Mittwoch, Januar 31, 2007

Bundesgericht hebt Auslieferungshaftbefehl auf

In einem von den Medien (vgl. NZZ) bereits aufgenommenen Fall hat das Bundesgericht die Auslieferung eines Türken, der in der Schweiz vorläufig aufgenommen wurde, aufgehoben. Der zur Publikation in der amtlichen Sammlung vorgesehene Entscheid fasst die Gründe wie folgt zusammen:

Im vorliegenden Fall bestehenkeine ausreichend klaren, widerspruchsfreien und verlässlichen Verdachtsgründe dafür, dass der Verfolgte sich eines Tötungsdeliktes bzw. der Unterstützung oder Mitgliedschaft bei einer kriminellen Organisation strafbar gemacht hat. Zudem widerspräche eine Auslieferung des zur Tatzeit 15- bis 16-jährigen Verfolgten, der im Rahmen bürgerkriegsähnlicher Auseinandersetzungen einer separatistischen Widerstandsgruppe lose angehörte, 1996 mit 17 Jahren als Flüchtling in die Schweiz emigrierte, 1999 asylrechtliche vorläufige Aufnahme fand und seit mehr als 10 Jahren hier ohne Beanstandungen lebt, dem Sinn und Zweck des EAUe (E. 6).
In der Folge prüfte das Bundesgericht auch die Entlassung aus der Auslieferungshaft, die es wie folgt begründete:
Es stellt sich die Frage, ob sich im vorliegenden Fall eine nochmalige Ergänzung des Ersuchens rechtfertigt [...]. Aufgrund der Rechtshilfeakten kann nicht erwartet werden, dass die notwendigen zusätzlichen Abklärungen und Garantien innert angemessener Frist erhältlich wären. Das Ersuchen wurde vor mehr als dreieinhalb Jahren eingereicht, und der Verfolgte befindet sich seit fast einem Jahr in Auslieferungshaft (E. 7).
Interessant sind auch die Feststellungen des Bundesgerichts zur Frage, wie das EAUe in einem Fall auszulegen ist, der wie hier nach dem Recht des ersuchten Staates im Jugendstrafverfahren zu beurteilen wäre. Dazu enthält das EAUe keine Bestimmungen, was das Bundesgericht zur Feststellung führte, es liege eine zu füllende Lücke vor (geht das im Staatsvertragsrecht?). Es schloss (dann wohl doch nicht in Lückenfüllung), dass eine Auslieferung des Verfolgten dem Sinn und Geist des EAUe widerspräche.

Dienstag, Januar 30, 2007

Vereinheitlichung Strafprozessrecht

Die Rechtskommission des Nationalrats ist einstimmig auf die vom Ständerat bereits verabschiedete Schweizerische Strafprozessordnung eingetreten. Aus der gestrigen Medienmitteilung:
Die Kommission hat die Detailberatung der Vorlage aufgenommen und sich mehrheitlich für die Version des Ständerates ausgesprochen. Sie ist der Meinung, dass die Vorlage ausgewogen ist und den Erfordernissen ausgedehnter Verteidigungsrechte einerseits und einer wirksamen Strafverfolgung andererseits Rechnung trage. Verschiedene Minderheiten sind der Meinung, dass die Verteidigungsrechte noch weiter ausgebaut und die Kontrolle über die Strafverfolgungsbehörden (Polizei oder Staatsanwaltschaft) verstärkt werden sollte.
Zu hoffen bleibt, dass wenigstens noch ein paar unerträgliche Details korrigiert werden wie die Aufhebung des absoluten Zeugnisverweigerungsrechts der Anwälte. Art. 168 E StPO in der Version des Bundesrats lautet wie folgt:
Art. 168 Zeugnisverweigerungsrecht auf Grund eines Berufsgeheimnisses
1 Geistliche, Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte, Verteidigerinnen und Verteidiger, Notarinnen und Notare, Ärztinnen und Ärzte, Zahnärztinnen und Zahnärzte, Apothekerinnen und Apotheker, Hebammen sowie ihre Hilfspersonen können das Zeugnis über Geheimnisse verweigern, die ihnen auf Grund ihres Berufes anvertraut worden sind oder die sie in dessen Ausübung wahrgenommen haben.
2 Sie haben auszusagen, wenn sie:
a. einer Anzeigepflicht
unterliegen; oder
b. von der Geheimnisherrin, dem Geheimnisherrn oder schriftlich von der nach Artikel 321 Ziffer 2 StGB zuständigen Stelle von der Geheimnispflicht entbunden worden sind.
3 Die Strafbehörde beachtet das Berufsgeheimnis auch bei Entbindung von der Geheimnispflicht, wenn die Geheimnisträgerin oder der Geheimnisträger glaubhaft macht, dass das Geheimhaltungsinteresse das Interesse an der Wahrheitsfindung überwiegt.
Daraus machte der Ständerat folgendes:
Art. 168
Antrag der Mehrheit
Abs. 1
Zustimmung zum Entwurf des Bundesrates
Abs. 2
....
b. nach Artikel 321 Ziffer 2 StGB von der Geheimnisherrin, dem Geheimnisherrn oder schriftlich von der zuständigen Stelle von der Geheimnispflicht entbunden worden sind.
Abs. 3
.... dass das Geheimhaltungsinteresse der Geheimnisherrin oder des Geheimnisherrn das Interesse an der Wahrheitsfindung überwiegt.

Antrag der Minderheit
(Schiesser, Bürgi, Hess Hans, Schweiger, Stadler, Wicki)
Abs. 4
Das Bundesgesetz vom 23. Juni 2000 über die Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte bleibt vorbehalten.
Der Minderheitsantrag und alle übrigen Bestimmungen wurden angenommen.

Entsiegelungsverfahren

Das Bundesstrafgericht hat eine Reihe neuer Urteile ins Netz gestellt. Darunter befinden sich zwei Entsiegelungsenschtscheide nach Art. 69 BStP bzw. Art. 50 VStrR).

Im ersten Fall (BE.2006.4 vom 20.11.2006) waren in einem Anwaltsbüro beschlagnahmte Unterlagen zu entsiegeln. Im zweiten Fall (BE.2006.6 vom 20.12.2006) ging es um einen elektronischen Datenträger (Festplatte), der in einer Apotheke beschlagnahmt worden war.

In beiden Fällen hat das Bundesstrafgericht wohl den absoluten Schutz de Berufsgeheimnisse anerkannt, das Entsiegelungsgesuch der Strafverfolgungsbehörden unter Mitwirkung eines Bundesstrafrichters aber dennoch gutgeheissen, weil die beschlagnahmten Unterlagen nicht der berufsspezifischen Tätigkeit der Berufsgeheimnisträger zuzuordnen waren. Beim Anwalt handelte es sich um einen Verwaltungsrat, beim Apotheker begründete das Bundesstrafgericht seinen Entscheid wie folgt:
Le secret professionnel ne s’applique qu’aux documents et informations liés à l’activité typique du pharmacien, soit, notamment, à celle qui a trait à la fabrication ou à la remise de médicaments sur ordonnance, ainsi qu’aux contacts avec les médecins et au conseil des patients. Le pharmacien ne saurait par contre l’opposer à la saisie de papiers relatifs à une activité dont le caractère commercial est prépondérant (TPF BE.2004.7 du 11 avril 2006). En l’espèce, la fabrication et la distribution de produits homéopathiques sur une grande échelle ne constituent à l’évidence pas des activités typiques du pharmacien. Le secret professionnel ne peut donc pas être invoqué à cet égard (E. 4.1).
Die Begründung überzeugt nach wie vor nicht. Auch Freiberufler üben seit mindestens einem Jahrhundert primär kommerzielle, nach kaufmännischen Grundsätzen geführte Tätigkeiten aus. Das Berufsgeheimnis wurde ihnen nicht unter Strafandrohung auferlegt, weil sie keiner kommerziellen Tätigkeit nachgehen, sondern weil sie Aufgaben wahrnehmen (müssen), die sie ohne ein besonderes Vertrauensverhältnis nicht erfüllen könnten.

Schweizerische Doppelmoral

Die Schweiz, die sich bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit als selbsternannte Anwältin der Menschenrechte aufspielt und die Legitimation auf ihre Rolle als Depositarstaat der Genfer Konvention stützt (toller Leistungsausweis!), tut sich von jeher äusserst schwer, die Ansprüche zu erfüllen, die sie vollmundig an andere stellt.

Jüngstes Beispiel: Während die offizielle Schweiz Guantanmo öffentlich verurteilt, findet die Bundesanwaltschaft die Praktiken der Amerikaner im Krieg gegen den Terror halt irgendwie doch noch cool, zumindest aber praktisch. Sie liess es sich jedenfalls nicht nehmen, die Gefangenen via FBI zu Fotos von mutmasslichen Islamisten in der Schweiz befragen zu lassen.

Im Jahresbericht der GPK/GPDel (vgl. dazu meinen früheren Beitrag) findet sich darüber folgende Passage (S. 111):

Zum zweiten Fragenkomplex antwortete die BA, dass sie über den internationalen polizeilichen Zusammenarbeitsweg an die zuständige amerikanische Gerichtspolizei gelangte. Mit diesem Vorgehen sollte herausgefunden werden, ob die in der Schweiz angeschuldigten Personen den Inhaftierten bekannt waren oder ob diese Personen tatsächlich in der Nähe oder in den Trainingslagern in Afghanistan gesehen worden seien. Die Antwort erhielt die BA auf dem formellen justiziellen Rechtshilfeweg.

Die GPDel zeigte sich durch die Antworten befriedigt und sah keine Notwendigkeit für weitere Massnahmen seitens der Oberaufsicht.

Mehr dazu im Tages-Anzeiger.

Sonntag, Januar 28, 2007

Internet(selbst)zensur in der Schweiz

Gemäss SonntagsZeitung (kostenpflichtig) und anderen Medien (NZZ online, Tagesanzeiger, Yoga's Blog) wollen sich nun auch in der Schweiz zahlreiche Internet Service Provider selbst zensurieren. Die Idee ist auf den ersten Blick bestechend: Im Kampf gegen Kinderpronografie im Internet werden bekannte Sites mit einschlägigem Inhalt gesperrt und die Benutzer, welche die Sites aufrufen wollen, auf eine Informationsseite des fedpol umgeleitet. Die Provider verpflichten sich vertraglich, die Liste der gesperrten Sites weder zu veröffentlichen noch zu verkaufen.

Das Problem? So auf die Schnelle könnten es folgende sein:

  1. Der Erfolg ist höchst fraglich. Die Medien berichten berichten über angeblich spektakuläre Erfolge im Ausland, verschweigen aber, dass sich der Erfolg gar nicht messen lässt, da die Sperre relativ einfach zu umgehen ist.
  2. Die Liste schafft neue Gefahren. Wie Yoga's Blog mit gutem Grund vermutet, dürfte es eine Frage der Zeit sein, bis sie öffentlich zugänglich ist und damit zum Gegenteil dessen beiträgt, was beabsichtigt war.
  3. Es machen nicht alle Provider mit. Einer wird in der SonntagsZeitung wie folgt zitiert:
    Es gibt allerdings auch Internet­anbieter, die die Mitarbeit veweigern. Einige fürchten sich vor Kundenschwund, andere hegen Zensurängste. Für Fredy Künzler vom Winterthurer Provider Init7 haben die Kinderschützer ihre Idee «nicht zu Ende gedacht». Er ortet technische Probleme bei der Aufdatierung der Liste, zudem sei die Zensurfrage rechtlich nicht geklärt. «Es ist nicht die Aufgabe der Schweizer Internetanbieter, Kinderpornografie in Ländern wie Russland zu bekämpfen.» Vorgezogen hätte Künzler die Schaffung eines Gesetzes, das die Sperrungen regelt. «Jetzt ist es so, als ob der Briefträger beim Austragen der Post diese noch auf illegale Sendungen überprüfen müsste.»
  4. Die Provider öffnen mit der Selbstzensur ein paar Büchsen, die sie so rasch nicht wieder schliessen können. Es werden andere Organisationen an sie herantreten und für ihre Klientel dasselbe verlangen.
  5. Die Liste könnte schon bald einen neuen Sorgfaltsmassstab setzten, dessen Verletzung strafrechtlich relevant sein könnte.
  6. Es ist nicht Aufgabe Privater, Information zu qualifizieren und allenfalls zu zensurieren.

Es liegt auf der Hand: Ginge es nicht um Kinderpornografie, für die man schlechterdings nicht sein kann, würden sich alle Informationsanbieter mit Händen und Füssen gegen jeden Ansatz von Selbstzensur wehren. Wenn sie sich dann aber eines Tages - vielleicht bei einem weniger anrüchigen Thema - wirklich wehren wollen, wird es zu spät sein.

Freitag, Januar 26, 2007

SAirGroup: Bundesrat als Anstifter

Im SAirGroup-Prozess zeigen sich immer deutlicher die Unzulänglichkeiten des Strafrechts bei der Erfassung wirtschaftlich gescheiterter Unternehmungen.

Den Beschuldigten wird u.a. eine Zahlung über EUR 150 Mio. an Sabena vorgeworfen, welche den Tatbestand der ungetreuen Geschäftsbesorgung (Art. 159 StGB) erfüllen soll. Einer der Beschuldigten hat nun gemäss NZZ geltend gemacht, er habe vor Auslösung der Zahlung den Bundesrat konsultiert:
Die Bundesräte Leuenberger und Deiss hätten ihm daraufhin im Gespräch bedeutet, dass die Landesregierung von der SAirGroup erwarte, dass sie sich vertragskonform verhalte und die Zahlung an die Sabena leiste. Ein Grund dafür sei der Druck gewesen, den die belgische Regierung wegen der Ratifizierung der bilateralen Verträge mit der EU ausgeübt habe.
Strafrechtlich wäre nun wohl streng genommen zu prüfen, ob sich die beiden Bundesräte als Anstifter zu strafbar gemacht haben. Das wird selbstverständlich nicht geschehen und ist auch nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass es m.E. schlicht und einfach nicht möglich ist, eine serbelnde Gesellschaft zu sanieren oder zu retten, ohne Straftatbestände zu erfüllen.

Das vorliegende Beispiel macht es deutlich: Die inkriminierte Zahlung erfolgte ganz offensichtlich in Erfüllung einer vertraglichen Pflicht. Pflichterfüllung wird also - jedenfalls nach Auffassung der Staatsanwaltschaft - strafbar. Hätten die Verantwortlichen nicht bezahlt, hätten sie eine zivilrechtliche Pflicht verletzt mit der Folge, dass ihnen auch diese Pflichtverletzung als ungetreue Geschäftsbesorgung zum Vorwurf gemacht worden wäre.

Donnerstag, Januar 25, 2007

GPK/GPDel-Jahresbericht 2006

Der Jahresbericht 2006 der der Geschäftsprüfungskommissionen und der Geschäftsprüfungsdelegation der eidgenössischen Räte ist online. Er enthält zahlreiche Berichte über Themen, die in der Presse und auch in diesem Blog thematisiert werden. Das Kapitel 3.9 (Staatsschutz und Nachrichtendienste) enthält etwa folgende Themen:
  • Sicherheitspolitische Führung des Bundesrats und Aufbau der Auswerteplattformen zwischen den Nachrichtendiensten
  • Satellitenaufklärungssystem des VBS (Projekt „Onyx“)
  • Ausweisungsbeschluss gegen K.
  • „Rote Liste“ an der Feier zum 1. August 2006 auf dem Rütli
  • Fall Covassi
  • Quellenführung durch den Dienst für Analyse und Prävention
  • Fall Padilla
  • Das schweizerische Sicherheitsdispositiv und der Fall Mohamed Achraf
Im grossen Ganzen wird festgestellt, es laufe alles in geordnetem Rahmen. Die Medienkritik zu den Fällen wird weitgehend als unberechtigt zurückgewiesen.

Mittwoch, Januar 24, 2007

Zu teures Bundesstrafgericht

Das Bundesgericht hebt einen Kostenentscheid des Bundesstrafgerichts in einem heute online gestellten Entscheid (1S.16/2006 vom 09.01.2007) auf:
Mit Blick darauf ist die Gerichtsgebühr von Fr. 20'000.-- als übermässig hoch zu beurteilen. Zu berücksichtigen ist auch, dass das Bundesgericht in Fällen wie hier praxisgemäss keine derart hohen Gerichtsgebühren erhebt. Innerhalb der Bundesjustiz muss insoweit aber eine gewisse Kohärenz bestehen. Es geht nicht an, dass das Bundesstrafgericht in vergleichbaren Fällen deutlich höhere Gerichtsgebühren erhebt als das Bundesgericht (E. 7.4, Hervorhebung durch mich).
Vgl. dazu auch einen früheren Beitrag. Obwohl hier eine leichte Verstimmung nicht zu überhören ist ("Was meinen die in Bellinzona eigentlich?"), könnte/sollte man den Faden ohne weiteres auch in Bezug auf die kantonalen Verfahren aufnehmen. Auch innerhalb der gesamten Landesjustiz sollte "eine gewisse Kohärenz" bestehen, wovon wir teilweise weit entfernt sind.

Bundesgericht ordnet sofortige Haftentlassung an

Kurz vor der Entlassung von X. aus dem Strafvollzug erging eine neue Anklage gegen ihn. Die zuständige Gerichtspräsidentin erliess nach Einholung einer Stellungnahme beim Anwalt von X. einen neuen Haftbefehl wegen Fluchtgefahr.

Gleichentags wurde X. von der Strafvollzugsanstalt Bostadel in das Bezirksgefängnis Liestal eingeliefert. Am 21. Dezember 2006 wurde der Haftbefehl dem Verhafteten in Anwesenheit seines Verteidigers eröffnet. Anschliessend fand die Haftanhörung durch den Gerichtsschreiber des Strafgerichts Basel-Landschaft statt. Nach dieser Anhörung erging kein weiterer Entscheid.

Auf staatsrechtliche Beschwerde hin hob das Bundesgericht den neuen Haftbefehl mit folgender Begründung auf (1P.848/2006 vom 16.01.2007):
Zwar weist der vorliegende Fall die Besonderheit auf, dass dem Verteidiger des Beschwerdeführers vor Erlass des Haftbefehls schriftlich Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt worden ist. Die schriftliche Anhörung kann die verfassungsrechtlich vorgeschriebene mündliche Haftanhörung jedoch nicht ersetzen, es sei denn, der Inhaftierte verzichte auf die mündliche Anhörung. Ein derartiger Verzicht lässt sich dem Schreiben des Verteidigers vom 14. Dezember 2006 nicht entnehmen (E. 2.2, Hervorhebungen durch mich).
Die angeordnete Entlassung begründete das Bundesgericht wie folgt:
Die Praxis des Bundesgerichts, trotz Gutheissung der staatsrechtlichen Beschwerde das Haftentlassungsgesuch abzuweisen, wenn erstellt ist, dass die materiellen Haftvoraussetzungen vorliegen, kommt im vorliegenden Fall nicht zur Anwendung, nachdem sich noch keine kantonale Instanz mit den Einwänden des Beschwerdeführers gegen die Haftanordnung, namentlich zum Grundsatz "ne bis in idem", auseinandergesetzt hat. Es ist nicht Aufgabe des Bundesgerichts, erstinstanzlich, anstelle des Haftrichters, die Haftvoraussetzungen zu prüfen.
Dem ist nur zuzustimmen.

Scharfe Rüge an die Luzerner Justiz

Das Bundesgericht hat in einem zur Publikation in der amtlichen Sammlung vorgesehenen Urteil (1P.313/2006 vom 22.12.2006) eine in verschiedenen Kantonen gängige Praxis als verfassungswidrig qualifiziert, wonach auf ein Rechtsmittel des Beschuldigten nicht eingetreten wird, wenn dieser nicht zur zweitinstanzlichen Hauptverhandlung erscheint.

Im zu beurteilenden Fall war der in Deutschland wohnhafte Beschuldigte erstinstanzlich zu einer Zuchthausstrafe von viereinhalb Jahren verurteilt worden. Für die obergerichtliche Hauptverhandlung stellte er ein Dispensationsgesuch, welches abgewiesen wurde. In den Erwägungen dieses Entscheids stellte ihm das Obergericht des Kantons Luzern (für den Fall der Bestätigung einer unbedingten Freiheitsstrafe) dessen sofortige Verhaftung anlässlich der Berufungsverhandlung in Aussicht.

Zur Verhandlung erschien nur sein Verteidiger. Dieser erklärte, an der Berufung werde festgehalten und er sei bereit, die Berufung zu begründen. Das Obergericht schrieb die Appellation dennoch "als erledigt"von der Geschäftskontrolle ab mit der Begründung, durch sein Nichterscheinen habe der Beschwerdeführer auf Appellation "verzichtet" bzw. sein "Desinteresse" daran erklärt.

Aus den Erwägungen des Bundesgerichts:
Das verfassungsmässige Grundrecht auf Appellation und wirksame Verteidigung wird jedoch unterlaufen,wenn als Folge des unentschuldigten Ausbleibens des Angeklagten die Berufungselbst dann als "zurückgezogen" abgeschrieben wird, wenn der Verteidiger zur Berufungsverhandlung antritt und bereit ist zu plädieren. Eine solche Konsequenz erscheint nach der dargelegten Rechtslage unverhältnismässig und verfassungswidrig. Eine Verwirkung der Appellation kann nur bei einem sogenannten "Totalversäumnis" im Sinne der dargelegten Praxis (unentschuldigtes Ausbleiben sowohl des Angeklagten als auch des Verteidigers) in Frage kommen (E. 8.1).
Diesem Argument fügte das Bundesgericht - an sich ohne Not aber in begrüssenswerter Klarheit - weitere hinzu:
Von diesen grundsätzlichen Erwägungen abgesehen, erscheint das prozessuale Vorgehen der kantonalen Justizbehörden im vorliegenden konkreten Fall auch noch aus zusätzlichen Gründen unfair, überspitzt formalistisch und unverhältnismässig. Nach Treu und Glauben (Art. 9 BV) kann hier nicht von einem (konkludenten) "Verzicht" auf die ausdrücklich erklärte Appellation ausgegangen werden [...]. Hier kommt noch hinzu, dass ein gesetzlicher Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt und der Angeklagte erstinstanzlich zu einer Strafe von viereinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. Ausserdem war der Beschwerdeführer zur erstinstanzlichen Hauptverhandlung persönlich erschienen (E. 8.2).

Montag, Januar 22, 2007

Der Straf-Rechtsstaat treibt neue Blüten

Im Kanton Solothurn ist am 1. Januar 2007 das Archivgesetz in Kraft getreten. Wie im modernen Strafrechtsstaat hat der demokratische Gesetzgeber es nicht unterlassen, neue Strafbestimmungen zu erlassen. § 13 lit. a lautet wie folgt:
Mit Busse bis zu 4'000 Franken wird bestraft, wer vorsätzlich archivwürdige Dokumente beiseite schafft oder vernichtet.
Sie wissen nicht, was archivwürdige Dokumente sind? Die Antwort liefert der Gesetzgeber natürlich auch. Er definiert in § 4 den Begriff Dokumente (!) wie folgt:

Dokumente sind
a) amtliche Dokumente nach § 4 des Informations- und Datenschutzgesetzes vom 21. Februar 2001 sowie alle Hilfsmittel und ergänzenden Daten, die zu deren Verständnis und Benutzung notwendig sind;
b) Dokumente nichtstaatlicher Herkunft, welche die staatliche Überlieferung ergänzen oder Überlieferungslücken schliessen.
Nachdem wir nun also den Begriff "Dokument" kennen, verstehen und bereits ein bisschen schätzen gelernt haben, müssen wir nur noch wissen, was "archivwürdig" bedeutet, denn Nichtwissen schützt bekanntlich vor Strafe nicht. Der Gesetzgeber lässt seine Bürger auch in diesem Punkt nicht im Stich und erklärt ihnen in § 5 auch das:
Archivwürdig sind Dokumente, die
a) der Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit dienen;
b) die Transparenz und Nachvollziehbarkeit staatlichen Handelns gewährleisten;
c) die Aufarbeitung von Themen der Wissenschaft und Forschung ermöglichen.
Da nun alles klar ist, könnten wir das Archivgesetz ja wieder schliessen und weglegen. Lassen wir uns dabei aber nicht erwischen: Das Archivgesetz selbst stellt ohne jeden Zweifel ein archivwüridges Dokument dar, dessen Beiseiteschaffen strafbar ist. Der fortgeschrittene Leser fragt sich völlig zu Recht, ob er diesen Blogbeitrag je wieder straffrei schliessen kann. Ich persönlich glaube: eher nicht, nein.

Samstag, Januar 20, 2007

Verurteilt ohne Gelegenheit, Verteidigungsrechte auszuüben

X. suchte die Staatsanwaltschaft Neuenburg auf, um sich Kopien anfertigen zu lassen. Dabei verlangte er eine Entschädigung für seine Transportkosten und weigerte sich, die Amtsstelle wieder zu verlassen. solange seine Forderung nicht erfüllt sei. Daraufhin rief ein Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft die Polizei, welche mit vier Beamten unter der Leitung eines Korporals anrückte. Nach einer halbstündigen, erfolglos verlaufenen Diskussion beschloss der Korporal, X. mit Gewalt aus dem Gebäude zu entfernen und auf den Polizeiposten zu bringen. Ein Passant, der die Szene beobachtete, erachtete das Vorgehen der Beamten als zu brutal und veranlasste X. zur Strafklage wegen Amtsmissbrauchs. Auf die Klage folgte eine noch nicht beendete Odyssee durch die Mühlen der Justiz:

  1. Auf die Strafklage traten die zuständigen Strafverfolgungsbehörden mangels übermässiger Gewaltanwendung nicht ein.
  2. Der Nichteintretensentscheid wurde durch die Anklagekammer auf Beschwerde von X. hin aufgehoben.
  3. In der Folge wurden die Beamten B. und C. an den zuständigen Richter überwiesen wegen Verdachts der einfachen Körperverletzung (Art. 123 StGB), ev. der Tätlichkeit (Art. 126 StGB) und des Amtsmissbrauchs (Art. 312 StGB). Die Anklagebehörde beantragte Freispruch. Diesem Antrag folgte das Gericht.
  4. Auf Beschwerde von X. hin hat der Kassationshof den Freispruch von B. und C. kassiert und zur neuen Beurteilung zurückgewiesen. Der Kassationshof kam zur Auffassung, dass die beiden Beamten den Tatbestand des Amtsmissbrauchs erfüllt hätten. Zudem sei auch der Vorgesetzte A. zur Beurteilung zu bringen, zumal er den Einsatz geleitet hatte.
  5. Das Gericht sprach C. erneut frei, verurteilte dagegen A. und B. wegen Amtsmissbrauchs zu je einer bedingt aufgeschobenen Gefängnisstrafe von drei Tagen. Das Gericht prüfte den Sachverhalt nicht mehr, weil es sich an das Urteil des Kassationhofs, das sich ja gar nicht auf A. bezogen hatte, gebunden fühlte.
  6. Sowohl X als auch die beiden Polizisten A. und B. zogen diesen Entscheid erfolglos an den kantonalen Kassationshof.
  7. A. focht auch dieses Urteil an. Vor Bundesgericht rügte er eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (staatsrechtliche Beschwerde) und die unrichtige Anwendung von Art. 312 StGB (Nichtigkeitsbeschwerde). Mit der Gehörsrüge drang der Beschwerdeführer selbstverständlich durch (6P.159/2006 vom 22.12.2006), denn er hatte gar nie Gelegenheit, sich zu verteidigen:
    En l'espèce, le recourant a été condamné sans avoir pu utilement s'exprimer et requérir des mesures d'instruction sur les questions de fait et de droit que le juge appelé à statuer dans sa cause doit résoudre. La procédure suivie par les autorités cantonales l'a donc manifestement privé de la faculté d'exercer son droit constitutionnel d'être entendu (E. 3.2).

Neue Urteile des Bundesgerichts

Da ich in den letzten Tagen nicht viel Zeit hatte, stelle ich hier wieder einmal nur die Liste der online gestellten Urteile mit Bezug zum Thema zusammen. Darunter sind bereits die ersten Entscheidungen des neuen Jahres, die alle noch nach altem Recht ergingen. Ich stelle jedem Entscheid den Ausgang (Eintreten und Entscheid) voraus.
  • 19.12.2006. 6S.448/2006, Procédure pénale, Fixation de la peine (art. 63 CP); état de nécessité (art. 34 CP)
  • 27.12.2006, 6A.82/2006, Construction des routes et circulation routière, Retrait du permis de conduire (excès de vitesse)
  • 27.12.2006, 6A.87/2006, Construction des routes et circulation routière, Retrait du permis de conduire
  • 28.12.2006, 6S.493/2006, Straftaten, Ehrverletzung (Zulassung zum Entlastungsbeweis; s. dazu meinen vorletzten Beitrag)
  • 12.12.2006, 1S.8/2006, Strafprozess, Steuerstrafverfahren, Kontosperre
  • *14.12.2006, 1P.358/2006, Polizeireglement der Stadt St. Gallen
  • 27.12.2006, 1P.671/2006, Verfahren, Strafverfahren; Beweiswürdigung
  • 27.12.2006, 6A.85/2006, Construction des routes et circulation routière, Retrait du permis de conduire
  • 28.12.2006, 6S.386/2006, Verfahren, Strafverfahren; Rechtsgleichheit, Willkürverbot, rechtliches Gehör
  • 28.12.2006, 6S.454/2006, Droit pénal (en général), Refus du sursis à l'exécution de la peine (art. 41 CP)
  • 28.12.2006, 6S.456/2006, Droit pénal (en général), Refus du sursis à l'exécution de la peine principale et à l'expulsion
  • 03.01.2007, 1S.28/2006, Procédure pénale, refus de restitution temporaire de pièce d'identité
  • *03.01.2007, 1S.31/2006, Procédure pénale, refus de restitution provisoire d'une pièce d'identité
  • 07.12.2006, 6S.334/2006, Straftaten, Erleichterns der illegalen Einreise in die Schweiz (Art. 23 Abs. 1 al. 5 ANAG)
  • 14.12.2006, 1P.636/2006, Verfahren, Strafverfahren
  • 21.12.2006, 1P.600/2006, Strafprozess, Strafverfahren
  • 21.12.2006, 1P.688/2006, Procédure procédure pénale
  • 22.12.2006, 6S.368/2006, Procédure pénale, Abus d'autorité (art. 312 CP)
  • 22.12.2006, 6P.160/2006, Procédure, Art. 9 CP (procédure pénale; arbitraire)
  • 04.01.2007, 1A.243/2006, Entraide et extradition, entraide judiciaire internationale en matière pénale avec le Brésil
  • 04.01.2007, 1P.845/2006, Procédure pénale, refus d'un complément d'instruction
  • 08.01.2007, 6S.100/2006, Strafrecht (allgemein), Vorsätzliche Tötung; Strafzumessung
  • 09.01.2007, 1A.261/2006, Rechtshilfe und Auslieferung, Ausliferung an Mazedonien
  • 09.01.2007, 6A.109/2006, Straf- und Massnahmenvollzug, Briefkontrolle (interne Weisung)
  • 11.01.2007, 1P.843/2006, Strafprozess, Haftverlängerung

Freitag, Januar 19, 2007

Update: Ramos, Roschacher und die CVP

Die Weltwoche doppelt nach und erhärtet mit einem in der aktuellen Ausgabe erschienenen Artikel den Verdacht, dass der untersuchenden parlamentarischen Subkommission wichtige Unterlagen vorenthalten wurden und dass es ihr längst nicht mehr um die Sache geht. (vgl. dazu meine früheren Beiträge).

Donnerstag, Januar 18, 2007

Ehrverletzende Strafverteidigung

In einem gestern online gestellten Entscheid hatte sich das Bundesgericht mit der Zulassung zum Entlastungsbeweis nach Art. 173 Ziff. 3 StGB (üble Nachrede) zu befassen (6S.493/2006 vom 28.12.2006). Zum Sachverhalt:

X und C fochten eine mietrechtliche Streitigkeit aus. Im Rahmen dieser Streitigkeit schrieb B, Anwalt von C einen Brief, worin er sagte, er neige sogar dazu, von Querulantentum zu sprechen. Dies trug dem Anwalt B und seinem Klienten C ein Ehrverletzungsverfahren ein. Darin liessen sie sich durch Anwalt A vertreten, der zur Strafklage von X Stellung nahm. Das Strafverfahren wurde mit einem Vergleich erledigt. Die Stellungnahme von A hatte aber Folgen: Kaum war der Vergleich geschlossen, klagte X erneut wegen Ehrverletzung, diesmal gegen C und seinen Anwalt B sowie gegen deren gemeinsamen Anwalt A. Gegenstand war die Stellungnahme von A im ersten, durch Vergleich erledigten Strafverfahren. Vor Bundesgericht rügte X, dass die Vorinstanz die Beklagten A, B und C in einem Zwischenentscheid zum Entlastungsbeweis zugelassen hatte. Dazu das Bundesgericht:
Die Vorinstanz hat für den Kassationshof verbindlich (Art. 277bis BStP) festgestellt, dass die Beschwerdegegner mit den umstrittenen Äusserungen offensichtlich beabsichtigten, den gegen sie erhobenen Vorwurf der Ehrverletzung (im ersten Prozess) zu rechtfertigen; sie hätten nicht, zumindest nicht überwiegend die Absicht gehabt, der Beschwerdeführerin zu schaden oder sie herabzusetzen. Damit steht fest, dass die Beschwerdegegner nicht oder wenigstens nicht vorwiegend in der Absicht handelten, der Beschwerdeführerin Übles vorzuwerfen. Bereits aus diesem Grund sind die Beschuldigten nach Art. 173 Ziff. 3 StGB berechtigt, den Entlastungsbeweis zu führen, womit an sich nicht mehr geprüft zu werden braucht, ob sie auch aus begründeter Veranlassung gehandelt haben (BGE 98 IV 90 E 4a S. 95).
Dem schloss sich auch das Bundesgericht an und fügte hinzu:
Die Beschwerdegegner [hatten] ein berechtigtes Interesse, sich gegen den erhobenen Vorwurf der Ehrverletzung zu verteidigen und den gegnerischen Vorhalt zu widerlegen. Dabei ergab sich zwangsläufig aus dem Prozessgegenstand, dass sich die Äusserungen teilweise auf Privatsachen der Beschwerdeführerin bezogen (angefochtener Entscheid, S. 7, 9). Die Annahme der Vorinstanz, die Ausschlussvoraussetzungen von Art. 173 Ziff. 3 StGB seien nicht gegeben und die Beschwerdegegner folglich zum Entlastungsbeweis zuzulassen, verletzt somit Bundesrecht nicht (E. 2.2).
Bei der Streitlust von X. ist damit zu rechnen, dass zu gegebener Zeit dann auch der Endentscheid vom Bundesgericht zu fällen sein wird. Eins steht jedoch schon jetzt fest: Anwaltsberuf - gefährlicher Beruf.

Mittwoch, Januar 17, 2007

Die Effizienz der Staatsanwaltschaft Solothurn

Laut einer Medienmitteilung der Justizkommission vom 16. Januar 2007 darf festgestellt werden,
dass die Pendenzen zwischenzeitlich weitestgehend abgebaut worden sind und dass sich der Betrieb der Staatsanwaltschaft weiter konsolidiert hat.
Und weil nun alles so gut läuft, wird ein externer Experte Organisationsstruktur und Abläufe mit der kritischen hat man beschlossen,
eine Prüfung der operativen Aspekte der Organisation durch einen externen Experten durchführen zu lassen. Auf Wunsch der Kommission ist das Departement bereit, sie miteinzubeziehen. Damit ist gewährleistet, dass die JUKO ihrer Aufgabe als Organ der parlamentarischen Oberaufsicht gerecht werden kann. Im Rahmen der Überprüfung, die unter Beizug von Andreas Lienhard, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht sowie geschäftsführender Direktor am Kompetenzzentrum für Public Management der Universität Bern, durchgeführt wird, soll nicht das Staatsanwaltschaftsmodell an sich in Frage gestellt werden, ebenso wenig kann die rechtsprecherische Tätigkeit der Staatsanwaltschaft Gegenstand sein. Hingegen sollen Organisationsstruktur und Abläufe der Staatsanwaltschaft kritisch beleuchtet und auf Optimierungsmöglichkeiten geprüft werden. Ziel der Kommission ist es, dass die Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn möglichst zweckmässig organisiert werden und zielgerichtet arbeiten kann.

Bussenbemessung aufgrund Einkommensschätzung

Das Bundesgericht bestätigt eine Busse über CHF 18,000.00, welche der Beschwerdeführer nebst einer bedingt aufgeschobenen Gefängnisstrafe von vier Monaten mit einer Strafverfügung erhielt (6S.363/2006 vom 28.12.2006). Ihm wurde mehrfache Widerhandlung gegen Art. 23 Abs. 1 al. 5 undA bs. 4 ANAG , Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz sowie der Widerhandlung gegen das Heilmittelgesetz vorgeworfen. Die beiden kantonalen Instanzen haben das Urteil genauso bestätigt, wie nun auch das Bundesgericht

Vor Bundesgericht rügte der Beschwerdeführer so ziemlich alles, was man so rügen kann. Selbst ein Verstoss gegen die Rechtsgleichheit (Art. 8 BV) liess er nicht aus. Hier erwähnen möchte ich nur, dass die Vorinstanz den Angaben des Beschwerdeführers über seinen Lohn nicht glaubte, obwohl der Lohn mit einem Lohnausweis (netto CHF 36,000.00) und mit Steuerveranlagungen (CHF 44,000.00) belegt war. Die Vorinstanz hat das Einkommen somit geschätzt, was sie nach Bundesgericht auch durfte. Dabei gilt "in dubio pro reo" übrigens nicht:
Es liegt im Wesen einer Schätzung, dass sie die wirklichen Verhältnisse nur annäherungsweise und damit nicht zweifelsfrei zu bestimmen vermag (...). Die eigentliche Schätzung stellt daher keine tatsächliche Feststellung im Rechtsinne dar, an die das Bundesgericht gebunden wäre. Es handelt sich vielmehr um einen überprüfbaren Ermessensentscheid.
Entscheidend für die Höhe der Busse war aber letztlich wohl, dass der Beschwerdeführer vorsätzlich mindestens 50 Ausländerinnen rechtswidrig Unterkunft gewährt und sie beschäftigt hatte, was ein Bussenmaximum von CHF 250,000.00 (50 x CHF 5,000.00) ergibt.

Montag, Januar 15, 2007

Keine Pornografie, bloss Schnappschüsse

Das Züri-Bashing des Bundesgerichts geht auch im neuen Jahr weiter. In einem zur Publikation in der amtlichen Sammlung vorgesehenen Entscheid heisst der Kassationshof eine Nichtigkeitsbeschwerde gegen das Obergericht des Kantons Zürich teilweise gut (6S.355/2006 vom 07.12.2006).

In seinem Entscheid setzt sich der Kassationshof zunächst eingehend mit dem Tatbestand der sexuellen Handlung im Sinne von Art. 187 Ziff. 1 Abs. 1 StGB auseinander und weist die Rügen des Beschwerdeführers mit überzeugender Begründung ab. Worin die Bedeutung des Entscheids in diesem Bereich liegt, vermag ich allerdings nicht zu erkennen.

Der zweite Teil betrifft den Tatbestand der Pornografie (Art. 197 Ziff. 3 StGB). Aus dem Sachverhalt, geschildert durch die Mutter eines dreijährigen Mädchens:
Wir waren am Strand. Die Tochter hatte nasse Sachen an und da ich wollte, dass sie etwas trockenes anzieht, habe ich sie ausgezogen. Sie legte sich dann auf einen Liegestuhl, wobei sie dann die Beine - wie Kinder halt so sind - auseinander hielt. Mein Mann hat dies sofort fotografiert, obwohl ich dies nicht wollte.
Im Gegensatz zur Vorinstanz sah das Bundesgericht daran nichts Pornografisches; es handle sich um
eigentliche Schnappschüsse, die den Tatbestand der Pornographie mit Kindern gemäss Art. 197 Ziff. 3 StGB nicht erfüllen.
Diesen Schluss begründet das Bundesgericht wie folgt:
Daraus wie sich das Bild darstellt und wie es nach der Schilderung der Mutter entstanden ist, erhellt ohne weiteres, dass es sich bei der Aufnahme um eine natürliche Situation handelt. Der Beschwerdeführer hat offensichtlich bei der Herstellung nicht auf das Kind eingewirkt. Weder Gesichtsausdruck noch Pose des Kindes deuten zudem darauf hin, dass das Foto darauf ausgerichtet gewesen wäre, den Betrachter sexuell aufzureizen. Dies ganz im Gegensatz zu anderen Bildern, die das Bundesgericht in früheren Entscheiden zu beurteilen hatte. So namentlich in einem Fall [...] (E. 6.2).
Den Rest erspare ich dem Leser. Wieso das Bundesgericht hier Einzelheiten zu früher entschiedenen Fällen erneut ausbreitet, verstehe ich nicht. Notwendig erscheint es mir jedenfalls nicht.

Kalte Dusche für die Staatsanwaltschaft Solothurn

Manchmal ist es halt einfach beruhigend, dass selbst Topspezialisten peinliche Fehler unterlaufen. Gleich eine ganze Reihe sind einem heute online gestellten Urteil des Bundesgerichts (6S.546/2006 vom 28.12.2006) gegen die Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn zu entnehmen. Aus dem Sachverhalt:
Mit Verfügung des Leitenden Staatsanwalts vom 18. September 2006 wurde Rechtsanwalt Dr. Y. mit sofortiger Wirkung von der amtlichen Verteidigung des Beschuldigten entbunden und Rechtsanwalt A. als neuer amtlicher Verteidiger eingesetzt. Dagegen legte X. Beschwerdean die Beschwerdekammer des Obergerichts des Kantons Solothurn ein, welche das Rechtsmittel des Beschuldigten am 15. November 2006 guthiess und die Verfügung des Leitenden Staatsanwalts vom 18.
September 2006 aufhob.
Gegen das Urteil des Obergerichts beschwerte sich die Staatsanwaltschaft mit folgender Begründung in Lausanne:
Nach ihrem Dafürhalten verstösst der angefochtene Entscheid gegen das in § 9 StPO/SO geregelte Institut der notwendigen Verteidigung. Sie macht dabei insbesondere eine Verletzung von Art. 32 Abs. 2 BV, Art. 36 BStP und Art. 12 des Bundesgesetzes über die Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte (BGFA [SR 935.61]) geltend.
Dass das Bundesgericht auf diese Rügen nicht eingetreten konnte, erscheint als offensichtlich. Dazu kam nun aber ein formaler Killer, der aus dem Sachverhalt nicht hervorgeht. Dazu das Bundesgericht:
Die von der Beschwerdeführerin eingereichte Beschwerdeschrift ist nicht originalhandschriftlich unterzeichnet (vgl. BGE 112 Ia 173 E. 1). Da auf das erhobene Rechtsmittel aus den nachfolgenden Gründen nicht eingetreten werden kann, erübrigt es sich, die Beschwerdeschrift zur Behebung dieses Mangels an die Beschwerdeführerin zurückzuweisen (E. 2).
Im Weiteren stellte das Bundesgericht fest:
[...] Aus diesem Grund ist der öffentliche Ankläger in Strafsachen von der Ergreifung dieses Rechtsmittels ausgeschlossen (vgl. BGE 48 I 106). Daran ändert entgegen der Meinung der Beschwerdeführerin nichts, dass das Inkrafttreten des Bundesgesetzes über das Bundesgericht(...) per 1. Januar 2007 kurz bevorsteht. Dieses Gesetz ist auf ein Beschwerdeverfahren nämlich nur anwendbar, wenn der angefochtene Entscheid nach dessen Inkrafttreten ergangen ist (Art. 132 Abs.1 BGG).

Soweit die Beschwerdeführerin überdies eine unzutreffende Anwendung von Art. 36 BStP und Art. 12 BGFA geltend macht, gehen ihre Rügen offensichtlich an der Sache vorbei. Denn Art. 36 BStP findet ausschliesslich Anwendung auf Bundesstrafverfahren, und Art. 12 BGFA kodifiziert lediglich die anwaltlichen Berufsregeln bzw. Verhaltenspflichten, bei deren Vernachlässigung der Anwalt aufsichtsrechtliche Konsequenzen zu gewärtigen hat (Art. 17 BGFA). Auf die Beschwerde ist mithin nicht einzutreten (E. 3.1).
Das Bundesgericht fand schliesslich sogar noch einen weiteren Grund, um die Beschwerde im vereinfachten Verfahren nach Art. 36a OG abzuschmettern:
Im angefochtenen Entscheid wird der vom Leitenden Staatsanwalt verfügte Wechsel des amtlichen Verteidigers aufgehoben. Hierbei handelt es sich um einen prozessleitenden Entscheid, der jederzeit wieder abgeändert oder aufgehoben werden kann. Ein solcher Entscheid kann mit der eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde nicht angefochten werden. Auf das erhobene Rechtsmittel ist daher auch aus diesem Grund nicht einzutreten (E. 3.2).

Sonntag, Januar 14, 2007

Ramos, Roschacher und die CVP

Ein im Entwurf offenbar bereits vorliegender Bericht der starbesetzten Subkommission der GPK-N scheint meine Vorahnung zu bestätigen, dass mit Ausnahme des Wesentlichen alles untersucht wird. Die Medienmitteilung der GPK, welche nach dem letzten Beitrag der Weltwoche eiligst verbreitet worden war (s. zum Ganzen meinen früheren Beitrag), enthält offenbar Unwahrheiten. Dazu die SonntagsZeitung unter dem Titel "Blocher statt Ramos im Visier":
Vom Waldhütten-Treffen hatten die GPK-Mitglieder nichts gewusst. Trotzdem beteuerte Meier-Schatz in einer Medienmitteilung, den Untersuchungsbehörden seien keine Informationen vorenthalten worden. Was in der Mitteilung nicht stand: Nachdem das Waldhütten-Treffen publik geworden war, bat Meier-Schatz die parlamentarische Geschäftsprüfungsdelegation (GPDel), die entsprechenden Informationen zu besorgen, wie deren Präsident Hans Hofmann bestätigt.
Na was soll's. Deshalb wird niemand in diesem Land fordern, Meier-Schatz solle doch bitte abtreten, wenigstens als Präsidentin der "untersuchenden" Subkommission.

Den Hintergrund sieht die SonntagsZeitung mit guten Gründen in politischen Mechanismen:
Der Verdacht bleibt, dass die CVP Roschacher decken will. Wegen ihrer Medienmitteilung wurde Meier-Schatz am GPK-Treffen vom 9. Januar gerüffelt. «Wir stochern seit Monaten in Papieren herum, die sekundär sind, während uns relevante Informationen vorenthalten werden», sagt ein Parlamentarier. «Da ist es peinlich, zu sagen, wir hätten Dokumente, die wir nicht haben.» Während Politiker von SP, FDP und SVP kritische Fragen stellten, die bisher unbeantwortet blieben, bemühten sich die Subkommissionsmitglieder der CVP, den Fall Ramos herunterzuspielen und den Fokus auf Blocher zu lenken – was erneut den Verdacht nährt, die CVP wolle Roschacher so gut wie möglich decken, weil er der Kandidat von CVP-Bundesrätin Ruth Metzler war. Politiker sind zusätzlich verärgert, weil sie immer noch nicht wissen, wo Ramos heute ist und was er den Amerikanern erzählt hat, die in seiner Lausanner Wohnung gesichtet wurden. «Ich fühle mich nicht ernst genommen», so ein Nationalrat.
Ich nehme sie auch nicht ernst, Herr Nationalrat, jedenfalls solange sie anonym jammern anstatt etwas zu unternehmen.

SAirGroup-Strafprozess

Der Countdown läuft und auch die Sonntagspresse wartet mit mehr oder weniger klugen Beiträgen auf.

Einen guten Überblick über den Ablauf und die Beteiligten (mit Fotos) liefert die NZZ am Sonntag in einem doppelseitigen Artikel .

Einen an Unverstand kaum zu überbietenden Kommentar publiziert die SonntagsZeitung unter dem Titel Kein Grounding für das Recht. Hier ein paar Zitate:

[...] Eine Vorverurteilung soll hier nicht stattfinden, wir sind eine Zeitung und kein Gericht. Doch eine Meinung hat der kommen­tierende Journalist. Und die ist klar: Die Verantwortlichen gehören verurteilt. Wenn nicht reicht, was in diesem Fall vorliegt, dann soll man die Straftatbestände im Wirtschaftsrecht gleich abschaffen [...].

[...] Sie hatten den Ruhm, im prestigeträchtigsten Verwaltungsrat der Schweiz zu sitzen. Werden sie nun zu einer bedingten Strafe verurteilt, dann ist das nicht Befriedigung des Volkszorns, sondern logische Konsequenz in einem Rechtsstaat. Bedauerlich ist einzig, dass einer der Hauptverantwortlichen für das Debakel, Hannes Goetz, der langjährige Präsident, nicht vor Gericht muss, weil er knapp ein Jahr vor dem Debakel zurückgetreten ist.

So ist das halt immer wieder: werden Beschuldigte freigesprochen, hat das Strafrecht versagt. Aber wir wollen natürlich niemanden vorverurteilen. Das darf man ja auch nicht, im Rechtsstaat.

Freitag, Januar 12, 2007

Zur Auslegung polizeilicher Befragungsprotokolle

Der Kassationshof in Strafsachen hebt ein Urteil des Obergerichts des Kantons Bern auf, indem er sowohl eine staatsrechtliche Beschwerde als auch eine Nichtigkeitsbeschwerde des Verurteilten gutheisst, der auf der Autobahn ein anderes Auto bei Tempo 120 vorsätzlich gerammt hatte. Der Beschwerdeführer ist laut dem zur Publikation in der amtlichen Sammlung vorgesehenen Entscheid (6S.307/2006 vom 28.12.2006) nicht wegen versuchter Tötung (Art. 111 StGB), sondern wegen Gefährdung des Lebens (Art. 129 StGB) zu verurteilen (s. dazu die kritischen Anmerkungen von fel. in der NZZ).

Mich interessiert hier in erster Linie die Position, welche das Bundesgericht bei der Gutheissung der Willkürrüge vertritt. Es geht um die Auslegung eines polizeilichen Protokolls. Dem Beschwerdeführer war folgende Frage gestellt worden:
Waren Sie sich bewusst, dass dies sehr gefährlich hätte werden können und evtl. sogar Tote hätte geben können?
Seine Antwort hat die Polizei wie folgt protokolloert:
"Ja, ich war mir dies bewusst und hätte dies auch in Kauf genommen. Aber ich wollte diesem 'Glatzkopf', welcher Beifahrer war, eines auswischen. Ich war sehr wütend auf ihn. Zu zweit hätten wir gegen diese Gruppe sowieso keine Chance gehabt. So musste ich es halt auf diese Art und Weise machen."
Die Vorinstanz "hängte" den Beschwerdeführer an diesem Satz auf, indem sie die Aussage als Eingeständnis eines eventualvorsätzlichen Tötungsversuchs würdigte ("hätte dies auch in Kauf genommen"). Dies qualifiziert das Bundesgericht als willkürlich:
Es fällt auf, dass der Beschwerdeführer in seiner Antwort laut Protokoll die Wendung "in Kauf genommen" gebraucht, wovon in der Frage laut Protokoll nicht die Rede ist. Die Frage betrifft nur das "Bewusstsein", und zwar das Wissen darum, dass es einerseits hätte sehr gefährlich werden und andererseits gar Tote hätte geben können. Ob der Beschwerdeführer gemäss seiner protokollierten Antwort nur die Gefährlichkeit oder aber auch allfällige Tote "in Kauf nahm", ist damit unklar. Zudem verfügt der aus dem Kosovo stammende Beschwerdeführer zwar über Deutschkenntnisse, doch sind diese nicht sehr gross (...). Vor allem aber ist auszuschliessen, dass der damals nicht anwaltlich vertretene Beschwerdeführer als juristischer Laie die Bedeutung und Tragweite der laut Protokoll von ihm verwendeten Formulierung "in Kauf nehmen" - im Sinne des voluntativen Elements des Eventualdolus - gekannt hat, zumal sich aus dem Protokoll nicht ergibt, dass er darüber aufgeklärt worden ist. Vielmehr muss davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer mit der von ihm laut Protokoll verwendeten Formulierung "in Kauf nehmen" nicht etwas wesentlich anderes meinte als das Wissen um die Gefährlichkeit und die Möglichkeit von Todesfolgen, nach dem er laut Protokoll gefragt wurde. Der angefochtene Entscheid ist daher willkürlich [...]. (E. 3.1, Hervorhebungen durch mich).
Der Entscheid - so begrüssenswert wie überraschend er ist - muss wohl im Zusammenhang mit der ebenfalls gutgeheissenen Nichtigkeitsbeschwerde gesehen werden, nach deren Beurteilung die Frage des Eventualvorsatzes gar keine Rolle mehr spielen wird. Wichtig wäre gewesen, wenn das Bundesgericht festgestellt hätte, dass polizeiliche Befragungsprotokolle keine Wortprotokolle sind und dass es schon aus diesem Grund abwegig ist, daraus wortklauberisch Schlüsse zulasten des Befragten ableiten zu wollen.

In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an meine "Lieblingsfrage" bei Betrugsdelikten:
War Ihre Täuschung arglistig?
Hier sehe ich die Arglist in erster Linie in der Fragestellung.

Donnerstag, Januar 11, 2007

Update: Datenschützer auf Abwegen?

In meinem letzten Artikel zum Thema hatte ich auf einen NZZ-Artikel hingewiesen, der in der gedruckten Ausgabe vom 11.01.2007 umfassender und differenzierter ist. Darin wird u.a. festgestellt, es habe sich bei der Aktion in Deutschland nicht um eine Rasterfahdnung gehandelt (nein?). Die nachfolgenden Zitate aus der gedruckten Ausgabe erscheinen mir wichtig:

In der Schweiz ist das Strafprozessrecht noch immer kantonal geregelt. In Zürich etwa besteht eine solche Auskunftsbestimmung nicht. Hier kann die Polizei aber ebenfalls von Personen, die an der Straftat nicht beteiligt waren, «Papiere» herausfordern. Darunter fallen auch die Daten von Kreditkartengeschäften. Doch die Schweizer Kreditkartenunternehmen unterstehen wie die Banken, in deren Lizenz sie tätig sind, dem Bankgeheimnis gemäss Bankengesetz.

Gerade bei der Frage des Tatverdachts gerate man allerdings rasch in heikle Gebiete, sagt der Zürcher Strafrechtsprofessor Christian Schwarzenegger, der unter anderem im Bereich der Internetkriminalität forscht. Oft sei es so, dass auf Internetseiten mit illegaler Kinderpornographie auch nicht verbotene Sexangebote zu finden seien. Greife nun jemand auf eine Site eines solchen «Multianbieters» zu, könne man nicht von einem hinreichendem Anfangsverdacht sprechen. Auch dürfe eine Editionsverfügung an ein Kreditkartenunternehmen nicht ausgestellt werden, um einen Verdacht erst zu begründen. Zwangsmassnahmen wie etwa ein Massenscreening von Kreditkartenkunden, die gegen Bezahlung etwas von einer Multianbieter-Site heruntergeladen haben, dürften kaum zulässig sein. Damit ein genügender Tatverdacht vorliege, müsse der Download vielmehr von einer Internetseite stattgefunden haben, die ausschliesslich kinderpornographische Inhalte anbiete.

Der EDÖB wird in der gedruckten Ausgabe wie folgt zitiert:
Thür geht davon aus, dass die Schweizer Kreditkartenunternehmen in einem ähnlich gelagerten Sachverhalt ebenfalls dazu verpflichtet wären, ihre Daten zu durchforsten. Er verweist auf einen Fall, in dem die Migros von der Polizei aufgefordert wurde, die Daten von Cumulus-Kunden herauszugeben, die in einer Migros-Filiale einen Hammer gekauft hatten. Dieser Hammer war als Tatwerkzeug in einem Mord verwendet worden. Vom Gericht wurde diese Ermittlungsmethode als rechtmässig erachtet.
Naja, hier vergleicht der EDÖB Äpfel mit Birnen. In jenem Fall hatte man über die Kundenkarte lediglich ermittelt, wann der namentlich bekannte und grundsätzlich geständige Beschuldigte die Tatwaffe gekauft hatte. Daraus zog man Schlüsse auf die Planung der Tat (der Beschuldigte hatte Affekt geltend gemacht). Dies ist also sicher kein ähnlich gelagerter Fall. Im deutschen Screening sollte ganz offenslichtlich der Tatverdacht erst begründet werden, was (auch in Deutschland) mit Sicherheit unzulässig ist.

Weitere Informationen finden sich bei gebsn.

"In dubio pro reo" als Beweislastregel

Ein Gepäckwagen-Einsammler wurde beschuldigt, auf dem Flughafen Zürich-Kloten wissentlich und willentlich ab einem Gepäckwagen einen Rucksack samt dem darin enthaltenen Barbetrag von EUR 20,000.00 weggenommen zu haben. Der Beschuldigte bestritt diesen Vorwurf stets, unterlag aber am Ende vor der Zürcher Justiz. Deren letztinstanzliches Urteil hat nun das Bundesgericht gegen die Rüge der Verletzung der Unschuldsvermutung (als Beweislastregel) bestätigt (1P.599/2006 vom 21.12.2006):
Das Kassationsgericht kam in seiner tragenden Begründung zum Schluss, das Fehlen von verwertbaren Fingerabdrücken - aus welchen Gründen auch immer - führe nicht zu unüberwindlichen Zweifeln an der Täterschaft des Beschwerdeführers (E. 4 am Ende). Damit stellt das Kassationsgericht nicht auf blosse Vermutungen ab und begründet den Schuldspruch nicht damit, dass der Beschwerdeführer solche nicht entkräftet und damit seine Unschuld nicht bewiesen habe. Daher erweist sich die Rüge der Verletzung von Art. 32 Abs. 2 BV und Art. 6 Ziff. 2 EMRK als unbegründet (E. 2).
Materiell ist dem Urteil letztlich nicht mehr zu entnehmen als die simple Feststellung, die Vorinstanz habe sich nicht bloss auf Vermutungen gestützt. Worauf sie sich gestützt hat, ist dem Urteil leider nicht zu entnehmen.

Mittwoch, Januar 10, 2007

Die Polizei - Dein Freund und Partybesucher

Auch im Kanton Solothurn sind seit Anfang Jahr Jugendpolizisten der Kriminalabteilung (8 neu geschaffene Stellen) in Zivil unterwegs. Ein Bericht der Solothurner Zeitung vom 09.01.2007 (zur Zeit noch frei abrufbar) sind dazu folgende Informationen zu entnehmen, die ich mit meinen Klammerbemerkungen verzerre:
So werden sich etwa künftig während des Abendverkaufs am Donnerstag in Solothurn und Olten Jugendpolizisten - und zwar in Zivil [so sind wir zugänglicher und können endlich mal die HipHop-Klamotten unserer Söhne anziehen] - an den einschlägigen Plätzen aufhalten [wir sind diejenigen, denen selbst die HipHop-Sachen eher zu eng sind]. Zudem werde jede Woche, entweder am Freitag oder am Samstag, die ganze Nacht über eine Patrouille unterwegs sein und einzelne Partys aufsuchen [für alle Fälle haben wir immer Blanko-Durchsuchungsbefehle auf Mann].

«Der Zweck besteht nicht darin, einzufahren [so quasi als legale Betäubungsmittel] und die Leute zu kontrollieren» [so fördern wir das Vertrauen bei den Jugendlichen], betont der Jupo-Chef. Sicher, wenn die Jupo auf kiffende Jugendliche [für Erwachsene sind wir nicht zuständig] trifft, die damit gegen das Betäubungsmittelgesetz verstossen [auch das noch!], muss sie eingreifen. «Wir sind schliesslich Polizisten [auch wenn wir nicht so aussehen]. Es mag aber schon genügen, ein oder zwei herauszupicken» [die besonders unsympathischen mit den D&C-Shirts, die nicht mal recht deutsch können].

Damit die Prävention möglichst effizient funktioniert, will die Jugendpolizei mit den in der Jugendarbeit tätigen Personen [die wissen immer am meisten, weil sie das Vertrauen der Jugendlichen geniessen] und Institutionen [die Kirchen locken schliesslich immer mehr Jugendliche an] zusammenarbeiten. «In den
nächsten Monaten werden wir zu diesem Zweck eine Datenbank erstellen» [Fichen sind ja seit der Fichenaffäre nicht mehr so beliebt].

Nun aber im Ernst: ich wünsche den neuen Jugendpolizisten einen erfolgreichen Start, wenig Illusionen über den Erfolg ihres Einsatzes und ein gut ausgebautes Sensorium für die Grundrechte, die selbst Jugendliche haben.

Wer lieber Filmchen schaut statt Zeitungsberichte liest, kann sich ein solches aus der Reihe Reporter auf den iPod laden. "Reporter" hat Jugendpolizisten in Zürich bei der Arbeit zugeschaut.

Datenschützer auf Abwegen?

Gestern haben die Medien (vgl. etwa 10vor10 oder NZZ) über eine Aktion gegen Kinderpornografie in Deutschland bereichtet, bei der sämtliche 22 Millionen Kreditkarten auf verdächtige Transaktionen untersucht wurden. Dabei seien 300 mutmassliche Täter ermittelt worden. Wenn ich richtig gerechnet habe, liegt die (vorläufige) Trefferquote bei 0.01 Promille.

Nun teilt die NZZ heute mit, der EDÖB billige dieses Vorgehen:
Wer nicht Verdacht auf sich gezogen habe, habe von einer solchen Aktion nichts zu befürchten, sagte der Eidgenössische Datenschutzbeauftragte am Mittwoch im Radio DRS. «Es ist eine Methode, die nur verdächtige Personen ins Visier nimmt.» Die Überprüfung sei zudem aus Datenschutzgründen zulässig, weil ein konkreter Tatverdacht gegeben war und eine Strafuntersuchungsbehörde die Kontrolle angeordnet habe, erklärte Thür weiter. Er gehe davon aus, dass auch in der Schweiz auf diesem Weg versucht werde, der «ekelhaften Kinderpornographie den Garaus zu machen».
Wenn die Medienberichte richtig sind, nimmt die Methode natürlich nicht nur die Verdächtigen ins Visier, sondern macht alle Kreditkarteninhaber zu Verdächtigen. Und das soll unbedenklich sein?

Dienstag, Januar 09, 2007

Altes StGB als milderes Recht

Der Tagesanzeiger berichtet über einen Gerichtsentscheid gegen einen Beschuldigten wegen Fahrens in angetrunkenem Zustand (Art. 91 Abs. 1 SVG). Hier interessiert nicht der prominente Beschuldigte, sondern die Anwendung des bisherigen Strafrechts nach den Regeln der lex mitior (Art. 2 Abs. 2 StGB):
Weiter wehrte sich der Anwalt gegen eine Beurteilung nach dem neuen Recht. So wäre einerseits ein Aufschub der Geldstrafe nicht möglich. Andererseits würde das harte Tagessatz-System den Angeklagten erheblich finanziell belasten.

Das Bezirksgericht folgte den Argumenten des Verteidigers und setzte in diesem Fall das alte als das für den Angeschuldigten mildere Recht ein. Es verurteilte den früheren Verleger zu 60 Tagen Gefängnis unbedingt, verbunden mit einer Geldbusse von 5000 Franken. Der Vollzug der Strafe wurde zu Gunsten einer ambulanten Behandlung für den Angeschuldigten aufgeschoben.

Montag, Januar 08, 2007

Verbotene GPS-Radarwarngeräte

Das Bundesamt für Strassen (ASTRA) macht Anbieter und Verkehrsteilnehmende mit einer Medienmitteilung darauf aufmerksam, dass GPS-Geräte, die mit einem Warnsystem ausgestattet sind, den verbotenen Radarwarngeräten gleichgestellt und daher verboten sind:
GPS-Navigationsgeräte mit solchen Zusatzfunktionen dürfen gemäss Artikel 57b des Strassenverkehrsgesetzes (SVG) weder in Verkehr gebracht oder erworben noch in Fahrzeuge eingebaut, darin mitgeführt, an Autos befestigt oder in irgendeiner Form verwendet werden. Unter Inverkehrbringen versteht das SVG folgende Tätigkeiten: Herstellen, Einführen, Anpreisen, Weitergeben, Verkaufen sowie jedes weitere Abgeben und Überlassen.

Am 01.01.2007 in Kraft getretenes neues Recht

Auf den 01.01.2007 sind u.a. folgende Erlasse / Änderungen in Kraft getreten, die in den Bereichen des Straf-, Strafprozess- und Strafrechtshilferechts interessieren mögen (Quelle: Jusletter):

  • Bundesgesetz vom 21. März 1997 über Massnahmen zur Wahrung der inneren Sicherheit (BWIS), Änderung vom 17. Juni 2005 (SR 120); AS 2006 2197
  • Bundesgesetz vom 21. März 1997 über Massnahmen zur Wahrung der inneren Sicherheit (BWIS), Änderung vom 24. März 2006 (SR 120); AS 2006 3703
  • Bundesgesetz vom 20. Dezember 1968 über das Verwaltungsverfahren, Änderung vom 17. Juni 2005 (SR 172.021); AS 2006 2197
  • Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG), Änderung vom 1. März 2006 (SR 173.110); AS 2006 1069
  • Bundesgesetz vom 16. Dezember 1943 über die Organisation der Bundesrechtspflege (Bundesrechtspflegegesetz, OG) (BS 3 531), Aufhebung vom 17. Juni 2005 ([SR 173.110]); AS 2006 1205
  • Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG), Änderung vom 23. Juni 2006 (SR 173.110); AS 2006 4213
  • Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesverwaltungsgericht (Verwaltungsgerichtsgesetz, VGG), Änderung vom 1. März 2006 (SR 173.32); AS 2006 1069
  • Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesverwaltungsgericht (Verwaltungsgerichtsgesetz, VGG), Änderung vom 23. Juni 2006 (SR 173.32); AS 2006 4213
  • Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesverwaltungsgericht (Verwaltungsgerichtsgesetz, VGG), Berichtigung vom 12. Dezember 2006 (SR 173.32); AS 2006 5247
  • Bundesgesetz vom 4. Oktober 2002 über das Bundesstrafgericht (Strafgerichtsgesetz, SGG), Änderung vom 17. Juni 2005 (SR 173.71); AS 2006 1205
  • Bundesgesetz vom 4. Oktober 2002 über das Bundesstrafgericht (Strafgerichtsgesetz, SGG), Änderung vom 17. Juni 2005 (SR 173.71); AS 2006 2197
  • Bundesgesetz vom 4. Oktober 2002 über das Bundesstrafgericht (Strafgerichtsgesetz, SGG), Änderung vom 23. Juni 2006 (SR 173.71); AS 2006 4213
  • Bundesgesetz vom 21. Juni 2002 über den Sitz des Bundesstrafgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts, Änderung vom 1. März 2006 (SR 173.72); AS 2006 1069
  • Bundesgesetz vom 16. Dezember 1983 über den Erwerb von Grundstücken durch Personen im Ausland (BewG), Änderung vom 17. Juni 2005 (SR 211.412.41); AS 2006 2197
  • Bundesgesetz vom 3. Oktober 2003 über Fusion, Spaltung, Umwandlung und Vermögensübertragung (Fusionsgesetz, FusG), Änderung vom 23. Juni 2006 (SR 221.301); AS 2006 5379
  • Bundesgesetz vom 9. Oktober 1992 über das Urheberrecht und verwandte Schutzrechte (Urheberrechtsgesetz, URG), Änderung vom 17. Juni 2005 (SR 231.1); AS 2006 2197
    Bundesgesetz vom 9. Oktober 1992 über den Schutz von Topographien von Halbleitererzeugnissen (Topographiengesetz, ToG), Änderung vom 17. Juni 2005 (SR 231.2); AS 2006 2197
  • Bundesgesetz vom 19. Juni 1992 über den Datenschutz (DSG), Änderung vom 17. Juni 2005 (SR 235.1); AS 2006 2197
  • Bundesgesetz vom 6. Oktober 1995 über Kartelle und andere Wettbewerbsbeschränkungen (Kartellgesetz, KG), Änderung vom 17. Juni 2005 (SR 251); AS 2006 2197
  • Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937, Änderung vom 13. Dezember 2002 (SR 311.0); AS 2006 3459
  • Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937, Änderung vom 24. März 2006 (SR 311.0); AS 2006 3539
  • Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937, Änderung vom 20. Juni 2003 (SR 311.0); AS 2006 3545
  • Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937, Berichtigung vom 6. Juli 2006 (SR 311.0); AS 2006 3583
  • Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937, Änderung vom 24. März 2006 (SR 311.0); AS 2006 3703
  • Bundesgesetz vom 20. Juni 2003 über das Jugendstrafrecht (Jugendstrafgesetz, JStG) (SR 311.1); AS 2006 3545
  • Bundesgesetz vom 15. Juni 1934 über die Bundesstrafrechtspflege, Änderung vom 17. Juni 2005 (SR 312.0); AS 2006 1205
  • Bundesgesetz vom 19. März 2004 über die Teilung eingezogener Vermögenswerte (TEVG), Änderung vom 17. Juni 2005 (SR 312.4); AS 2006 2197
  • Bundesgesetz vom 20. Juni 2003 über die verdeckte Ermittlung (BVE), Änderung vom 17. Juni 2005 (SR 312.8); AS 2006 2197
  • Bundesgesetz vom 22. März 1974 über das Verwaltungsstrafrecht (VStrR), Änderung vom 17. Juni 2005 (SR 313.0); AS 2006 1205
  • Bundesgesetz vom 22. März 1974 über das Verwaltungsstrafrecht (VStrR), Änderung vom 20. Juni 2003 (SR 313.0); AS 2006 3545
  • Militärstrafgesetz vom 13. Juni 1927 (MStG), Änderung vom 21. März 2003 (SR 321.0); AS 2006 3389
  • Militärstrafgesetz vom 13. Juni 1927 (MStG), Änderung vom 24. März 2006 (SR 321.0); AS 2006 3539
  • Militärstrafgesetz vom 13. Juni 1927 (MStG), Änderung vom 20. Juni 2003 (SR 321.0); AS 2006 3545
  • Militärstrafprozess vom 23. März 1979 (MStP), Änderung vom 21. März 2003 (SR 322.1); AS 2006 3389
  • Bundesgesetz vom 20. März 1981 über internationale Rechtshilfe in Strafsachen (Rechtshilfegesetz, IRSG), Änderung vom 17. Juni 2005 (SR 351.1); AS 2006 2197
  • Bundesgesetz vom 20. März 1981 über internationale Rechtshilfe in Strafsachen (Rechtshilfegesetz, IRSG), Änderung vom 13. Dezember 2002 (SR 351.1); AS 2006 3459
  • Bundesbeschluss vom 21. Dezember 1995 über die Zusammenarbeit mit den Internationalen Gerichten zur Verfolgung von schwerwiegenden Verletzungen des humanitären Völkerrechts, Änderung vom 17. Juni 2005 (SR 351.20); AS 2006 2197
  • Bundesgesetz vom 22. Juni 2001 über die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof (ZISG), Änderung vom 17. Juni 2005 (SR 351.6); AS 2006 2197
  • Bundesgesetz vom 3. Oktober 1975 zum Staatsvertrag mit den Vereinigten Staaten von Amerika über gegenseitige Rechtshilfe in Strafsachen, Änderung vom 17. Juni 2005 (SR 351.93); AS 2006 2197
  • Bundesgesetz vom 7. Oktober 1994 über kriminalpolizeiliche Zentralstellen des Bundes (ZentG), Änderung vom 20. Dezember 2006 (SR 360); AS 2006 5599
  • Bundesgesetz vom 6. Oktober 2000 betreffend die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs (BÜPF), Änderung vom 17. Juni 2005 (SR 780.1); AS 2006 2197

Die Liste ist natürlich nicht vollständig, insbesondere was das Nebenstrafrecht betrifft. Aber auch dieser Auszug zeigt eindrücklich, dass es heute schlicht und einfach nicht mehr möglich ist, die Gesetzgebung überblicken zu können. Wenn ich etwa an die Anforderungen an die Sorgfaltspflicht der Anwälte denke, wird mir Angst und Bange.

Vereinheitlichung Strafprozessrecht

Heute haben die Parlamentsdienste die Kommissionssitzungen des 1. Quartals 2007 veröffentlicht. Der Terminliste ist zu entnehmen, dass sich die Rechtskommission des Nationalrats am 25.01 sowie am 22.02. mit der Vorlage 05.092 (Vereinheitlichung Strafprozessrecht) befassen wird. Die Wortprotokolle der Debatte im Ständerat sind in provisorischer Fassung online.

Samstag, Januar 06, 2007

SAirGroup-Strafprozess

Die veröffentlichte Anklageschrift habe ich bisher leider nicht gefunden. Dafür hat das Bezirksgericht Bülach weiterführende Informationen ins Netz gestellt. Im Übrigen verweise ich auf das NZZ-Dossier.

Mittwoch, Januar 03, 2007

Rechtliches Gehör (mehrfach) verletzt

Die Basler Justiz hat einem Beschuldigten, vertreten durch einen ausserkantonalen Anwalt gleich mehrfach in seinem rechtlichen Gehör verletzt. Das Bundesgericht hat seine staatsrechtliche Beschwerde gutgeheissen (1P.695/2006 vom 19.12.2006).

Eine erste Verletzung lag darin, dass dem ausserkantonalen Anwalt die Akten nicht zugestellt wurden. Auf die entsprechende Rüge trat das Bundesgericht allerdings nicht ein, was an der Gehörsverletzung freilich nichts ändert: nur weil das Bundesgericht gestützt auf Art. 87 OG aus formellen Gründen nicht (mehr) eintritt, heisst dies ja materiell-rechtlich noch lange nicht, dass der Anspruch nicht bestehen würde. Faktisch hat die Neufassung von Art. 87 OG allerdings die Wirkung, dass die kantonale Justiz die Verfassung beliebig verletzen kann und dies auch gerne tun, insbesondere um ausserkantonalen Anwälten keine Akten zustellen zu müssen. Das Bundesgericht hält seine Rechtsprechung wie folgt fest:
In BGE 122 I 109 hat das Bundesgericht erkannt, es sei verfassungswidrig, dass das Gericht des Kantons Waadt sich weigere, die Akten einem ausserkantonalen Anwalt zuzustellen, obwohl diese Verfahrenserleichterung den Waadtländer Anwälten zugestanden werde. Die Eintretensfrage dieses Urteilsvon 1996 richtete sich nach altem Recht. Seit 1. März 2000 gilt Art. 87 OG in geänderter Fassung und der zitierte Nichteintretensentscheid betreffend Aktenzustellung (Urteil 1P.572/2000 vom24. November 2000) erging in Anwendung dieser, noch heute geltenden Bestimmung. Es besteht kein Anlass, von dieser Rechtsprechung abzuweichen (E. 2.2).
Hier muss ich darauf hinweisen, dass Art. 87 OG seit 1.1.2007 nicht mehr existiert, was aber - soweit ersichtlich - die Rechtslage nicht ändert. Neu gilt das BGG.

Auf eine gerügte weitere Gehörsverletzung hat das Bundesgericht dann aber eintreten müssen. Dabei ging es um den Anspruch, sich in einem Rechtsmittelverfahren zu den Vernehmlassungen äussern zu dürfen. Dass dieser Anspruch trotz klarer Rechtsprechung des Bundesgerichts (dem der EGMR diesbezüglich auch nachhelfen musste) in den Kantonen immer wieder verletzt wird, grenzt an Mutwilligkeit. Hier die Rechtsprechung des Bundesgerichts:
Gemäss Art. 29 Abs. 2 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK haben die Parteien im Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungsinstanzen Anspruch auf rechtliches Gehör. Nach der Rechtsprechung umfasst diese Garantie den Anspruch, von den beim Gericht eingereichten Eingaben oder Vernehmlassungen Kenntnis zu erhalten und zu diesen Stellung zu nehmen (sog. Replikrecht, ausführlich BGE132 I 42 E. 3.3). Jedenfalls in Verfahren ohne mündliche Verhandlung sind Vernehmlassungen den Verfahrensbeteiligten zuzustellen. Dabei sind mehrere Lösungen denkbar: Wird, im Sinne einer Mindestlösung, eine Eingabe rechtzeitig vor dem Entscheidzeitpunkt "zur Kenntnisnahme" zugestellt und keine Frist angesetzt, kann von den Parteien nach Treu und Glauben erwartet werden, dass sie allfällige Bemerkungen umgehend einreichen. Wahlweise kann die Zustellungauch mit einer Fristansetzung zur Stellungnahme verbunden oder ein förmlicher zweiter Schriftenwechsel eröffnet werden, um den Parteien Gelegenheit zu Gegenbemerkungen zu geben (E. 3.2).
Das Bundesgericht schiebt in derselben Erwägung noch einen praktischen, entlastenden Tipp nach:
An Gerichtsverfahren beteiligte kantonale Instanzen werden erwägen, in klaren Fällen keine Vernehmlassung abzugeben, um unnötige Zustellungen und Wartefristen zu vermeiden.

Neuer Tagebuchentscheid des Bundesgerichts

In einem Strafverfahren wegen Verdachts diverser schwerer Verbrechen wurde eine Hausdurchsuchung angeordnet, bei der das Tagbuch der Lebenspartnerin des Hauptverdächtigen beschlagnahmt und versiegelt wurde. Die Lebenspartnerin, welche gemäss einem Polizeibericht bezüglich verschiedener Vermögensdelikte als Mittäterin verdächtigt wird, wandte sich mit staatsrechtlicher Beschwerde gegen den Entsiegelungsentscheid des Obergerichts des Kantons Luzern erfolglos ans Bundesgericht (1P.519/2006 vom 19.12.2006).

Aus dessen Erwägungen (E. 3.3.3):
Aus den Akten des vorliegenden Verfahrens ergibt sich mit hinreichender Klarheit, dass die umstrittene Beschlagnahme im Zusammenhang mit den vermuteten Tatbeiträgen der Beschwerdeführerin selbst steht. Zweck der Beschlagnahme und Entsiegelung des Tagebuchs ist die Gewinnung von Erkenntnissen über Art und Umfang einer Beteiligung der Beschwerdeführerin an den mutmasslichen Delikten ihres Lebenspartners. Zumindest in Bezug auf den Betrugsvorwurf bestanden bereits vor der Beschlagnahme Anhaltspunkte für einen Tatbeitrag der Beschwerdeführerin, welche in einem Polizeirapport festgehalten wurden und zur Führung einer Untersuchungsakte gegen sie führten. Die weitere Aufklärung einer allfälligen Tatbeteilung der Beschwerdeführerin liegt zweifellos im öffentlichen Interesse. Dieses öffentliche Interesse bezieht sich auch auf mögliche Tatbeiträge bei Delikten ihres Lebenpartners gegen die sexuelle Integrität von Drittpersonen. Dass diesbezüglich noch keine Strafuntersuchung gegen die Beschwerdeführerin eröffnet wurde, ändert daran nichts. Wie das Obergericht zutreffend ausführt, dürfen auch neue Erkenntnisse (Zufallsfunde) gegen die Beschwerdeführerin verwendet werden, wenn dafür die Voraussetzungen einer Beschlagnahme erfüllt sind (Hauser/Schweri/Hartmann, a.a.O., § 69 N. 36 i.V.m. § 71 N. 31; Schmid, a.a.O., N. 725 und 769 ff.; Jörg Paul Müller, Grundrechte in der Schweiz, 3. Auflage, Bern 1999, S. 130).
Zur Interessenabwägung (E. 3.3.4):
Im Rahmen der erforderlichen Interessenabwägung ist zu beachten, dass die Beschwerdeführerin der Beteiligung an einem schweren Vermögensdelikt (Betrug nach Art. 146 StGB) verdächtigt wird. Dem öffentlichen Interesse an der Verbrechensaufklärung stehen die Interessen der Beschwerdeführerin am Schutz ihrer Privatsphäre gegenüber (s. E. 3.3.2 hiervor). Diese Interessen haben angesichts der geltend gemachten persönlichen Konflikt- und Belastungssituation sowie des höchstpersönlichen Charakters der Tagebucheinträge einen hohen Stellenwert. Indessen überwiegt bei der Schwere der hier verfolgten Delikte das öffentliche Interesse an der Verbrechensaufklärung. Die Beschwerdeführerin steht nach den in den Akten festgehaltenen Zeugenaussagen im Verdacht, bei der betrügerischen Aufnahme von Darlehen aktiv mitgewirkt zu haben. Es handelt sich dabei um ein Verbrechen, bei welchem freundschaftliche Beziehungen zum Geschädigten in arglistiger Weise ausgenützt worden sein sollen. Vor diesem Hintergrund kann der Schutz der Privatsphäre der Beschwerdeführerin nicht höher als das Interesse an der Strafverfolgung gewichtet werden. Der angefochtene Entscheid ist in dieser Hinsicht somit im Ergebnis nicht zu beanstanden.
Zur Verhältnismässigkeit (E. 3.3.5):
Unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismässigkeit erscheint die Beschlagnahme des Tagebuchs geeignet und erforderlich, um die Tatbeiträge der Beschwerdeführerin abzuklären. Auch wenn ein Tagebuch, wie die Beschwerdeführerin zutreffend darlegt, nicht ohne weiteres einen hohen Beweiswert aufweist, ist hier doch zu erwarten, dass sich daraus wichtige Erkenntnisse über ihr strafrechtlich relevantes Verhalten ergeben. Dabei müssten auch entlastende Elemente mitberücksichtigt werden. Eine mildere Massnahme als die vom Obergericht angeordnete Entsiegelung des Tagebuchs besteht zur Erreichung des angestrebten Zwecks nicht. Das Obergericht hat den Amtsstatthalter in E. 7.2 des angefochtenen Entscheids dazu verpflichtet, die geeigneten Massnahmen zu ergreifen, um das Geheimhaltungsinteresse bzw. den Persönlichkeitsschutz der Beschwerdeführerin möglichst zu wahren, indem zum Beispiel nur die erheblichen Passagen kopiert werden und ihr das Tagebuch sodann zurückgegeben wird. Damit erweist sich die umstrittene Beschlagnahme und Entsiegelung des Tagebuchs als verhältnismässig. Von einer Antastung des Kernbereichs der persönlichen Freiheit oder der Privatsphäre der Beschwerdeführerin im Sinne von Art. 36 Abs. 4 BV kann im Übrigen keine Rede sein (vgl. Bommer/Goldschmid, a.a.O., S. 366). Ebenso wenig liegt eine unzulässige Beweisausforschung (fishing expedition) vor, da die Öffnung des Tagebuchs im Rahmen einer Strafuntersuchung gegen die Beschwerdeführerin mit hinreichendem Tatverdacht erfolgt (vgl. Schmid, a.a.O., N. 725).
Dass das Bundesgericht das überwiegende öffentliche Interesse und die Verhältnismässigkeit als gewahrt qualifizierte, überrascht nicht. Es ist kaum ein Fall denkbar, bei dem das Bundesgericht (oder irgend ein anderes Gericht in der Schweiz) anders entscheiden würde.

Schade ist, dass sich das Bundesgericht nicht eingehender mit der Frage auseinander gesetzt hat, ob es nicht einen absolut geschützten innersten Bereich des Persönlichkeitsrechts geben müsse, der ein Beschlagnahmeprivileg nach sich zieht (vgl. dazu etwa BVerfG 80, 367, wo im konkreten Fall bei Mord die Frage mit 4 zu 4 Richterstimmen beantwortet bzw. eben nicht beantwortet wurde). Das Bundesgericht begnügt sich im vorliegenden Fall mit der Feststellung, dass im vorliegenden Fall von einer Antastung des Kernbereichs der persönlichen Freiheit oder der Privatsphäre der Beschwerdeführerin im Sinne von Art. 36 Abs. 4 BV keine Rede sein könne. Diese Begründung erscheint mir allzu dünn, auch wenn dazu eine Literaturquelle (ZBJV 1997, 366) angegeben wird, die aber bei genauerer Prüfung wohl nicht als einschlägig gelten kann.

Dienstag, Januar 02, 2007

Update: Was läuft falsch in Bellinzona?

In einem früheren Beitrag machte ich ein paar Bemerkungen im Zusammenhang mit den letzten beiden Urteilen der Strafkammer des Bundesstrafgerichts. Die SonntagsZeitung berichtete nun am Wochenende, dass Ramos die Drogengeschäfte vermittelt haben soll, was in den Strafakten aber nicht vermerkt gewesen war. Die SonntagsZeitung geht davon aus, dass nun das Bundesgericht über die Frage entscheiden müsse, ob Ramos legal eingesetzt wurde:
Nicht in den Akten erwähnt wurde hingegen die Rolle eines zweiten Spitzels: die von José Ma­nuel Ramos. Er war es, der G. erst die Liefe­rung grosser Mengen Kokain aus Kolumbien anbot und ihn dann auf die Wohnung aufmerksam machte, die angeblich ein Kollege von ihm untervermieten wollte. G.s Anwältin hatte vor Gericht zwar vorgebracht, «ein Kolumbianer» habe ihrem Mandanten im Auftrag der Bundeskriminalpolizei Drogennachschub offeriert – weil Wyser aber den Einsatz verdeckter Ermittler abstritt und es keine Dokumente gab, welche G.s Aussage belegten, fand die Verteidigerin kein Gehör. Ramos selbst erklärte auf Anfrage der SonntagsZeitung, der Fall sei «einer der meinen». Ausserdem wird die «Operation Flat», wie die Ermittler die Aktion in Anspielung auf die konspirative Wohnung sinnigerweise tauften, in einem von 40 geheimen Rapporten beschrieben, die die Bundeskriminalpolizei zum Einsatz von Ramos verfasst hat. So wird sich bald zum ersten Mal ein Gericht damit befassen, ob Ramos’ V-Mann-Tätigkeit tatsächlich legal war – denn das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Ausgerechnet Wyser hatte Beschwerde dagegen eingelegt, weil er glaubte, die Angeschuldigten seien zu milde bestraft worden.
Dem Urteil selbst (SK.2006.4 vom 22.08.2006) ist dazu folgendes zu entnehmen (Hervorhebungen durch mich):

5.1 Die Verteidigerin des Angeklagten A. bringt vor, die Bundeskriminalpolizei habe zwei verdeckte Ermittler eingesetzt: Einen Kolumbianer, welcher A. (erfolglos) einen Handel mit grösseren Mengen Kokain aus Kolumbien angeboten und ihm die Wohnung an der V.-Strasse in Z. vermittelt habe, und einen Schweizer, der als Vermieter der Wohnung an der V.-Strasse in Z. aufgetreten sei. Da weder für die Ernennung, noch für den Einsatz der verdeckten Ermittler eine Bewilligung vorgelegen habe, seien die daraus gewonnenen Beweise nicht verwertbar. So habe das Telefon von A. nicht abgehört werden dürfen, weil die Eruierung seiner Handy-Nummer durch die verdeckten Ermittler erfolgt sei.


Die Bundesanwaltschaft bestreitet, dass verdeckte Ermittler eingesetzt worden seien.

5.2 Aus den Akten geht hervor, dass der geschiedene Mann von O. – der Lebenspartnerin von A. – im Mai 2003 den Ermittlungsbehörden einen anonymen Brief zustellte, worin er A. (beziehungsweise den Mitbewohner von O.) des Drogenhandels bezichtigte. Er anerkannte, anlässlich der Einvernahme vom 18. Mai 2004, den Brief verfasst zu haben (...). Hinweise dafür, dass verdeckte Ermittler den Angeklagten zu den ihm vorgeworfenen Drogengeschäften bewogen hätten, liegen hingegen keine vor. Auch wurde anlässlich der Hauptverhandlung erstmals davon beziehungsweise vom Kontakt des Angeklagten A. zu einem (namentlich nicht bekannten) kolumbianischen Drogenhändler berichtet.

5.3 Indessen ist den Akten zu entnehmen, dass die Bundeskriminalpolizei, Mieterin der Wohnung an der V.-Strasse in Z. (...) respektive im Haus Nr. 19 war (...), diese durch einen ihrer Funktionäre am 13. September 2003 an A. untervermietete (...) und sogleich audiovisuell überwachte (...). Die Vermietung erfolgte vor dem Inkrafttreten des Bundesgesetzes über die verdeckte Ermittlung vom 20. Juni 2003 (SR 312.8). Dementsprechend handelt ein verdeckter Ermittler widerrechtlich, wenn er die Zielperson zu einer Straftat anstiftet, und verletzt der Staat, wenn er dafür die Verantwortung hat, die Pflicht zum fairen Verfahren nach Art. 6 Abs. 1 EMRK (BGE 124 IV E. 3 d/aa); in diesem Fall kann ein strafrechtlicher Schuldvorwurf nicht mehr erhoben werden, ausser die Tatbeteiligung des Ermittlers habe diejenige der Zielperson „nicht völlig in den Hintergrund zu drängen“ vermocht (E. 3e). Nun anerkennt der Angeklagte A., schon vor dem Einzug in die Wohnung V.-Strasse in Z., mit Drogen gehandelt und die Einfuhr der am 18. September 2003 in Z. eingetroffenen Drogen aus Venezuela bei L. beziehungsweise M. veranlasst zu haben. Der Angeklagte hat daher den Entschluss zur Tat vor der Wohnungsmiete selbstständig gefasst (siehe auch BGE 124 IV 34 E. 2c). Gewiss wurde ihm das Drogengeschäft durch das zur Verfügung haben einer für Drogenverarbeitung und –handel geeigneten Wohnung erleichtert. Er hatte jedoch – wie er selbst anerkennt – auch ohne diese Wohnung Gelegenheit, Drogen zu kaufen, zu verarbeiten und zu verkaufen, nämlich in der durch B. gemieteten Wohnung an der U.-Strasse und auf der Strasse. Die Vermietung der Wohnung durch einen Polizeifunktionär verwirkt infolgedessen den staatlichen Strafanspruch nicht, ist aber im Rahmen der Strafzumessung zu berücksichtigen.

Für mich liefert der Fall nach wie vor mehr Fragen als Antworten. Warum hat der Angeklagte bspw. nicht gesagt, dass es sich beim kolumbianischen Drogenhändler um Ramos handelte? Warum wurden keine Beweisanträge (zB Edition der Einsatzberichte) zu diesem kolumbianischen Drogenhändler gestellt?

Aber vielleicht ist der Bericht der SonntagsZeitung ja auch nicht ganz vertrauenswürdig; immerhin basiert er ja auf Erklärungen, welche die "Vertrauensperson" Ramos auf Anfrage abgegeben hatte.