelhaft, bedarf aber hier keiner Entscheidung, weil die Abhörmaßnahmen, die sich gegen den Beschwerdeführer richteten, dessen Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG verletzen, sodass sich die Verfassungsbeschwerde insoweit schon aus diesem Grunde als begründet erweist (RN12).

Maßnahmen, die geeignet sind, das Entstehen eines Vertrauensverhältnisses zwischen Strafverteidiger und Mandant, das unverzichtbare Grundlage einer effektiven Verteidigung ist, zu stören oder gar auszuschließen, und Kollisionen zu erzeugen, die den Strafverteidiger daran hindern können, die Interessen seines Mandanten wirksam zu vertreten, greifen in die Berufsausübungsfreiheit des Strafverteidigers ein (vgl. BVerfG, a.a.O., S. 254). Die herausgehobene Bedeutung der unkontrollierten Berufsausübung gebietet die besonders sorgfältige Beachtung der Eingriffsvoraussetzungen und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (RN 13).

Das Amtsgericht ist weder den Anforderungen des verfassungsrechtlichen Richtervorbehalts aus Art. 13 Abs. 2 GG gerecht geworden noch den besonderen Sorgfaltsanforderungen, die sich aus Art. 12 Abs. 1 GG bei der Anwendung des einfachgesetzlichen Richtervorbehalts aus § 100 d Abs. 1 StPO ergeben. Erforderlich ist jedenfalls der Verdacht, dass eine Straftat begangen worden sei. Das Gewicht des Eingriffs verlangt Verdachtsgründe, die über vage Anhaltspunkte und bloße Vermutungen hinausreichen. Ein Verstoß gegen diese Anforderungen liegt vor, wenn sich sachlich zureichende plausible Gründe für eine Durchsuchung (vgl. BVerfGE 44, 353 <371 f.>; 59, 95 <97>) oder den schwerwiegenden Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit eines Rechtsanwalts nicht mehr finden lassen (RN 14).
Der Entscheid bestätigt - soweit ersichtlich - lediglich die frühere Rechtsprechung, weshalb sich das Gericht nicht besonders vertieft mit den sich stellenden Fragen auseinanderzusetzen hatte. Ich kann daher auf weitere Zitate verzichten.

Dealende und nun auch renitente Oberrichter

Bereits zum zweiten mal im selben Fall hebt das Bundesgericht ein Urteil des Kantonsgericht St. Gallen wegen zu milder Bestrafung eines Vergewaltigers auf.

Im ersten Entscheid gelangte das Kantonsgericht zu einem Strafmass von 18 Monaten bedingt, was das Bundesgericht als zu milde korrigieren wollte (Urteil 6S.300/2004 vom 16.02.2005; vgl. dazu meinen früheren Beitrag über dealende Richter).

Im zweiten Anlauf kam das Kantonsgericht kam das Kantonsgericht erstaunlicherweise wieder zum selben Ergebnis: 18 Monate bedingt. Auf Beschwerde der Staatsanwaltschaft hin stellte das Bundesgericht (Urteil 6S.85/2006 vom 27.06.2006) abschliessend fest:
Die Vorinstanz hat diese offensichtlich vom gewünschten Ergebnis einer bedingten Freiheitsstrafe her begründet und damit Art. 63 StGB verletzt. Sie hat überdies die Strafe mehrfach bundesrechtswidrig gemildert bzw. gemindert sowie erneut eine unhaltbar milde, den bedingten Strafvollzug gerade noch zulassende Strafe ausgesprochen. Der angefochtene Entscheid ist im Strafpunkt aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückzuweisen (E. 2.6).
Das Verhalten des Kantonsgerichts ist insofern verständlich, als sein Referent dem Beschwerdegegner eine bedingte Strafe praktisch in Aussicht gestellt hatte, wenn er gestehen und zahlen würde. Nachdem der Beschwerdegegner gestanden und gezahlt hatte, musste sich das Kantonsgericht ja fast daran halten.

Wenn ich es richtig sehe, wird das Kantonsgericht sein "Versprechen" tatsächlich auch einhalten können, wenn es nun zum dritten Mal entscheiden muss. Die Rettungsleine dürfte der neue AT StGB darstellen, der in ein paar Monaten in Kraft treten wird.

Nur am Rande sei erwähnt, dass der Beschuldigte als unterlegener Beschwerdegegner für jeden Gang der Staatsanwaltschaft ans Bundesgericht sowohl die Gerichtskosten als auch seine Anwaltskosten bezahlen muss. Das ist zwar gesetzeskonform, erscheint aber als stossend.

Dienstag, Juli 18, 2006

POLIS-Verordnung ZH vor Bundesgericht

Wie die NZZ heute berichtet, wurde die am 01.01.2006 in Kraft getretene Verordnung über das Polizei-Informationssystem POLIS (POLIS-Verordnung) mit staatsrechtlicher Beschwerde dem Bundesgericht zur Prüfung vorgelegt. Die Beschwerdeschrift ist online.

Solothurner Sprayer endgültig verurteilt

Das Bundesgericht weist die staatsrechtliche Beschwerde dreier Sprayer in einem heute online gestellten Entscheid (1P.216/2006 vom 03.07.2006) ab. Auf die meisten Rügen tritt es allerdings gar nicht erst ein, weil den Beschwerdeführern ein Rechtsschutzinteresse fehlte oder weil sie ihre Rügen nicht genügend begründeten.

Der Entscheid ist dennoch lesenswert, weil er die (bisweilen sehr hohen) Anforderungen an die Begründung von staatsrechtlichen Beschwerden zeigt und auch ein paar Fallen, in die man vor Bundesgericht geraten kann und immer wieder gerät, v.a. wenn der Fall für das Bundesgericht kein Fall ist. Für die Beschwerdeführer ist hingegen jeder Fall ein Fall, in der Regel der einzige Fall.

"Ein bisschen Englisch"

Das Bundesgericht weist in einem neuen Entscheid (1P.102/2006 vom 26.06.2006) die staatsrechtliche Beschwerde eines zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilten Drogenhändlers ab, obwohl dieser gute Argumente für seinen Gang nach Lausanne zu haben schien.

Als erstes rügte der Beschwerdeführer, mangels genügender Sprachkenntnisse nicht hinreichend über sein Aussageverweigerungsrecht hingewiesen worden zu sein. Dazu das Bundesgericht:
Desgleichen hat der Beschwerdeführer auf entsprechende Frage hin bestätigt, dass er den Polizisten verstehe, wenn dieser Englisch mit ihm rede. Zwar sagte er wörtlich: "Ich verstehe ein bisschen Englisch" (act. 245), seine Antworten stimmten jedoch mit allen Fragen überein, was zeigt, dass seine Sprachkenntnisse durchaus ausreichend waren. Abschliessend hatte der Beschwerdeführer auf Nachfrage durch den Polizisten hin weder Berichtigungen noch Ergänzungen anzubringen. Er hat denn das Protokoll auch als "vorgelesen und bestätigt" unterschrieben (act. 246). Zusätzlich hat er jede einzelne Protokollseite unterzeichnet (E. 2.1).
Nebst weiteren Rügen machte der Beschwerdeführer Mängel bei den Einvernahmen geltend. Die Erwägungen des Bundesgerichts dazu vermögen m.E. nicht zu überzeugen:
In Anbetracht der schweren Drogendelikte, welche dem Beschwerdeführer vorgeworfen werden und mit welchen er die Gesundheit zahlreicher Menschen stark gefährdet hat, und den nur zum Teil mangelhaft erfolgten Einvernahmen, kann der Argumentation des Obergerichts gefolgt werden, wonach die Protokolle dennoch verwertbar seien. Gleiches gilt für die ersten Einvernahmen, in welchen der Polizist selber auf Englisch übersetzt hat, zumal der Beschwerdeführer nie geltend gemacht hat, er verstehe ihn nicht. Die schlüssige Beantwortung der Fragen belegt, dass offenkundig keine wesentlichen Verständigungsprobleme bestanden haben. Soweit der Beschwerdeführer fehlerhafte Übersetzungen rügt, handelt es sich um durch keinerlei Anhaltspunkte belegte Behauptungen, auf welche nicht einzutreten ist (...) (E. 4.2, Hervorhebungen durch mich).
Dazu noch Worte zu finden ist nicht einfach. Genau um solche Fragen zu verhindern, gibt es doch das Recht auf einen Dolmetscher und das Recht auf anwaltliche Verbeiständung. Werden diese Rechte verletzt, kann ein Beschuldigter offensichtlich überhaupt nichts mehr erreichen. Er ist davon abhängig, was im Protokoll steht, und zwar völlig egal, ob er überhaupt verstanden hat, was er unterzeichnet hat. Dieser Fall zeigt in aller Deutlichkeit, wie wichtig es ist, so lange zu schweigen bis ein Anwalt zugegen ist. Das heisst ja dann nicht unbedingt, dass das Ergebnis günstiger wäre, aber es wäre dann justizförmig zustande gekommen und würde dem Bundesgericht solche Argumentationen ersparen.

Montag, Juli 17, 2006

Zu wenig Anklagen

Der Bericht des Bundesstrafgerichts über die Bundesanwaltschaft liegt gemäss Pressemitteilung vom 17.07.2006 vor, wird aber (vorerst?) nicht öffentlich gemacht. Immerhin soviel ist der Mitteilung zu entnehmen:
Im Bericht stellt die Beschwerdekammer fest, dass die heutige Situation unbefriedigend ist und zeigt die aufgrund der getroffenen Abklärungen dafür massgeblichen Gründe auf.
(Wenig) mehr dazu erfährt man aus NZZ (Bundesanwalt erhebt zu wenig Anklgen) und Tagi (Bundesanwaltschaft erhebt laut Bundesstrafgericht zu wenig Anklagen).

Die NZZ merkt maliziös an:
Bei der Bundesanwaltschaft hiess es lediglich, man gebe keine Stellungnahme zu solchen Berichten ab.
Da steh ich nun, ...

Verteidigungskosten der Arbeitnehmer

(Ehemalige) Partner / Angestellte von KPMG, gegen die in den USA ein Strafverfahren durchgeführt wird, haben ihre Arbeitgeberin auf Zahlung ihrer Verteidigungskosten verklagt (s. dazu meinen früheren Beitrag). Sie werfen KPMG vor, die Zahlungen verweigert zu haben, um eine verfassungswidrigen Auflage der Strafverfolgungsbehörden in einem weiteren, gegen KPMG angestrengten Verfahren erfüllen zu können. Dass das Verfahren gegen KPMG nur aus diesem Grund eingeleitet wurde, bestreiten die Strafverfolger natürlich.

Weitergehende Informationen dazu inkl. einem Link zur Klageschrift ist auf Law Blog (Wall Street Journal) erhältlich.

reformatio in peius im Massnahmenrecht

Das Bundesgericht hat auf staatsrechtliche Beschwerde hin zu prüfen, ob die vom Obergericht des Kantons Luzern angeordnete Arbeitserziehung (Mindestdauer: 1 Jahr) gegen das Verbot der reformatio in peius verstiess. Erstinstanzlich war der Beschwerdeführer zu 10 Monaten Gefängnis und zu einer ambulanten psychotherapeutischen Behandlung ohne Strafaufschub verurteilt worden.

Das Bundesgericht (Urteil 6P.73/2006 vom 29.06.2006) hielt zunächst fest, dass das strafprozessuale Verschlechterungsgebot nicht zu den verfassungsmässigen Rechten zähle. Zum Sinn und Zweck hielt es fest:
Das Verbot der reformatio in peius will verhindern, dass der Angeklagte aus Angst vor einer strengeren Bestrafung davon absieht, ein Rechtsmittel einzulegen (E. 3).
Zur Frage, ob das Verschlechterungsverbot auch für Massnahmen gilt, fasst das Bundesgericht verschiedene Lehrmeinungen zusammen:
Während unbestritten ist, dass unter dem Aspekt des Verbots der reformatio in peius eine schärfere bzw. höhere Strafe nicht ausgesprochen werden kann als dies die erste Instanz getan hat, sind die Ansichten, wie es sich diesbezüglich bei Massnahmen verhält, die gegebenenfalls strenger als die ausgefällte Freiheitsstrafe wirken, geteilt (E. 3).
Ohne die Frage selbst zu beantworten kommt das Bundesgericht dann zum Sinn und Zweck der Arbeitserziehung,
Die Einweisung in eine Erziehungsanstalt bildet damit eine sozialpädagogische-therapeutische Massnahmeform, in deren Rahmen der im Kindes- und Jugendstrafrecht vorherrschende Fürsorge- und Erziehungsgedanke nachwirkt (E. 4).
leitet dann über zum kantonalen Recht (§236 Abs. 2 StPO/LU) und schützt die Auffassung der Vorinstanz, wonach
die Neuanordnung der Einweisung in eine Arbeitserziehungsanstalt gemäss Art. 100bis StGB nicht unter das Verschlechterungsverbot nach § 236 Abs. 2 StPO/LU falle, weil diese Norm nur Sanktionen mit Strafcharakter erfasse, was auf die bessernde Massnahme von Art. 100bis StGB, welche die Integration des Betroffenen in die Gesellschaft bezwecke, gerade nicht zutreffe. Sinngemäss geht es dabei davon aus, dass bei einer bessernden Massnahme wie Art. 100bis StGB der Gesichtspunkt eines allenfalls längeren Freiheitsentzugs bzw. einer gegebenenfalls weitergehenden Freiheitsbeschränkung in den Hintergrund tritt. Diese Auffassung des Obergerichts lässt sich sachlich vertreten (E. 5).
Damit war natürlich die willkürliche Anwendung kantonalen Strafprozessrechts zu verneinen und die Beschwerde abzuweisen.

Ob der Entscheid richtig ist, wage ich zu bezweifeln. Wenn ich in Zukunft einen Klienten vertrete, dem eine Massnahme droht, die er (subjektiv) als schwerwiegender empfindet als eine Gefängnisstrafe, muss ich ihn auf das Risiko des Rechtsmittels aufmerksam machen. Wahrscheinlich wird er dann aus Angst vor als schwerwiegender empfundenen Massnahme auf das Rechtsmittel verzichten. Es tritt also genau das ein, was das Verschlechterungsverbot ausschliessen sollte.

Freitag, Juli 14, 2006

Update 1: Standespolizei Bern?

Die Kantonspolizei Bern hat ihre Drohung gemäss einem Artikel des "Bund" wahr gemacht, einen Anwalt bei der Anwaltskammer (Art. 18 ff. FG) zu verzeigen. Der Anwalt hatte es gewagt, die Polizei öffentlich zu kritisieren. Dies sei geeignet sei, dem Ruf der Kantonspolizei zu schaden (s. meinen ersten Beitrag dazu).

Gemäss Bund hat sich nun der Präsident der Standeskommission des Bernischen Anwaltsverbands auf die Seite des Anwalts gestellt (shame!):
Unterstützung hat Kettiger vom bernischen Anwaltsverband erhalten. Ulrich Hirt, Präsident der Standeskommission, hat Kapo-Kommandant Blättler einen geharnischten Brief geschickt. «Es ist nicht die Aufgabe der Polizei, das Verhalten eines Anwalts zu beurteilen und öffentlich zu kommentieren», sagt Hirt dazu.
Welche Berufsregel der Anwalt verletzt haben soll, ist mir nicht ganz klar. Die Berufsregeln sind abschliessend in Art. 12 BGFA geregelt.

Unteilbarkeit des Strafantrags, etc.

Allein heute hat das Bundesgericht wieder nicht weniger als 12 Entscheide mit Bezug zum Strafrecht ins Netz gestellt. Soweit ich es beurteilen kann befindet sich darunter nur ein Urteil, das mir erwähnenswert erscheint, und zwar nicht bloss weil es als einziges zugunsten des Beschwerdeführers ausfiel:

Im Urteil vom 29.06.2006 (6S.159/2006) ging es um einen Streit um die Verletzung des Berufsgeheimnisses der Anwälte in einem Aufsichtsverfahren. Auf einen Strafantrag ist die Freiburger Justiz wegen Verletzung der Unteilbarkeit des Strafantrags nicht eingetreten. Damit hat sie gemäss Bundesgericht Art. 30 StGB verletzt:
Or, conformément au considérant précédant, la recourante n'avait pas à étendre sa plainte à d'autres personnes dans la mesure où celles-ci n'avaient manifestement pas participé à l'infraction en cause. Dès lors, enécartant la plainte sans déterminer si la recourante l'avait limitée et, le cas échéant de manière correcte, l'autorité cantonale a violé l'art. 30 CP. Le pourvoi doit donc être admis, l'arrêt attaqué annulé et la cause renvoyéeà la Chambre pénale pour nouvelle décision (E. 2.2).
Für die übrigen Entscheide beschränke ich mich (bis auf den erstgenannten) auf die Übersicht des Bundesgerichts:

27.06.2006, 1P.195/2006, Strafprozess [ein weiterer Entscheid zu § 414 Abs. 4 StPO/ZH, der allerdings zu einem anderen Ergebnis führte als der erste (s. meinen früheren Beitrag)]

15.06.2006, 1P.235/2006, Questions de compétences, garantie du juge du domicile et du juge nature, procédure pénale, récusation

27.06.2006, 1P.383/2006, Procédure pénale, non-lieu

27.06.2006, 6A.46/2006, Straf- und Massnahmenvollzug, Probeweiser Aufschub der Landesverweisung

28.06.2006, 6S.179/2006, Straftaten, Betrug etc. und Widerruf

29.06.2006, 1P.281/2006, Verfahren, Strafverfahren; Beweiswürdigung

29.06.2006, 1S.10/2006, Strafprozess, Beschlagnahme

29.06.2006, 1S.9/2006, Strafprozess, Beschlagnahme

30.06.2006, 1A.80/2006, Rechtshilfe und Auslieferung, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen an Deutschland

03.07.2006, 6S.139/2006, Droit pénal (en général), Fixation de la peine (art. 63 CP); refus du sursis (art. 41 CP); violation d'une obligation d'entretien (art. 217 CP)

06.07.2006, 1P.382/2006, Strafprozess, Untersuchungshaft

Amtlicher Verteidiger oder unentgeltlicher Rechtsbeistand?

Der Kassationshof hebt ein Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Solothurn als willkürlich auf (Urteil 6A.36/2006 vom 27.06.2006). Der Beschwerdeführer hatte in einem SVG-Administrativverfahren einen amtlichen Verteidiger statt einen unentgeltlichen Rechtsbeistand beantragt.

Der Entscheid lässt vermuten, dass es sich beim Beschwerdeführer um einen "Stammkunden" der Solothurner Justiz handelt. Umso unverständlicher ist, dass sie ihm einen regelrechten Elfmeter setzt, den dieser kaltblütig verwertet hat. Aus den (deutlichen) Feststellungen des Bundesgerichts:
Die Vorinstanz führt dazu aus, der amtliche Verteidiger sei ein Institut des Strafrechts und dem Verwaltungsrecht fremd. Folglich könne dem Antrag auf Einsetzung eines amtlichen Verteidigers nicht stattgegeben werden. Da der Beschwerdeführer Jus studiere und selber Leute in Rechtsfragen berate, sei davon auszugehen, dass sein Antrag tatsächlich auf einen amtlichen Verteidiger und nicht auf einen unentgeltlichen Rechtsbeistand gelautet habe und nicht uminterpretiert werden müsse (angefochtener Entscheid S. 10 E. 7). Dagegen bringt der Beschwerdeführer vor Bundesgericht vor, mit dem amtlichen habe er selbstverständlich einen unentgeltlichen Verteidiger gemeint. Die Rüge ist begründet, denn die Ausführungen der Vorinstanz verstossen gegen das Verbot des überspitzen Formalismus. Dieses leitet sich aus dem Rechtsverweigerungsverbot bzw. dem Gebot von Treu und Glauben ab, und es richtet sich gegen eine prozessuale Formstrenge, die als exzessiv erscheint, durch kein schutzwürdiges Interesse gerechtfertigt ist, zum blossen Selbstzweck wird und die Verwirklichung des materiellen Rechts in unhaltbarer Weise erschwert oder gar verhindert (E. 3).

Rechtsverweigerung durch Bundesanwaltschaft

In einem Rechtshilfeverfahren hat das Bundesgericht eine Rechtsverweigerungsbeschwerde gegen die Bundesanwaltschaft teilweise gutgeheissen. Aus dem Urteil 1A.77/2006 vom 27. Juni 2006:
Hat die Bundesanwaltschaft den Antrag um Freigabe der Fr. 30'000.-- - trotz mehrmaliger Aufforderung der Beschwerdeführerin - nicht behandelt, liegt darin eine Rechtsverweigerung. Die Beschwerde ist in diesem Punkt begründet. Die Sache ist an die Bundesanwaltschaft zurückzuweisen, damit diese über den Antrag befinde (E. 2.4)

Donnerstag, Juli 13, 2006

Begründung im Fall Turina / Quellenschutz

Das Bundesgericht hat das zur Publikation in der amtlichen Sammlung vorgesehene Urteil (6P.45/2006 vom 11.05.2006) im Fall Turina / Quellenschutz ins Netz gestellt. Erste Berichte finden sich in Tagi und NZZ (s. meinen letzten Beitrag dazu).

Verfassungswidrige Ausforschung

Erneut hat das Bundesverfassungsgericht eine Durchsuchung als verfassungswidrig erklärt (BVerfG, 2 BvR 2030/04 vom 3.7.2006). Diesmal fand die unerlaubte "fishing expedition" in einem Steuerstrafverfahren statt.

Zu den Voraussetzungen einer Durchsuchung hält das BVerfG folgendes fest:
Das Gewicht des Eingriffs verlangt als Durchsuchungsvoraussetzung Verdachtsgründe, die über vage Anhaltspunkte und bloße Vermutungen hinausreichen. Ein Verstoß gegen diese Anforderungen liegt vor, wenn sich sachlich zureichende plausible Gründe für eine Durchsuchung nicht mehr finden lassen (N 14).

Eine Durchsuchung ist schließlich nur dann zulässig, wenn gerade diese Zwangsmaßnahme zur Ermittlung und Verfolgung der in Frage stehenden Straftat erforderlich ist. Dies ist nicht der Fall, wenn andere, weniger einschneidende
Mittel zur Verfügung stehen (N 15).
Beide Voraussetzungen waren im vorliegenden Fall nicht erfüllt:
Die Verdachtsgründe, die sich gegen den Beschwerdeführer richteten, reichten allenfalls sehr geringfügig über bloße Vermutungen und vage Anhaltspunkte hinaus. Es ist äußerst bedenklich, den Verdacht der Steuerhinterziehung allein darauf zu gründen, dass eine dem Verdächtigen nahe stehende Person zu seinen Gunsten über einen großen Geldbetrag verfügt, der nicht aus versteuertem Einkommen stammt ( N 18).
Und weiter:
Selbst wenn man voraussetzen wollte, dass allein der dem Beschwerdeführer vorteilhaften Geldzahlung an seine Ehefrau ein Verdacht der Steuerhinterziehung entnommen werden könnte, so war die angeordnete Durchsuchung doch jedenfalls deshalb unverhältnismäßig, weil zur Aufklärung der Herkunft des Geldes andere Mittel zur Verfügung gestanden hätten, die gar nicht oder weniger empfindlich in Grundrechte des Beschwerdeführers oder anderer Grundrechtsträger eingegriffen hätten [...].Es mag für die Ermittlungsbehörden mühevoller sein, auf diese Weise durch Auskunftsersuchen und eventuell durch Zeugenvernehmungen die Hinweise auf ein strafbares Verhalten zu überprüfen; der hohe Wert der Integrität der Wohnung verlangt diese Mühewaltung jedoch, bevor ein empfindlicher Eingriff in das Grundrecht aus Art. 13 Abs. 1 GG zulässig sein kann. Das Amtsgericht hätte deshalb nicht am selben Tage die Beschlagnahme von Bankunterlagen und die Durchsuchung der Wohn- und Geschäftsräume des Beschwerdeführers anordnen dürfen, sondern es hätte die Ermittlungsbehörden zunächst auf die Bankauskünfte verweisen müssen, um erst nach einer Bestätigung des Verdachts durch diese Ermittlungen einen Eingriff in das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 13 Abs. 1 GG zu prüfen (N 20).

Nach diesen Masstäben gäbe es in der Schweiz wohl keine legale Hausdurchsuchung, was umso bedenklicher ist, als die Strafverfolger hierzulande die Durchsuchungen selbst anordnen können und als es gegen Durchsuchungen in der Regel keine Rechtsmittel geben soll.

Update 2: Menschenhandel im Sex-Milieu?

Im zürcher Menschenhandel-Prozess (s. meinen früheren Beitrag) berichtet die NZZ heute vertieft. Danach kam es in 69 von 74 eingeklagten Fällen zu Freisprüchen. Ein Richter hat offenbar sogar in allen Fällen für Freispruch vom Vorhalt des Menschenhandels gestimmt.

Unglaubhafte Aussagen alter Motorradfahrer-Kollegen

In einem heute online gestellten Entscheid (Urteil 1P.227/2006 vom 30.06.2006) bestätigt das Bundesgericht die Verurteilung eines Motorradfahrers, obwohl seine Beweismittel nicht gewürdigt worden waren und obwohl drei Zeugen für ihn ausgesagt hatten. Aus dem Erwägungen des Bundesgerichts:

Zur behaupteten Verletzung des rechtlichen Gehörs:
War die Berechnung somit nicht geeignet, das Beweisergebnis zu beeinflussen,konnte sie das Obergericht ohne Gehörsverletzung stillschweigend übergehen, ohne sich dazu im angefochtenen Entscheid ausdrücklich zu äussern. Die Gehörsverweigerungsrüge ist unbegründet (E. 4).
Zur Würdigung der Zeugenaussagen: Hier wurde den Zeugen vorgeworfen, sie hätten bei der Polizei (teilweise am Telefon!) anders ausgesagt als vor Obergericht:
Es trifft zwar durchaus zu, dass die Version des Beschwerdeführers durch die Zeugenaussagen seiner Begleiter gestützt werden. Unzutreffend ist, dass sie das Obergericht aus willkürlichen Gründen als unglaubhaft zurückwies. Auch wenn dem Beschwerdeführer zuzustimmen ist, dass im Polizeiprotokoll vom 25. Juni 2002 die Aussagen von D. und C. kaum so wörtlich erfolgten, wie sie niedergeschrieben sind, so ist kein Grund erkennbar, weshalb darin nicht deren wesentlicher Gehalt korrekt wiedergegeben sein sollte. Beide haben danach unmittelbar nach dem 23. Juni 2002 unmissverständlich ausgesagt, nicht gesehen zu haben, wie es zum Zwischenfall gekommen sei. Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass das Obergericht den Aussagen, die die beiden Jahre später als Zeugen machten und nach denen sie ein abruptes Bremsmanöver gesehen haben wollen, Skepsis entgegenbringt, zumal es sich bei den beiden, wie auch bei B., der das Bremsmanöver von A. ebenfalls bestätigt, um alte Motorradfahrer-Kollegen des Beschwerdeführers handelt. Auf jeden Fall legt der Beschwerdeführer nicht dar, inwiefern das Obergericht in Willkür verfallen ist, indem es auf die Aussagen von A. abstellte und sich von denjenigen des Beschwerdeführers und seiner drei Kollegen nicht überzeugen liess.
Und schliesslich:
Dass es kein Strafverfahren gegen die drei Zeugen wegen falscher Zeugenaussage einleiten liess, ist nachvollziehbar: dass diese das Obergericht nicht überzeugten, stellt noch keinen genügenden Beweis dafür dar, dass sie falsch seien. Daraus kann jedenfalls nicht der Umkehrschluss gezogen werden, es habe deren Aussagen für wahr gehalten. Die Willkürrüge ist offensichtlich unbegründet (E. 5.4).
Vor allem das letzte Argument des Bundesgerichts kann ich schlecht nachvollziehen. Es mag ja sein, dass das Obergericht die beiden Zeugen nicht wegen falschen Zeugnisses anzeigen musste, wenn es ihnen nicht glaubte. Vor dem Hintergrund der Unschuldsvermutung überzeugt die Begründung allerdings nicht. Aber die Unschuldsvermutung zählt im Strassenverkehr bekanntlich nicht mehr viel.

Mittwoch, Juli 12, 2006

Update: Interpellationen zur Staatsanwaltschaft SO

Gemäss einem Artikel der Solothurner Zeitung sind die Fragen aus dem Kantonsrat zur Staatsanwaltschaft (s. meinen früheren Beitrag) beantwortet. Danach werden zwar Mängel eingeräumt, aber wohl nicht ganz richtig eingeschätzt.

Erfreulich ist immerhin, dass einer der beiden wichtigsten Mängel wenigstens genannt wird. Die vorgeschlagene Lösung hingegen ist natürlich keine:
Optimierungspotenzial gebe es auch bei der Zusammenarbeit mit der Kantonspolizei, schreibt die Regierung. Es existiere keine gemeinsame Datenbank für die Erfassung der Strafanzeigen, was zu Doppelspurigkeiten und Effizienzverlust führe. Bis Mitte 2007 soll eine Lösung gefunden werden.
Als ob die fehlende Datenbank für die Erfassung der Strafanzeigen das Problem sei. Das Problem ist vielmehr, dass die Polizei das neue Strafverfolgungsmodell unterläuft, indem sie die Staatsanwaltschaft oft erst viel zu spät informiert. Etwas überspitzt: Der Staatsanwalt wird erst informiert, wenn wir einen Durchsuchungsbefehl brauchen.

Das andere Problem ist ein ähnliches wie bei der Bundesanwaltschaft. Das kennen zwar alle, aber niemand sagt es öffentlich. An diese Regel halte ich mich diesmal auch.

Update: Menschenhandel im Sex-Milieu?

Das Urteil im Zürcher Menschenhandel-Verfahren (s. meinen früheren Beitrag) liegt vor, wird aber wohl nicht rechtskräftig. Das Gericht erkannte nur in sieben Fällen auf Menschenhandel und blieb mit den verhängten Strafen deutlich unter den Anträgen der Staatsanwaltschaft, welche bereits Berufung angekündigt hat (s. dazu den heutigen Bericht der NZZ).

Hin und Heer

Das Bundesgericht hebt einen Entscheid des Obergerichts des Kantons Luzern wegen Verletzung von Art. 30 Abs. 1 BV auf. Den Sachverhalt kann ich mir ersparen und einfach aus dem Entscheid (Urteil 6P.102/2005 vom 26.06.2006) zitieren:
Die II. Strafkammer wurde lediglich für die Hauptverhandlung mit Oberrichterin Wolfisberg besetzt. Bei der Urteilsberatung und -fällung dagegen trat Oberrichterin Heer-Hensler wieder an ihre Stelle. Dieses Hin und Her begründet das Obergericht in seiner Vernehmlassung mit keinem Wort, und es ist auch aus den Akten nicht ersichtlich, weshalb Oberrichterin Wolfisberg bei der Urteilsberatung und -fällung nicht mehr mitwirkte, obschon sie sich für die Hauptverhandlung in den Fall hatte einarbeiten müssen (E. 3; Hervorhebungen durch mich).

Dienstag, Juli 11, 2006

Hausdurchsuchung bei US-Parlamentarier

Im Anschluss an die Durchsuchung der Büros des US-Kongressabgeordneten William J. Jefferson durch das FBI ist eine rege Diskussion über deren Verfassungsmässigkeit entbrannt, welche nun zu einem ersten Gerichtsentscheid geführt hat. Ein Bundesrichter hatte das Gesuch Jeffersons zu beurteilen, der die Herausgabe der beschlagnahmten Unterlagen beantragt hatte. Eine Zusammenfassung des Urteils vom 10.07.2006 und weiterführende Links finden sich bei Joe Hodnicki.

Kurzen Prozess macht das Urteil mit der geltend gemachten Verletzung des Prinzips der Gewaltentrennung:
If there is any threat to the separation of powers here, it is not from the execution of a search warrant by one co-equal branch of government upon another, after the independent approval of the third separate, and co-equal branch. Rather, the principle of the separation of powers is threatened by the position that the Legislative Branch enjoys the unilateral and unreviewable power to invoke an absolute privilege, thus making it immune from the ordinary criminal process of a validly issued search warrant. This theory would allow Members of Congress to frustrate investigations into non-legislative criminal activities for which the Speech or Debate Clause clearly provides no protection from prosecution. “Our speech or debate privilege was designed to preserve legislative independence, not supremacy.” Brewster, 408 U.S. at 508. The execution of the search warrant upon Congressman Jefferson’s congressional office did not violate the separation of powers principle.
Die beschlagnahmten Unterlagen sind übrigens auf Anordnung des Präsidenten versiegelt und dem Zugriff des FBI entzogen, solange kein endgültiger Entscheid vorliegt.

Von wegen Sommerpause ...

Gleich acht Entscheide zum Strafrecht, Strafprozessrecht bzw. Auslieferungsrecht hat das Bundesgericht heute online gestellt. Soweit ich es beurteilen kann, sind allerdings keine besonders erwähnenswerte Urteile darunter. Hier der Überblick:

  • 15.05.2006, 6S.98/2006, Procédure, Abus de confiance

  • 06.06.2006, 6S.87/2006, Strafrecht (allgemein), Sexuelle Handlungen mit Kindern, Pornografie, Art. 136 StGB und BetmG

  • 15.06.2006, 1P.241/2006, Procédure pénale, procédure pénale: assistance juridique; frais de photocopies

  • 15.06.2006, 6S.464/2005, Verfahren , Art. 9 BV sowie Art. 5 und 6 EMRK (Strafverfahren; willkürliche Beweiswürdigung)

  • 15.06.2006, 6S.201/2006, Infractions, Lésions corporelles graves par négligence (art. 125 al. 2 CP)

  • 15.06.2006, 6S.203/2004, Strafrecht (allgemein), Art. 60 StGB (Verwendungen zugunsten der Geschädigten)

  • 26.06.2006, 1P.255/2006, Strafprozess, Strafverfahren; Gerichtliche Beurteilung

  • 27.06.2006, 1A.62/2006, Assistenza giudiziaria e estradizione, assistenza giudiziaria internazionale in materia penale all'Italia

Montag, Juli 10, 2006

Vom Bundesrat beantwortete Vorstösse

Offenbar macht das Straf- und Strafprozessrecht Sommerpause. Öffentlich diskutiert werden derzeit nur Verschwörungstheorien im Zusammenhang mit dem Rücktritt des Bundesanwalts und die Aufhebung der Immunität einer zurückgetretenen Regierungsrätin. Selbst das Bundesgericht scheint heute das Strafrecht zu vernachlässigen.

Ich nutze die Gelegenheit, um wieder mal auf die vom Bundesrat beantworteten Vorstösse hinzuweisen, von denen mir allerdings auch nur einer aufgefallen ist, und zwar weniger wegen seiner Relevanz:

06.3239 n Ip. Baumann J. Alexander. USA-Kritik an der Menschenrechtspraxis der Schweiz. Aus der Antwort des Bundesrats:
Der Bericht hält demnach fest, dass in der Öffentlichkeit gemachte rassistische oder antisemitische Äusserungen in der Schweiz unter Strafe gestellt sind. Aus diesem Kontext ergibt sich, dass es sich um eine rein faktische, nicht wertende Feststellung handelt. Der Bundesrat sieht daher keinen Handlungsbedarf.
Dumm gelaufen, Herr Nationalrat. Aber das kommt davon, wenn man nicht liest, was einen so sehr beschäftigt, dass man den Bundesrat zu bemühen glaubt.

Freitag, Juli 07, 2006

Fristablauf vor Ablauf der Abohlfrist

Während der Abholfrist ist einem Beschwerdeführer eine Frist zur Leistung eines Kostenvorschusses in einem Appellationsverfahren verstrichen. Das Appellationsgericht trat folglich nicht auf die Appellation ein. Dagegen führte der Beschwerdeführer staatsrechtliche Beschwerde ans Bundesgericht. Dieses wies die Beschwerde ab (Urteil 1P.279/2006 vom 19.06.2006), weil der Beschwerdeführer nach Kenntnis der Frist nicht reagiert hat. Aus dem Entscheid:
Wird eine Verfügung nicht innert der Frist von sieben Tagen abgeholt, gilt sie als am letzten Tag dieser Abholfrist zugestellt (BGE 123 III 492 E. 1 S. 493; 120 III 3 E. 1d; 119 V E. 4b/aa S. 94). Dies war im vorliegenden Fall der 23. März 2006. Dem Beschwerdeführer ist zuzugestehen, dass die Frist zur Leistung des Kostenvorschusses noch innerhalb der Postabholfrist, nämlich am 22. März 2006, und damit vor Ablauf der Zustellfiktion abgelaufen ist. Insofern hätte der Appellationsgerichtspräsident die Abholfrist bei der Festsetzung der Kostenvorschussfrist berücksichtigen und mit einberechnen müssen. Indes hat der Beschwerdeführer in keiner Weise auf diesen Umstand reagiert, sondern untätig zugewartet, bis am 4. April 2006 die angefochtene Verfügung erging. Es wäre ihm durchaus zuzumuten gewesen, sofort bei Entgegennahme der Verfügung vom 14. März 2006 ein Wiedereinsetzungsgesuch zu stellen oder zumindest darauf hinzuweisen, dass es ihm gar nicht möglich gewesen sei, fristgerecht zu zahlen. Sobald er von der ihn berührenden Verfügung Kenntnis erhalten hatte, hätte er die zur Wahrung seiner Rechte notwendigen Schritte unverzüglich unternehmen müssen. Sein Stillschweigen verstösst gegen Treu und Glauben im Rechtsverkehr und verdient keinen Rechtsschutz (E. 2.2).

Donnerstag, Juli 06, 2006

Menschenhandel im Sex-Milieu?

Unter diesem Titel berichtet die NZZ über einen Strafprozess im Kanton Zürich. Dort wird einem ehemaligen Betreiber einer Kontaktbar Menschenhandel (Art. 196 StGB) vorgeworfen. Die Staatsanwältin fordert 5 1/2 Jahre Zuchthaus, die Verteidigung eine bedingte Gefängnisstrafe für Förderung der Prostitution (Art. 195 StGB). Der Verteidiger, Valentin Landmann, argumentierte gemäss NZZ wie folgt:

Sein Mandant habe kaum aktiv Frauen anwerben müssen, diese hätten sich vielmehr selber bei ihm gemeldet. Die funktionierende Mundpropaganda sei ein klares Indiz dafür, dass die Verhältnisse im «Help» so schlimm nicht gewesen sein könnten. Landmann stellte grundsätzliche Fragen zur neuen Bundesgerichtspraxis. Diese führe zu einer Entmündigung von Frauen aus ärmlichen Verhältnissen, denn ihnen werde das Selbstbestimmungsrecht genommen, sich mit Prostitution Geld zu verdienen. Konsequent angewandt dürfe sich nur noch prostituieren, wer aus guten Verhältnissen komme. Dies führe zu einer absurden und sicherlich von niemandem gewollten neuen Klassengesellschaft. Landmann bestritt nicht, dass es vor allem wirtschaftliche Gründe seien, die eine Frau in die Prostitution trieben. Es könne aber nicht angehen, einem Bordellbetreiber deshalb gleich Menschenhandel vorzuwerfen. Schliesslich werde diese Frage auch nicht gestellt, wenn ein Eisenleger aus Kosovo oder ein Kindermädchen aus Osteuropa in der Schweiz Arbeit suche.
Hat schon was, nicht?

Noch mehr Sicherheit

Der Regierungsrat des Kantons Solothurn präsentiert ein Massnahmenpaket zur Erhöhung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und lädt dazu ein, die Sommerferien zur Vernehmlassung zu nutzen. Aus der Botschaft:
Die drei neuen Instrumente der Polizei (Wegweisungskompetenz, das Vermummungsverbot sowie die Möglichkeit, Videoanlagen einzusetzen) sind geeignet, das Sicherheitsgefühl zu erhöhen sowie Straftaten und Gewalt, insbesondere an Grossanlässen, zu verhindern. Mit der Schaffung der Polizeilichen Sicherheitsassistenten/innen wird es ausserdem möglich sein, die polizeiliche Präsenz spürbar zu verstärken. Die subjektive Sicherheit der Bevölkerung wird erhöht; ausserdem dürften potentielle Straftäter wegen des erhöhten Risikos, gefasst zu werden, vermehrt von ihrem Tun absehen.
Sie scheint ja gar nicht so schwierig zu sein, die Sache mit der Sicherheit. Die Vernehmlassungsfrist endet am 1. Oktober 2006.

BWIS II - Vernehmlassung eröffnet

Wie das EJPD gestern mitteilte, ist die Vernehmlassung zu BWIS II eröffnet. Das Projekt soll die innere Sicherheit stärken. Der Gesetzesentwurf und ein erläuternder Bericht sind online.

Gemäss Tagesanzeiger bläst der Bundesrat zum Lauschangriff (vgl. dazu meine früheren Beiträge, etwa hier und hier).

In anderem Zusammenhang teilt die NZZ mit, dass der Bundesrat nun nachträglich die Bewilligung erteilt hat, Drohnen der Armee zur Überwachung der Landesgrenzen einzusetzen (vgl. dazu meinen früheren Beitrag).

Revision AT StGB

Der Bundesrat hat unter dem Vorbehalt eines Referendums beschlossen, den nachgebesserten revidierten Allgemeinen Teil des StGB per 1. Januar 2007 in Kraft zu setzen, womit eine klaffende Legisvakanz endlich beseitigt wird. Die Medienmitteilung mit weiterführenden Links findet sich hier.

Mittwoch, Juli 05, 2006

Update 7: Staatsanwälte unter Druck

Die NZZ weiss, was beim Bundesanwalt Strategie bedeutet:
[Der Bundesanwalt] wird sich bis zu seinem Rücktritt Ende Jahr nur noch um strategische Geschäfte kümmern, zum Beispiel um die laufende Analyse über die Wirksamkeit und Organisation der Strafverfolgung, welche eine Expertengruppe unter dem Zuger Regierungsrat Hanspeter Uster vornimmt (Hervorhebung durch mich).
Von wegen „nur noch“. Ein bisschen Strategie kann doch gerade im Bereich Strafverfolgung nicht schaden; und das gilt beileibe nicht nur für die Bundesstrafverfolger.

Update 6: Staatsanwälte unter Druck

Bundesanwalt Roschacher tritt zurück, allerdings erst per Ende Jahr. Die Pressemitteilung der BA ist online.

Wenn nicht alles täuscht, macht Roschacher jetzt auch noch seinen Rücktritt falsch. Es kann ja wohl nicht klug sein, dass er nun ein halbes Jahr lange an strategischen Geschäften weiterwurstelt (Bundesanwaltschaft? strategische Geschäfte?), während ein anderer die operative Führung übernimmt und während die Administrativuntersuchungen weiterlaufen.

Dienstag, Juli 04, 2006

Verjährungsrechtliche Einheit oder Handlungseinheit?

Das Bundesgericht kassiert einen Entscheid des Obergerichts des Kantons Zürich wegen bundesrechtswidriger Anwendung des Verjährungsrechts. Die neue Rechtsprechung wird in E. 1.2 des Entscheids (6S.158/2006 vom 09.06.2006) wie folgt zusammengefasst:
In BGE 131 IV 83 (Entscheid 6S.163/2004 vom 11. November 2004, E. 2.4.4) hat das Bundesgericht die Figur der verjährungsrechtlichen Einheit aufgegeben. Dies verunmöglicht es aber nicht, mehrere tatsächliche Handlungen in gewissen Fällen rechtlich als Einheit zu qualifizieren. Zunächst ist an Fälle der tatbestandlichen Handlungseinheit zu denken. Eine solche liegt einmal bei Dauerdelikten aber auch dann vor, wenn das tatbestandsmässige Verhalten mehrere unter Umständen auch länger andauernde Einzelhandlungen voraussetzt (z.B. Misswirtschaft, Art. 165 StGB). Weiter können mehrere Einzelhandlungen im Sinne einer natürlichen Handlungseinheit zusammengefasst werden, wenn sie auf einem einheitlichen Willensakt beruhen und wegen des engen räumlichen und zeitlichen Zusammenhangs bei objektiver Betrachtung noch als ein einheitliches Geschehen erscheinen (z.B. eine "Tracht Prügel"). Die natürliche Handlungseinheit kann jedoch nur mit Zurückhaltung angenommen werden, will man nicht das fortgesetzte Delikt oder die verjährungsrechtliche Einheit unter anderer Bezeichnung wieder einführen. Abgesehen von den Konstellationen der Tateinheit ist der Lauf der Verjährung für jede Tathandlung gesondert zu beurteilen. Bei Dauerdelikten beginnt die Verjährung mit Beendigung des rechtswidrigen Zustands (Art. 71 lit. c StGB), ansonsten mit der Ausführung der letzten Tätigkeit (Art. 71 lit. b StGB) zu laufen (BGE 131 IV 83 E. 2.4.5; Entscheide 6S.397/2005 vom 13. November 2005, E. 2 und 6S.275/2005 vom 14. Dezember 2005 E. 3.1.1.3). (E. 1.2).

Montag, Juli 03, 2006

"Dass"-Entscheid des Bundesgerichts

Es ist festzustellen
- dass auch das Schweizerische Bundesgericht seit einiger Zeit sog. "Dass"-Entscheide fällt;
- dass es solche Entscheide bisweilen auch ins Netz stellt;
- dass das heute online gestellte Urteil 1P.336/2006 vom 23.06.2006 ein solcher "Dass"-Entscheid ist;
- dass "Dass"-Entscheide den Strichpunkt fördern;
- dass "dass" auf französisch "que" heisst;
- dass "Dass"-Entscheide als unglaublich zwingend erscheinen, indem sie den Eindruck erwecken, abschliessend aufzeigen, was das Bundesgericht in Erwägung gezogen hat;
- dass das auch mit stilistisch besseren Methoden erzielt werden kann und
- dass es daher keinen vernünftigen Grund für "Dass"-Entscheide gibt.

Update: Datenschutz c. Staatsschutz

Der Eidgenössische Datenschutzbeauftragte, der nun Eidgenössischer Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauftragter (EDÖB) heisst, hat seinen Tätigkeitsbericht 2005/2006 vorgestellt. Dabei hat er u.a. angesichts des Ausbaus des Staatsschutzes neue Stellen für sein Amt gefordert, um seinen gesetzlichen Aufgaben nachkommen zu können. Ein Bericht der NZZ fasst dies so zusammen:
Thür wies erneut darauf hin, dass die ausgearbeiteten Entwürfe nicht mit den Grundsätzen des Datenschutzes vereinbar seien. Auch bei den Grundlagen für die Hooliganismusbekämpfung seien wichtige Punkte nicht genügend geklärt worden.
Im Gegensatz zum EDÖB glaube ich nicht, dass diese Punkte noch geklärt werden. Datenschutz ist aus mir beim besten Willen nicht erklärlichen Gründen nicht so populär wie Staatsschutz.

Samstag, Juli 01, 2006

Versuchte Erpressung durch Baujuristen

Der Strafprozess gegen einen Einsprecher Y. und einen Baujuristen X. in einem Baubewilligungsverfahren im Kanton Aargau ist abgeschlossen. Das Bundesgericht hat die Nichtigkeitsbeschwerden und die staatsrechtlichen Beschwerden abgewiesen, soweit es darauf überhaupt eintreten konnte (Urteile 6P.5/2006 und 6S.7/2006 vom 12.06.2006). Aus dem Sachverhalt:
Bei einem Telefongespräch vom 18. November 2002 forderte X., die Bauherrschaft müsse als angemessene Entschädigung eine Zahlung in der Höhe von Fr. 820'000.-- (entsprechend 4% der Bausumme) leisten. Die Bauherrschaft ging auf die Forderung nicht ein und erstattete am folgenden Tag Strafanzeige gegen Y. und X.
X. wurde wegen versuchter Erpressung zu 7 Monaten Gefängnis und zu einer Busse von CHF 3,000.00 verurteilt. Dieses Urteil hat das Bundesgericht nun bestätigt. Interessant sind die Erwägungen des Bundesgerichts zur Frage, ob die Drohung mit einem Beschwerdeverfahren als zulässig qualifiziert werden könne:
Wenn die angestrebte Verzichtsvereinbarung unter zivilrechtlichen Gesichtspunkten gültig verabredet werden kann, ist die Drohung als zulässig anzusehen. Wird dagegen die Vermögensverschiebung von der Rechtsordnung missbilligt, diente sie einem rechtswidrigen Zweck (E. 7.1).
Zu klären war damit, ob eine Verzichtsvereinbarung rechtswidrig (oder sittenwidrig?) sei und unter welchen Umständen dies der Fall sei:
Allgemein gilt, dass der entgeltliche Verzicht auf eine rechtliche Befugnis sittenwidrig ist, wenn er auf einer verpönten Kommerzialisierung der Rechtsposition der verzichtenden Partei beruht (BGE 123 III 101 E. 2c S. 105). [...]. Sittenwidrig ist die Verzichtsvereinbarung erst, wenn aufgrund der Umstände gänzlich ausgeschlossen werden kann, dass auf schutzwürdige Interessen des Nachbarn Bezug genommen wird (E. 7.2).
Im vorliegenden Fall scheiterte der Baujurist an seiner Forderung von CHF 820,000.00:
Der Beschwerdeführer stellt zu Recht nicht in Abrede, dass das geforderte Entgelt offensichtlich übersetzt war. Eine Vergütung in solcher Höhe liesse sich von vornherein nicht als Gegenleistung für die behaupteten Beeinträchtigungen des Nachbargrundstücks wie Lärmimmissionen oder Schattenwurf begreifen. Es ging ihm auch nicht um den Ausgleich nachbarrechtlicher Nachteile. Vielmehr hatte er die Absicht, für den Rechtsmittelverzicht eine finanzielle Abfindung erhältlich zu machen und die Bauherrschaft unter dem Eindruck der angedrohten Bauverzögerung zu einer exorbitanten finanziellen Leistung zu zwingen, die keinerlei Bezug zu allfälligen nachbarrechtlichen Nachteilen hatte. Die Verfahrensposition des Nachbarn im Bauverfahren wurde dadurch in einer Weise missbraucht, die als blosse zweckwidrige Kommerzialisierung der Rechtsposition und damit als sittenwidrig zu betrachten ist (E. 7.3).
Damit begibt sich das Bundesgericht (wohl oder übel) auf gefährliches Glatteis, indem es dem richterlichen Ermessen anheim stellt, die Angemessenheit der Entschädigung zu beurteilen und damit zu entscheiden, ob jemand ein Erpresser ist oder ob er völlig legal handelt.

Lesenswert sind schliesslich die Ausführungen des Bundesgerichts zur Konkurrenz zwischen Erpressung und Wucher unter E. 8. Hier verweise ich auf das oben verlinkte Urteil.