Freitag, September 29, 2006

Bemerkungen zum "Bericht Lüthi"

Ich hab mich jetzt mal durch den Bericht Lüthi gelesen und bin bitter enttäuscht. Herr Kollege Lüthi hatte auftragsgemäss in einer ersten Phase die Task-Force "Guest" (Fall Ramos) zu untersuchen. Herausgefunden hat er bei näherer Betrachtung überhaupt nichts, was er bereits bei der Beschreibung seines Vorgehens rechtfertigt, indem sich
sehr grosse Zurückhaltung auf[drängte], da die Prüfung der materiellen Seite dieses Einsatzes von R. durch die von der Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts eingesetzten Herren Bertossa und Keller zu erfolgen hatte.
Die Erkenntnisse zur genannten ersten Phase nehmen im 38-seitigen Bericht gerade mal gut eine Seite ein. Sie beschränken sich letztlich auf die Feststellung, dass Bundeanwaltschaft und Bundeskriminalpolizei nach ihren eigenen Weisungen vorgegangen sind.

Den Löwenanteil des Berichts nimmt die zweite Phase ein. Darin waren,
ausgehend von den Erkenntnissen aus der Phase I, Fragen zur Organisation und Führung der Bundesanwaltschaft (BA), zu den Abläufen der Verfahren sowie zur Zusammenarbeit mit der Bundeskriminalpolizei (BKP) zu beantworten.
Damit hätte sich die zweite Phase mangels Erkenntnissen aus der ersten eigentlich erübrigt. Es überrascht denn auch wenig, dass auch dazu nichts von Substanz erkannt wurde.

Spannend wäre etwa die Frage gewesen, ob der Einsatz von Vertrauenspersonen (Ramos hatte diesen m.W. nirgends verbindlich definierten Status) zulässig ist. Diese Frage hat aber offenbar einer der beiden Bellinzona-Berichte geklärt.

Sehr spannende Fragen hätten sich im Bereich der sog. "Vorermittlungen / Vorabklärungen" ergeben(das sind Ermittlungshandlungen vor der formellen Eröffnung eines Vorverfahrens - sozusagen also ein "Vorvorverfahren") . Hier hat sich der Bericht leider auf die falsche Frage konzentriert, nämlich darauf, wer für dieses "Vorvorverfahren" verantwortlich sei. Dazu greift der Bericht zu einer eher amüsanten denn gehaltvollen Abwägung:

Für die Annahme, dass die „Vorermittlungen/Vorabklärungen“ zu den gerichtspolizeilichen Ermittlungen gehören und deshalb im Verantwortungsbereich der BA sind, spricht die Tatsache, dass

  • der Bundesanwalt dazu eine Weisung erlassen hat,
  • die BA über die formelle Eröffnung des gerichtspolizeilichen Ermittlungsverfahrens zu entscheiden hat und deshalb auch für die Erhebung des hiefür massgeblichen Sachverhaltes zuständig sein muss,
  • es aufgrund der Weisung und in der Praxis „Vorermittlungen/ Vorabklärungen“ im Auftrag der BA gibt.

Für die Ansicht, dass für die „Vorermittlungen/Vorabklärungen“ allein fedpol zuständig ist, spricht demgegenüber, dass

  • die Weisung „Vorermittlungen/Vorabklärungen“ ohne Auftrag der BA vorsieht,
  • das Zentralstellengesetz einen gewissen Freiraum der Polizei vorsieht, wobei dieser aber nicht auf alle Bundesdelikte bezogen ist,
  • in der Praxis rein faktisch ein solcher autonomer Bereich von fedpol besteht,
  • die Tatsache, dass alle Daten aus diesem Verfahrensbereich im Informationssystem JANUS gespeichert sind, welches sich im Zuständigkeitsbereich der BKP befindet.
Ergebnis des Berichts zu dieser Frage ist folgende Empfehlung:
Die Abgrenzung der Verantwortlichkeiten zwischen BA und BKP in Bezug auf Vorermittlungen/Vorabklärungen ist rasch zu klären, gesetzlich zu regeln und umzusetzen.
Vielleicht sollte man zuerst einmal regeln, ob und unter welchen Voraussetzungen ein solches "Vorvorverfahren" überhaupt zulässig ist, wie die Stellung der Beteiligten darin ist und wie es sich mit den Daten verhält, die aus diesem Verfahrensbereich in JANUS gespeichert werden. Das ist deshalb interessant, weil ein Betroffener von einem sochen Vorvorverfahren jedenfalls dann nichts erfährt, wenn später kein Ermittlungsverfahren eröffnet wird. Das "Vorvorverfahren" ist gleichsam so geheim, dass es nicht einmal geregelt werden darf.

Update: Berichte über die Bundesanwaltschaft

Auf der Website des Bundes sind seit heute zwei Berichte über die Bundesanwaltschaft online zugänglich gemacht worden. Es handelt sich um folgende:

Administrativuntersuchung ("Bericht Lüthi"): Hier geht es um eine von Bundesrat Blocher angeordnete Administrativuntersuchung zum Fall Ramos, dem sich bereits das Bundesstrafgericht angenommen hatte (vgl. meine früheren Beiträge hier und hier).

Situationsanalyse EffVor ("Bericht Uster"). Das EJPD beauftragte einen Projektausschuss unter der Leitung Usters, die Situation in der Strafverfolgung auf Bundesebene zu analysieren und konkrete Vorschläge für das weitere Vorgehen zu machen.

Beide Berichte orten Handlungsbedarf in den Bereichen Führung und Organisation und sollen nun Grundlage eines detaillierten Konzepts sein.

Daneben gibt es wie hier dargestellt zwei Berichte der Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts. Diese beiden sind m.W. noch nicht öffentlich.

Donnerstag, September 28, 2006

Vom Wert 38-jähriger psychiatrischer Gutachten

Das Bundesgericht hat in einem heute online gestellten Urteil (6S.267/2006 vom 08.09.2006) einen Entscheid des Obergerichts St. Gallen kassiert, das sich für die Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit auf ein psychiatrisches Gutachten aus dem Jahr 1968 gestützt hatte. Dazu das Bundesgericht:
Die Vorinstanz hat eine leicht verminderte Zurechnungsfähigkeit des Beschwerdeführers zu den Tatzeiten bejaht und damit Zweifel an seiner Zurechnungsfähigkeit zum Ausdruck gebracht. Sie hat sich ohne Begründung auf das damals 38 Jahre alte psychiatrische Gutachten abgestützt. Wie dargelegt, durfte sie dies nicht, ohne eingehend darzulegen, weshalb das Gutachten trotz seines Alters nach wie vor aktuell sei. Indem sich die Vorinstanz dazu ausschweigt, entzieht sie dem Bundesgericht die Möglichkeit der Überprüfung der Gesetzesanwendung (E. 5.4).
Der Gutheissung der Beschwerde (Art. 277 BStP) stand nicht entgegen, dass der Beschwerdeführer kein neues Gutachten beantragt hatte:
[Der Beschwerdeführer] hat mit seiner Berufung vor der Vorinstanz jedoch einen Freispruch von Schuld und Strafe beantragt. Die Vorinstanz hatte mit voller Kognition deshalb über Schuld und Strafe insgesamt neu zu befinden und war verpflichtet, neue Beweise abzunehmen, soweit sie für die Beurteilung erforderlich waren (dazu Art. 245 Strafprozessgesetz St. Gallen vom 1. Juli 1999, sGS 962.1). In solchen Fällen können Rechtsfragen, welche die letzte kantonale Instanz nach dem kantonalen Prozessrecht auch ohne ausdrücklichen Antrag prüfen durfte oder musste, mit der Nichtigkeitsbeschwerde neu vorgetragen werden, selbst wenn sie der Beschwerdeführer im kantonalen Verfahren nicht aufgeworfen hatte (BGE 120 IV 98 E. 2b S. 105). Die Frage der Zurechnungsfähigkeit betrifft auch nicht der Sache nach die Art der Beweisführung, weshalb die von der Rechtsprechung aufgestellte Ausnahme von der Zulässigkeit neuer Vorbringen (vgl. BGE 122 IV 285 E. 1f) nicht einschlägig ist. Auf den Einwand des Beschwerdeführers ist deshalb einzutreten (E. 5.2).

Neues Verfahren gegen Hariri eingestellt

Das Bundesstrafgericht hatte sich in BK.2006.3 vom 30.08.2006 mit einer Beschwerde von Hussein Ali Mohamed HARIRI (vgl. BGE 115 IV 8), dem die Bundesanwaltschaft nach einem eingestellten Verfahren einen Teil der Verfahrenskosten auferlegt hatte. Die Beschwerde wurde teilweise gutgeheissen. Interessant ist hier weniger das Rechtliche als der Sachverhalt, der aus folgenden Erwägungen hervorgeht.
En revanche, les différents documents et journaux, traitant de missiles sol-air et de données techniques sur des avions (classeur MPC rubrique 7) trouvés dans la cellule du prévenu, la liste des personnes avec qui il avait pu avoir des contacts à l'extérieur de la prison, et dont plusieurs étaient soupçonnées d'appartenir au Hezbollah, le fait qu'il avait sur lui au moment de son congé son permis de conduire provisoire reçu en juillet de la même année, ajoutés aux antécédents du plaignant qui a été condamné notamment pour assassinat, détournement d'avion et prise d'otage qualifiée (ATF 115 IV 8, 17) et à la proximité du 1er anniversaire des attentats du 11 septembre 2001, ont pris une signification toute particulière le jour où le prévenu n'a pas réintégré sa cellule comme prévu. Le fait qu'il décide de s'enfuir alors qu'il lui restait peu de temps à purger avant de bénéficier du régime de semi-liberté en mars 2003 ne pouvait que renforcer les soupçons d'un comportement punissable. Ces différents éléments justifiaient l'ouverture de l'enquête de police judiciaire concernée de sorte que l'on ne saurait valablement reprocher au MPC d'avoir agi par précipitation. Ils établissent en même temps le lien de causalité entre la fuite du prévenu et l'ouverture de l'enquête en cause (E. 2.3).

Einführung in die Rechtskunde ...

... erteilte das Bundesstrafgericht der Eidg. Steuerverwaltung in BV.2006.35 vom 13.09.2006. Diese verfügte folgendes:
es wird die Beschlagnahmung aller Vermögenswerte, welche auf Bankverbindungen deponiert sind, von welchen die Herren B. und C.:
a) wirtschaftlich Berechtigte
b) oder Unterschriftsberechtigt sind,
und die sich bei der Bank A., Zürich, oder ihren Filialen und Niederlassungen weltweit befinden, angeordnet“.
Dagegen beschwerte sich Bank A. (teilweise) zu Recht. Aus den Erwägungen:
Vorliegend lässt sich dem Wortlaut der angefochtenen Verfügung (act. 1.2) bzw. deren Abänderung (act. 2.16) entnehmen, dass von der Verfügung Vermögenswerte „auch im Ausland“ (act. 1.2 S. 1) bzw. „weltweit“ (act. 2.16) betroffen sein sollen. Damit will die Verfügung eine Wirkung jenseits der Staatsgrenzen erreichen, womit die Souveränität der ausländischen Staaten, also Völkerrecht und damit auch Bundesrecht (Art. 5 Abs. 4 BV) verletzt werden. Selbstredend verletzt die Verfügung auch Bundesrecht, wenn sie der Beschwerdeführerin Nachteile androht, falls diese nicht im Sinne der Verfügung „im Ausland“ bzw. „weltweit“ tätig werden sollte. Soweit die Verfügung folglich Vermögenswerte beschlägt, die sich im Ausland befinden, ist sie zufolge Verletzung von Bundesrecht aufzuheben.

Bundesstrafgericht: neue Urteile

Die Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts hat eine Reihe neuer Entscheide online gestellt. In der Mehrzahl handelt es sich um Gerichtsstandsstritigkeiten zwischen den Kantonen

Aufgefallen ist mir ein erster Entscheid über die Entsiegelung von bei Anwälten beschlagnahmten Akten (vgl. dazu meine früheren Beiträge hier und hier). Das Dispositiv des Urteils BE.2005.4 vom 14.09.2006 lautet wie folgt:

Per questi motivi, la Corte dei reclami penali pronuncia:

1. I seguenti incarti devono essere restituiti ai coniugi A. e B.:

1.1 S20, S35, S39, S42, S56, S90, S96-S98, S143, S145, S153, S164, S166, S172 (recte: S173), S174, S175, S220, S251, S264, S265, secondo il verbale di perquisizione e sequestro del 3 febbraio 2005.

1.2 6618, 7863, 6667, 6668, 6749, 7808, 6780, 6774, 6648, 7417, 6641, 6649, 7555, 8087, 7632, mappa blu banca F., 8050, 8049, 6850, 6849, 8408, 8326, S418, 617, 621, 622, 648, 487, 497, 498, 502, 521, 506, 511, 519, secondo il verbale di perquisizione e sequestro del 9 e 10 marzo 2005.

1.3 6650, che non è menzionato in alcun verbale di perquisizione e sequestro.

2. I seguenti incarti devono essere consegnati all’AFC per i bisogni dell’inchiesta:

2.1 S2, S3, S6-S9, S22, S31, S34, S36-S38, S40, S41, S43-S55, S57-S89, S91, S92, S99-S142, S144, S146-S149, S151, S152, S154-S162, S165, S167-S172, S176-S219, S221-S250, S252-S263, S266-S268, S270-S306, secondo i verbali di perquisizione e sequestro del 2 e 3 febbraio 2005.

2.2 7761, 7763, 7194, 7193, 7192, 7195, 7472, 7775, 7787, 7784, 7799, 7793, 8023, 7236, 7327, 6661, 6747, 7339 (recte: 7379), 7353, 7355, 7866, 7359, 7352, 7921, 7906, 6716, 7962, 7328, 7329, 7904, 7897, 7901, 7900, 7221, 7222, 7225, 7230, 7412, 7402, 7400, 7820, 7833, 7839, 7244, 7257, 7256, 7841, 7842, 7817, 7818, 7994, 6937, 7054, 8143, 7996, 7570, 8101, 8104, 7122, 7121, 7554, 8064, 8104, 7644, 8429, 8420, 8404, 8405, 8325, S420, 8188, 8257, 8185, 8184, 8174, 8175, 8182, 8187, 8277, 8272, 8298, 4, 8308 (recte: 8309), 8401 (recte: 8301), 8318, S424-S430, S432-S436, S437-S439, S444, 579-588, 594, 595-598, 600-606, 607-616, 623-624, 631-634, 638, 639, 640, 644-647, 649-651, 652, 654, 655, 666, 667, 668-672, 674, 675, 676, 677, 681, 682, 685, 687, 688, 690-694, 696-699, 701-712, 720, 721, 723-728, 731-741, 743, 744, 750, 751, 753-758, 763-768, 770-775, 777, 783-787, 791-794, 798, 800, 805-808, 810, 812, 816, 818, 819, 829, 821-825, 828, 830-832, 833, 834, 835, 837, 839-842, 844-850, 852, 853, 855-859, 861, 862, 864-866, 868, 869, 872, 873, 875-882, 884-888, 891, 892, 894, 895, 897-900, 902, 903, 906, 907, 909-925, 933-937, 369, 370, 372, 374-377, 380-382, 341-349, 351-355, 358, 359, 329, 331-336, 338, 340, 299, 300, 302, 305-307, 309-311, 313-323, 326, 328, 421-429, 414-420, 402-413, 394-401, 442-451, 453-455, 383-393, 473, 474, 476-479, 432-434, 437-441, S445-S488, 539-557, 481-486, 488-494, 495, 496, 499-501, 503, 504, 520, 523-526, 528-538, 505, 507, 509, 510, 512-518, 558-564, 566, S489, secondo il verbale di perquisizione e sequestro del 9 e 10 marzo 2005.

2.3 456-463, 467, G. Ltd (senza numero), che non sono menzionati in alcun verbale di perquisizione e sequestro.

3. L’AFC trasmetterà alla Corte dei reclami penali, entro il 25 settembre 2006, una copia completa dei bilanci e dei conti economici consegnati da A. in allegato alle dichiarazioni fiscali relative agli anni toccati dall’inchiesta.

4. Le spese giudiziarie e le indennità per spese ripetibili del presente giudizio saranno fissate mediante decisione ulteriore.

Mittwoch, September 27, 2006

Amokläufer in Lausanne erneut erfolgreich

Nachdem das Bundesgericht nun bereits zum zweiten Mal ein Urteil des Zürcher Obergerichts gegen den Amokläufer von Obfelden kassiert hat (Urteil 6S.270/2006 vom 05.09.2006), muss sich das Obergericht ein drittes Mal mit dem Fall beschäftigen. Da die NZZ hier bereits darüber berichtet hat, verzichte ich hier auf eine eigene Zusammenfassung.

Dienstag, September 26, 2006

Corrigendum zum Bericht (recte: den Berichten) aus Bellinzona

Ich wurde heute freundlicherweise darauf aufmerksam gemacht, dass meine früheren Beiträge über "einen" Bericht der Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts (s. hier, hier und hier) auf der irrigen Annahme basierten, es gebe nur einen.

Richtig ist, dass es zwei Berichte aus Bellinzona zu jeweils anderen Fragen gibt. Die von mir hier zitierten Stellen stammen nicht aus dem Bericht, in dem die Beschwerdekammer das Vorgehen der BA in Sachen Ramos als korrekt bezeichnete. Die Zitate, die ich der SonntagsZeitung entnommen hatte, stammen aus einem Zwischenbericht, der sich speziell mit den Gründen für die tiefe Zahl der überwiesenen Anklagen befasste. Damit ist auch der entlastende Inhalt der Medienmitteilung erklärt, den ich hier zu Unrecht in Zweifel gezogen hatte.

Darauf, dass es verschiedene Untersuchungen und damit auch verschiedene Berichte gibt, hatte ich vor ein paar Wochen selbst noch hingewiesen. Jedenfalls danke ich herzlich für den Hinweis, der diese Korrektur ermöglich hat.

Montag, September 25, 2006

Erfolgsmeldung des Bundesanwaltschaft

Wie in letzter Zeit üblich kontert die Bundesanwaltschaft kritische Medienberichte (s. dazu meinen gestrigen Beitrag) mit eigenen Erfolgsmeldungen. So überrascht es wenig, dass heute eine Medienmitteilung über die Aushbeung eines Geldwäschereirings im Kanton Waadt. Anklage ist freilich noch nicht erhoben worden und wahrscheinlich werden wir auch von diesem Fall in den nächsten Jahren nichts mehr hören. Aber - und das muss zugestanden werden - gut tönt er allemal.

Sonntag, September 24, 2006

Update: Bundesanwalt entlastet - von wegen

Das musste ja kommen: der als vertraulich klasssifizierte Bericht des Bundesstrafgerichts (s. die früheren Beiträge hier und hier) liegt der SonntagsZeitung bereits vor (s. den heutigen Artikel). Anders als die Medienmitteilung des Bundesstrafgerichts - aus welchen Gründen auch immer - suggerieren will, wird die Bundesanwaltschaft aber alles andere als entlastet. Hier ein paar Zitate aus dem Hauptartikel der Sonntagszeitung, der online nicht frei zugänglich ist:
  • Der Bundesanwalt hatte seine Untergebenen nicht im Griff, erbrachte Fälle nur schleppend voran - und die Schuld dafür suchte er überall, nur nicht bei sich selbst.
  • "Einzelne Staatsanwälte der BA verstiessen gegen verbindliche Weisungen, beisielsweise indem sie regelmässig an Einvernahmen des eidgenössischen Untersuchungsrichteramts teilnehmen oder in Bellinzona lückenhafte Mitteilungen über Verhaftungen einreichen.
  • Der Ungehorsam der Mitarbeiter ist laut Bundesstrafgericht die Folge davon, dass er selbst ständig Kompetenzen und Arbeit seiner Aufsichtsbehörde in Frage stelle.
  • Roschacher bestritt, dass er für Verfahren, die sich zwischen Schluss der Voruntersuchung und Erhebung einer Anklage oder Einstellung befinden, der Aufsicht von Bellinzone unterstellt sei - für das Bundesstrafgericht ein absurdes Ansinnen.
  • In einer 41-seitigen Stellungnahme behauptet [Roschacher], der Präsident der Beschwerdekammer, SVP-Mann Emmanuel Hochstrasser, arbeite im Auftrag von SVP-Justizminister Christoph Blocher gegen ihn.
Die SonntagsZeitung äussert sich auch zum Fall Ramos und zieht die Feststellungen des Bundesstrafgerichts dazu in Frage. Mal sehen, wie lange es geht, bis der Bericht des Bundesstrafgerichts online ist. Ihn weiterhin unter Verschluss zu halten dürfte jedenfalls weder richtig noch klug sein.

Samstag, September 23, 2006

Polizeibefragung mit Sack über dem Kopf

Nein, ich berichte hier nicht über einen Prozess im Anschluss an den Abu Ghraib-Skandal im Irak, sondern über einen Fall aus dem Kanton AR, den das Bundesgericht in 1P.469/2006 vom 08.09.2006 zu beurteilen hatte:

Nach einem Banküberfall wurden zwei Tatverdächtige X. und Y. festgenommen. Der Verdacht gegen Y. stellte sich als unbegründet heraus. Die Anwältin von Y. reichte Strafanzeige gegen unbekannte Täterschaft wegen Verdachts des Amtsmissbrauchs ein. Was damit geschah, lässt sich dem Entscheid des Bundesgerichts nicht entnehmen. Nicht zu entnehmen ist dem Entscheid ferner, ob sich der Verdacht gegen X. erhärtet hat.

Jedenfalls reichte X. im April 2006 ebenfalls eine Strafanzeige gegen unbekannt ein. Darin beanstandete er,
dass ihm Handschellen und Fussfesseln angelegt sowie zwei Kopfkissenbezüge über den Kopf gezogen und die Sicht genommen worden seien. So sei er vorerst nach Herisau transportiert, dort befragt und später nach Trogen überführt worden. Erst in Trogen sei er losgebunden und seien ihm die Kissenbezüge abgezogen worden.
Das Strafverfahren wurde eingestellt. Die Vorinstanz (Staatsanwaltschaft AR) begründete ihren Entscheid damit,
dass die Polizei bei ihren Aktionen von einer gewaltbereiten Täterschaft ausgegangen sei, welche am gleichen Tag einen bewaffneten Raubüberfall verübt habe. Ausserdem habe der konkrete Verdacht bestanden, dass Y. [also nicht der Beschwerdeführer X.!], der als Gewalttäter bekannt gewesen sei, als Täter in Frage komme und besondere Vorsicht zum Schutz der Polizeibeamten und von Dritten nötig sei. Wenn daher die Polizei beschlossen habe, die Verhaftung mit einem konsequenten Vorgehen ohne Risiko durchzuführen, den Betroffenen keinerlei Gelegenheit zur Flucht zu geben und mit geeigneten Massnahmen das Risiko einer Gefährdung der Beamten möglichst klein zu halten, so sei dies nicht zu beanstanden. Zu diesen Massnahmen gehöre auch, dass während der ersten Phase einer Festnahme ein Sichtschutz erstellt werde, der Verdächtige also keine Möglichkeit habe, die Polizisten zu identifizieren, aber auch in seiner Handlungsfreiheit eingeschränkt sei (E. 2).
Diese Begründung schützte das Bundesgericht:
Unter den beschriebenen Verhältnissen erscheint das Vorgehen der Polizeibeamten wohl als konsequent und hart, nicht aber als unverhältnismässig. Die Rüge der Verletzung der angerufenen verfassungs- und konventionsmässigen Rechte wird vom Beschwerdeführer somit zu Unrecht erhoben (E. 2).

Rechtlich steht damit natürlich nicht fest, dass solche Befragungsmethoden grundsätzlich legal seien. Das Problem liegt aber darin, dass sie durch solche Entscheide faktisch legalisiert werden, weil man nicht mit Aussicht auf Erfolg dagegen vorgehen kann. Apropos: die unentgeltliche Rechtspflege wurde X. wegen offensichtlicher Aussichtslosigkeit seiner Beschwerde nicht gewährt.

Freitag, September 22, 2006

Neuer "Armenrechtstarif" für Solothurn

Die Gerichtsverwaltungskommission des Kantons Solothurn hat ein neues Kreisschreiben betreffend die Entschädigung der unentgeltlichen Rechtsbeistände und amtlichen Verteidigungen erlassen. Danach gilt ab 1. Okotber 2006 ein neuer Stundenansatz von CHF 180.00 zzgl. Mwst. Aus der Begründung:
Das Obergericht hat sich in der Vergangenheit immer am Landesindex der Konsumentenpreise orientiert und ging bei der letzten Erhöhung von einem Index von 148,3 Punkten (Indexbasis Dezember 1982) aus. Der Index betrug im Juli 2006 155,1, in den beiden Monaten zuvor knapp über 156 Punkte. Das Obergericht hat in der Vergangenheit die Erhöhung jeweils in Zehnfranken-Schritten vollzogen. Daran soll nichts geändert werden. Der nächste Schritt ist bei 157 Punkten fällig. Da dieser Indexstand allenfalls noch in diesem Jahr erreicht wird, wird die Entschädigung auf Fr. 180.00 erhöht. Dieser Betrag stimmt im Übrigen mit demjenigen überein, welchen das Bundesgericht in seinem Urteil vom 6. Juni 2006 für den Kanton Aargau als angemessen eingestuft hat (BGE 2P.17/2004 und 2P.325/2003).
So ist der Entscheid des Bundesgerichts wohl nicht ganz richtig zitiert, aber das sollte besser an anderer Stelle näher ausgeführt werden.

Üble Nachrede durch Anwalt

In einem Urteil vom 06.09.2006 (6S.126/2006) befasste sich das Bundesgericht wieder einmal mit Beschwerden eines Anwalts, der wegen übler Nachrede verurteilt worden war. Er hatte in einer Verwaltungsgerichtsbeschwerde behauptet, die Verletzte habe eine Unterschrift auf einer Handelsregisteranmeldung gefälscht oder erschlichen. Dies war nun aber für die Beurteilung der Beschwerde rechtlich nicht relevant. Er konnte sich daher nicht auf seine Berufspflicht (Art. 32 StGB) berufen. Auf die Meinungsäusserungsfreiheit und die Wirtschaftsfreiheit waren gemäss Bundesgericht durch die Verurteilung nicht verletzt:
Auch wenn man aber in verfassungs- und EMRK-konformer Auslegung der massgebenden Bestimmungen unter Berücksichtigung der Meinungsäusserungs- und Wirtschaftsfreiheit keine hohen Anforderungen an die Notwendigkeit und Sachbezogenheit von ehrverletzenden Äusserungen im Prozess stellen wollte, sind die inkriminierten Äusserungen nicht gerechtfertigt. Der Beschwerdeführer hat sich nicht darauf beschränkt, die Echtheit der Unterschrift bzw. die Geschäftsfähigkeit des Unterzeichners in Zweifel zu ziehen, sondern er hat durch die inkriminierten Äusserungen nach dem Eindruck des unbefangenen Lesers die Beschwerdegegnerin verdächtigt, die Unterschrift ihres kranken Ehemannes erschlichen oder gefälscht zu haben. Die Äusserung dieses Verdachts war völlig unnötig und ist ohne jeden sachlichen Bezug zum Prozessgegenstand, da die Frage, wer allenfalls die Unterschrift erschlichen oder gefälscht hat, in jedem Falle rechtlich unerheblich war (E. 2.2.3).
Durchgedrungen ist der Anwalt hingegen mit seiner Strafzumessungsrüge. Die auffallend hohe Strafe von 30 Tagen Gefängnis war auffallend schwach begründet.

Donnerstag, September 21, 2006

Roschacher-Bericht: Nicht die Wahrheit

Unter diesem Titel kommentiert Marus Gisler in der heutigen Ausgabe Mittellandzeitung den Bericht des Bundesstrafgerichts (s. meinen früheren Beitrag). Aus seinem Beitrag:
Doch hellhörig macht vor allem der Vorgesetzte von Richter Bertossa. Der Präsident der Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts, Emanuel Hochstrasser, hatte dem «Tages-Anzeiger» per Mail bestätigt, dass er Kenntnis von Ramos’ Doppelrolle als Agent hatte. Ramos arbeitete nicht nur für Roschacher, sondern spionierte gleichzeitig auch für die USA. Diesen Sachverhalt hatte die «Weltwoche» aufgedeckt. Inwieweit Ramos’ Rolle als Doppelagent im Bericht berücksichtigt ist, bleibt unklar. Hochstrasser wusste, dass Roschacher Ramos nur deswegen in die Schweiz holen konnte, weil die Amerikaner (konkret die Drug Enforcement Agency) den Kolumbianer als Doppelagenten verpflichteten. Das aber wäre eine krasse Verletzung des Rechts.

Dienstag, September 19, 2006

Bundesanwalt entlastet

Die Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts hat ihren Bericht über die Ermittlungsmethoden der Bundesanwaltschaft abgeschlossen und ihn der GPDel übergeben. Publiziert ist nur die Medienmitteilung, der folgendes zu entnehmen ist:

Im Einvernehmen zwischen Bundesanwaltschaft (BA) und Bundeskriminalpolizei (BKP) hielt sich Ramos zwischen Dezember 2002 und August 2004 in der Schweiz auf mit dem Auftrag, im in der Schweiz operierenden kriminellen Umfeld Informationen, insbesondere im Bereich des Drogenhandels, der Geldwäscherei von Drogengeld und des Menschenhandels, zu beschaffen.

Der Einsatz von Ramos war für BA und BKP in den letzten Jahren einmalig in seiner Art; die Behörden waren sich der Risiken einer solchen Operation bewusst und trafen angemessene Massnahmen, um diese zu minimieren.

Auf der Grundlage der von Ramos gelieferten Informationen wurden neun Ermittlungsverfahren durch die BA eröffnet. Die damals in der Schweiz geltenden gesetzlichen Bestimmungen wurden sowohl bei der Leitung der Operation selbst als auch bezüglich der daraus resultierenden Strafverfahren eingehalten, insbesondere auch bei entsprechenden Verfügungen zur Überwachung der Telekommunikation und beim Einsatz eines verdeckten Ermittlers.

Alles bestens?

Begründung der Strafzumessung

In zwei gestern online gestellten Fällen hatte sich das Bundesgericht mit Strafzumessungsfragen zu befassen:

Im Entscheid 6S.275/2006 vom 05.09.2006 (Vereitelung der Blutprobe) führte u.a. folgende Erwägung zur Aufhebung des angefochtenen Urteils:
Es fehlen auch Angaben, wie die ausgesprochene Strafe im Quervergleich mit ähnlichen Fällen steht, worüber beispielsweise die kantonalen Strafmassrichtlinien Aufschluss geben könnten (E. 5.1).
Dagegen führt das Bundesgericht in 6S.94/2006 vom 31.08.2006 (Mord) aus:
Zu prüfen sind nicht die herangezogenen Vergleichsurteile, sondern das angefochtene Strafmass (E. 10.4).
Beide Zitate stammen übrigens aus Urteilen des Kassationshofs.

Versuchte Gefährdung des Lebens?

Der Kassationshof hat sich in Fünferbesetzung mit der umstrittenen Frage auseinandergesetzt, ob (Urteil 6S.467/2005 vom 07.06.2006). Die Erwägungen des Kassationshofs wirken etwas hölzern und weichen vom üblichen Stil deutlich ab. So werden an Stelle dogmatischer Überlegungen verschiedene vorstellbare Sachverhalte diskutiert. Damit soll beründet werden, es sei massgebend, ob zwischen der Tathandlung und der Gefährdungserfolg "einge gewisse Zeitspanne" liege:
Beim Sachverhalt des Würgens ergibt sich Folgendes: Würgt der Täter sein Opfer genügend stark, d.h. dass sich dieses in unmittelbarer Lebensgefahr befindet, ist das Delikt bereits vollendet. Damit scheiden der vollendete (taugliche) Versuch und tätige Reue aus. Dass die Tathandlung und der Erfolgseintritt zeitlich auseinanderfallen (E. 2.2.1), ist beim Würgen nämlich ausgeschlossen. Ist das Würgen hingegen so schwach, dass keine lebensgefährdung eintritt, liegt auch kein (vollendeter) Versuch vor.

Unvollendeter tauglicher und vollendeter untauglicher Versuch hingegen sind vorstellbar: Just im Zeitpunkt, als der Täter sich anschickt, das Opfer zu würgen, wird er von einer Drittperson überwältigt oder das Opfer trägt unter einem Rollkragenpullover eine metallene Halskrause, die dem Würgegriff des Täters Stand hält (E. 2.2.3).
Also ich weiss nicht ...

Freitag, September 15, 2006

Debatten um das "Thompson Memorandum"

Wie schon mehrfach berichtet (s. hier und hier) gehen die Debatten rund um das Thompson Memorandum in den USA weiter. Sie werden derzeit vor dem Justizkommission des US Senats durch Anhörungen geführt, die Zitate wie das folgende von Senator Patrick Leahy hervorbringen:
The protection of communications between client and lawyer has been fundamental to our nation’s legal justice system since its inception. The right to counsel has long been recognized as essential to ensure fairness, justice and equality under the law for all Americans. This Administration has taken extraordinary steps to investigate and prosecute the press and to intimidate the press, critics, and attorneys while it has claimed unlimited privileges and secrecy for itself.
Gefunden habe ich den Hinweis bei White Collar Crime Prof Blog. Im Volltext finden sich die Hearings hier.

Aktenkopien bitte selber holen

Weil sich die Aargauer Justizbehörden weigerten, einem Strafanzeiger den auf seine Anzeige hin erlassenen Strafbefehl in Kopie zuzustellen, gelangte er mit staatsrechtlicher Beschwerde ans Bundesgericht und obsiegte teilweise (Urteil 1P.298/2006 vom 01.09.2006). Aus den Erwägungen:
Begründet ist die Rüge indessen insoweit, als der Beschwerdeführer vorbringt, das Obergericht habe ihm zu Unrecht untersagt, sich vom Strafbefehl eine Kopie erstellen zu lassen. Nach dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der öffentlichen
Urteilsverkündung ist dieses Recht Bestandteil des Rechts, Einsicht in den Strafbefehl nehmen zu können. Sollte der Beschwerdeführer mit diesem Strafbefehl Missbrauch treiben, wie die kantonalen Behörden befürchten, wird er gegebenenfalls die entsprechenden zivil- und strafrechtlichen Konsequenzen zu tragen haben (E. 2.2.2).
.Nicht geschützt hat das Bundesgericht den behaupteten Anspruch auf Zustellung einer Kopie des Strafbefehls:
Die angeführten verfassungs- und konventionsrechtlichen Garantien verpflichten die Gerichte nach der dargestellten Rechtsprechung nicht, den Strafanzeigern Strafbefehlskopien zuzustellen. Was der Beschwerdeführer dagegen vorbringt, ist nicht geeignet, diese Praxis in Frage zu stellen. Entgegen seiner Auffassung ist es den Berechtigten durchaus zuzumuten, Strafbefehle persönlich auf der Gerichtskanzlei einzusehen. Im Falle eines gerichtlichen Verfahrens mit mündlicher Urteilsverkündigung, die den Unwägbarkeiten des Verfahrensgangs entsprechend früher oder später erfolgt, müsste er unter Umständen einen erheblich grösseren Zeitaufwand einrechnen und sich gegebenenfalls mehr als einmal zum Gericht begeben, um sicher zu sein, der Urteilsverkündigung beiwohnen zu können (E. 2.2.1).
Das Bundesgericht stützte sich dabei auf Art. 30 Abs. 3 BV, Art. 6 Ziff. 1 EMRK und auf Art. 14 Abs. 1 UNO-Pakt II.

Mit 3.34 Promille zurechnungsfähig

Die Beschwerden einer wegen FIAZ Verurteilten Frau hat das Bundesgericht abgewiesen, soweit es darauf eintrat (Urteil 6S.282/2006 vom 04.09.2006). Sie hatte geltend gemacht, mit den festgestellten 3.34 Gewichtspromillen nicht schuldfähig gewesen zu sein. Dazu stellte das Bundesgericht fest:

Bei einer Blutalkoholkonzentration im Bereich zwischen 2 und 3 Promille besteht somit im Regelfall die Vermutungfür eine Verminderung der Zurechnungsfähigkeit, bei einer solchen von über 3Promille die Vermutung für Zurechnungsunfähigkeit. Diese Vermutungen könnenjedoch im Einzelfall umgestossen werden. Der Faustregel liegt kein allgemeiner medizinischer Erfahrungsgrundsatz zu Grunde (E. 3.1).

Die Vorinstanz ist, wie dargelegt, in tatsächlicher Hinsicht willkürfrei davon ausgegangen, dass die Steuerungs- und Einsichtsfähigkeit der Beschwerdeführerin im Tatzeitpunkt trotz einem BAK-Wert von durchschnittlich 3,34 Promille zwar stark herabgesetzt, nicht aber vollständig aufgehoben war (E. 3.2).

Donnerstag, September 14, 2006

Reduzierte Gerichtsgebühr dank Fehlern der Bundesanwaltschaft

In einem bereits vom Ausgangssachverhalt her interessanten Rechtshilfeverfahren (in Deutschland verbotene Ausfuhr von Wafffen nach Guatemala via Schweiz) hat das Bundesgericht die Gerichtsgebühr auf CHF 2,000.00 reduzieren müssen, weil die Bundesanwaltschaft die Aktenablage nach der den Beschwerdeführern gewährten Akteneinsicht verändert hatte (Urteil 1A.123/2006 vom 28.08.2006). Die Beschwerdeführer konnten sich damit zur Beschwerde veranlasst sehen . Unklar war, ob die Beschwerdeführer vor ihrer Beschwerde tatsächlich alle Akten einsehen konnten, was aber unerheblich blieb:
Wie es sich damit im Einzelnen verhält, kann offen bleiben. Eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör ist [...] im Verfahren der Verwaltungsgerichtsbeschwerde heilbar (E. 2.1).
Zur Voraussetzung der doppelten Strafbarkeit griff das Bundesgericht entsprechend seiner früheren Rechtsprechung zu folgendem Argumentarium:
Nach den verbindlichen Schilderungen im Rechtshilfeersuchen haben die im deutschen Verfahren Angeschuldigten die dortigen Behörden über den Endverbleib der Waffen in der Schweiz getäuscht; in Wirklichkeit waren die Waffen für den Export nach Guatemala bzw. in die Dominikanische Republik bestimmt. Hätten die Angeschuldigten die ihnen vorgeworfenen Taten in der Schweiz begangen, hätten sie sich prima facie nach den dargelegten Tatbestandsvarianten von Art. 33 Abs. 1 KMG strafbar gemacht. Die beidseitige Strafbarkeit ist deshalb gegeben (E. 3.4).

DNA-Profile und Rechtsschutz

Das Bundesgericht hat mit Urteil 1A.147/2006 vom 31.08.2006 erneut eine DNA-Streitsache an das Obergericht des Kantons Zürich zur Behandlung überwiesen (vgl. dazu meinen frühreren Beitrag). Die neue Beschwerde datiert zwei Tage vor dem letzten Entscheid des Bundesgerichts in dieser Sache.

Gewerbsmässige Geldwäscherei?

Der Kassationshof hebt ein Urteil der Genfer Justiz auf, weil die Voraussetzungen für den schweren Fall der Geldwäscherei (Art. 305bis Ziff. 2 lit. c StGB) nur ungenügend festgestellt wurden (Urteil 6S.225/2006 vom 08.08.2006):
Mais le métier suppose que les actes de blanchiment procurent ou devraient procurer à leur auteur un revenu relativement régulier. Au sujet du revenu régulier acquis par le recourant, l'arrêt attaqué ne contient aucune constatation; il y est seulement relevé que la réalisation d'un gain important n'était pas exclue par le fait que le recourant et son coaccusé ont blanchi de l'argent provenant de leur propre crime. Dans ces circonstances, il ne peut pas être examiné si l'art. 305bisch. 2 let. c CP a été correctement appliqué. Il s'ensuit l'admission du pourvoi (E. 4.2).

Die Verfolgungsjagd geht weiter

Wie bereits KunzOBlog berichtet hat, muss die Züricher Justiz ein Verfahren gegen zwei Polizisten, die sich auf eine Verfolgungsjagd mit einem jugendlichen Motorradfahrer mit Unfallfolge eingelassen hatten und verfolgten aus formellen Gründen neu beurteilen.

Ich verzichte hier auf eigene Kommentare, wage dafür aber eine Prognose: Der neu zu fällende Entscheid wird gleich lauten, diesmal einfach ohne den formellen Fehler.

Mittwoch, September 13, 2006

Hausdurchsuchung bei Jan Ullrich

Wie die NZZ berichtet, wurde das Wohnhaus von Jan Ullrich durchsucht. Die Durchsuchung fand im Rahmen eines Verfahrens der Bonner Staatsanwaltschaft amtshilfeweise in der Schweiz statt. Interessant daran ist u.a. die Begründung des Betrugsverdachts:
Es bestehe der Verdacht, dass die Beschuldigten ihren Vertragspartner mit der Einnahme unerlaubter Mittel getäuscht hätten. Auf diese Weise hätten sie Geld erhalten, das der Sponsor bei Kenntnis der Dopingmethoden nie gezahlt hätte.
Jedenfalls nach schweizerischem Recht dürfte der Betrug offensichtlich nicht erfüllt sein. Jedenfalls müsste Art. 146 StGB ziemlich akrobatisch ausgelegt werden, um den Tatbestand als erfüllt qualifizieren zu können.

Solothurn für BWIS II

Der Regierungsrat (2 FdP, 2 CVP, 1 SP) der ehemals liberalen Hochburg Solothurn stimmt dem Entwurf BWIS II des Bundesrats offenbar vorbehaltlos zu. Der Medienmitteilung vom 12.09.2006 sind folgende erstaunliche Passagen zu entnehmen:

Der Regierungsrat sieht in seiner Stellungnahme Handlungsbedarf gegeben und stimmt deshalb in seiner Vernehmlassung an EJPD der Teilrevision des Bundesgesetzes über Massnahmen zur Wahrung der innern Sicherheit zu.

Insbesondere teilt er die Meinung, dass aus repressiven wie präventiven Gründen die Stärkung der schweizerischen Sicherheitsbehörden erforderlich ist. Die vorgeschlagenen Massnahmen berurteilt er als notwendig und zweckmässig.

Ich bin vielleicht naiv, aber ich finde es erstaunlich, dass der Regierungsrat Zwangsmassnahmen gegen seine Wähler ohne konkreten Verdacht zulassen will und sie damit unter Generalverdacht stellt.

"Anwalt der ersten Stunde" auf gutem Weg

Wie die Rechtskommission des Ständerats heute mitteilt, haben sich ihre Beratungen auf die umstrittenen Punkten der StPO/CH konzentriert (vgl. Vorlage 05.092 ).

Zum Recht, einen Anwalt bereits zur ersten polizeilichen Einvernahme beizuziehen (Art. 158 E StPO/CH) äussert sie sich wie folgt:

Die Kommission befürwortet diese Regelung und weist auf die guten Erfahrungen der Kantone hin, die bereits eine solche Regelung kennen. Sie hält insbesondere fest, dass die Aussagen vor der Polizei im Verfahren aufgewertet würden, weil die Anwesenheit der Anwältin oder des Anwalts Garant für die Einhaltung der Rechte der beschuldigten Person sei.
Wesentliche $nderungen schlägt die Kommission im Bereich des Strafbefehlsverfahrens vor, das ihr im Entwurf zu ineffizient erscheint:
  • keine Anhörungspflicht des Beschuldigten bei Freiheitsstrafen
  • kein Einspracherecht der Privatklägerschaft
  • keine Begründungpflicht für das Strafmasses
  • kein spezielles Übertretungsverfahren

Mit diesen Vorschlägen scheint die Kommission zu verkennen, dass im neuen Recht voraussichtlich weit über 90% aller Strafverfahren im Strafbefehlsverfahren erledigt werden. Wenn man dann auch noch beachtet, dass es sich dabei durchaus nicht nur um Bagatellfälle handelt, erscheint diese Effizienzsteigerung als verfehlt.

Weiter begrüsst die Kommission das abgekürzte Verfahren (Absprachen), weist aber die Strafmediation als ungeeignet zurück. Die Arbeiten der Kommission sollen im Oktober bereits abgeschlossen werden.

Dienstag, September 12, 2006

"Äusserst lästig und ärgerlich sowie klar antisozial"

In einem heute online gestellten Entscheid hatte sich das Bundesgericht mit verschiedenen Fragen im Zusammenhang mit der Auflage von Kosten an einen Beschwerdeführer zu befassen, dessen Strafverfahren im Kanton Thurgau zu lauter Freisprüchen bzw. zu Einstellungen führte (Urteil 1P.49/2006 vom 21.06.2006).

Bereits das Datum des Entscheids bzw. die stark verzögerte Publikation im Internet lässt auf Aussergewöhnliches schliessen. Die Lektüre Urteils bestätigt diesen Eindruck. Sie könnte darauf schliessen lassen, dass das Bundesgericht von einem zum Vornherein feststehenden Ergebnis ausging und danach versuchen musste, dieses Ergebnis einigermassen schlüssig zu begründen, was allerdings nicht gelingen konnte.

Ich verzichte darauf, aus den rechtlichen Erwägungen zu zitieren und überlasse es dem interessierten Leser, sich selbst ein Bild zu machen. Ein Hinweis zum Sachverhalt soll hier genügen: Die Vorinstanz hatte das Verhalten des Beschwerdeführers als
äusserst lästig und ärgerlich sowie klar antisozial.
geschildert. Diese Auffassung teilte ganz offensichtlich auch das Bundesgericht.

Ineffizienz der Bundesstrafverfolger

Von den hier kürzlich verlinkten parlamentarischen Vorstössen sei hier noch speziell auf denjenigen von NR Baumann verwiesen (06.3153; Ineffizienz der Bundesanwaltschaft als Strafverfolgungsbehörde?). Der Antwort des Bundesrats ist zu entnehmen, dass die Interpellation nicht unbegründet war. Aus der Antwort des Bundesrats:
Aus diesen Angaben ergeben sich folgende Gesamtzahlen für organisierte Kriminalität und Geldwäscherei: Zwischen 2002 und 2005 eröffnete die Bundesanwaltschaft insgesamt 365 gerichtspolizeiliche Ermittlungsverfahren (...). Im gleichen Zeitraum wurden 141 Verfahren eingestellt (...) und 3 Anklagen erhoben. Die übrigen Verfahren befinden sich in verschiedenen Stadien der Ermittlung bei der Bundesanwaltschaft oder der Voruntersuchung beim Untersuchungsrichter (...).
Die detaillierten Zahlen sind leider nur über einen Umweg möglich: wer sie will, hat sich an das Zentrale Sekretariat der Parlamentsdienste zu wenden. Damit ergeben sich für die Bereiche Organisierte Kriminalität und Geldwäscherei folgende Zahlen, wobei nicht klar ist, ob es sich bei den eingestellten und den zur Anzeige gebrachten Verfahren nur um solche handelt, die in der selben Periode eröffnet worden waren:

Eröffnete Verfahren 2002 bis 2005:

365

100%

Eingestellte Verfahren 2002 bis 2005:

141

39%

Anklagen 2002 bis 2005:

3

0.8%

S. dazu auch den heutigen Beitrag in der NZZ.

Die Schweiz im Kampf gegen den Terrorismus

Auch die Sicherheitspolitische Kommission des Ständerats nimmt die Gelegenheit des Jahrestags von 9/11 wahr, sich zur effizienteren Bekmämpfung des Terrorismus zu äussern. Aus Ihrer Medienmitteilung zitiere ich folgende Passage:
Die SiK-S nahm des weiteren mit Genugtuung davon Kenntnis, dass der Bundesrat mit der vor zwei Monaten in die Vernehmlassung geschickten Revision des Bundesgesetzes über die Massnahmen zur Wahrung der Inneren Sicherheit (Revision BWIS II) sich in vielen Bereichen in diejenige Richtung bewegt, welche die SiK-S mit ihrem Vorstoss im vergangenen Jahr vorgegeben hatte, insbesondere was die Informationsbeschaffung (inklusive deren Kontrolle) im Rahmen der Terrorismusbekämpfung betrifft.
Im oben verlinkten Vorstoss regte die SiK-S u.a. an, folgende Massnahmen zu prüfen:

- Ermöglichung von Präventivüberwachung:
Bisher schreibt das Gesetz das Vorliegen eines dringenden Verdachts vor, was Präventivüberwachungen praktisch verunmöglicht; diese wären aber (besonders in der ersten Untersuchungsphase) für eine erfolgreiche Terrorismusbekämpfung nötig. Deshalb erscheint es prüfenswert, das BÜPF und/oder das Bundesgesetz vom 21. März 1997 über Massnahmen zur Wahrung der inneren Sicherheit entsprechend anzupassen.
- Ermöglichung von Präventivinterventionen:
Das Bundesgesetz vom 15. Juni 1934 über die Bundesstrafrechtspflege (BStP) verlangt das Vorliegen schwerwiegender Verdachtsmomente, was Präventivinterventionen verunmöglicht oder zu einer verfrühten Bekanntgabe der Beweismittel führt. Es soll geprüft werden, ob bzw. wie das Gesetz in diesem Punkt angepasst werden kann.
Es ist wohl richtig, dass das BÜPF einen dringenden Tatverdacht voraussetzt. Zu beachten ist dabei aber, dass die Praxis mit dieser Voraussetzung eher locker umzugehen scheint. Es ist m. W. kein Fall bekannt, der zur Abweisung einer beantragten Überwachung mangels dringenden Verdachts geführt hätte.

Montag, September 11, 2006

Vom Bundesrat beantwortete Vorstösse

Aus der heute veröffentlichten Liste weise ich auf folgende zwei Motionen hin:

06.3152 n Ip. Baumann J. Alexander. Rechtshilfe in Strafsachen. Voreilige Blockierung von Vermögenswerten durch die Bundesanwaltschaft

06.3153 n Ip. Baumann J. Alexander. Ineffizienz der Bundesanwaltschaft als Strafverfolgungsbehörde?

06.3247 n Ip. Fraktion V. Höchste Zeit für volle Transparenz zu Schengen

06.3385 n Ip. Kiener Nellen. Wie viel kosten die Polizeieinsätze der Armee?

Die Schweiz und die Folgen von 9/11

Die Mittellandzeitung brachte heute einen Artikel über die Folgen von 9/11 in der Schweiz, aus der ich folgende Aussagen sinngemäss übernehme:

Prof. Andreas Auer, Verfassungsrechtler, Uni Genf:

Die Menschenrechtssituation ist heute um ein Vielfaches schlechter.

Gar nicht die geplanten Gesetzesänderungen sind das eigentliche Problem. Gravierender ist die Tatsache, dass derartige Einschränkungen gar nicht mehr allzu stark stören. Die Gesellschaft ist im Allgemeinen viel restriktiver geworden.

Jean-Philipp Walter, stv. EDÖB:

Die im BWIS angelegten Verschärfungen sind ungenügend begründet. Es ist nicht belegt, dass die Schweiz präventive Massnahmen gegen Terrorismus nötig habe.

Die Entwicklung geht eher auf eine gewisse Resignation gegenüber dem Ausbau von Sicherheitsmassnahmen zurück. Das ist jedoch nicht ohne Probleme: Videoüberwachung kann zwar eine abschreckende Wirkung haben, führt aber gleichzeitig auch zu einem falschen Sicherheitsgefühl und damit zum Rückgang einer gewissen Wachsamkeit in der Bevölkerung.

Zitiert wird allerdings auch die Studie "Sicherheit 2006" der ETH Zürich:
Rund zwei Drittel der Bevölkerung sind bereit, für die Bekämpfung des Terrorismus eine Einschränkung der persönlichen Freiheit in Kauf zu nehmen. Ein ähnlicher Anteil befürwortet die Videoüberwachung öffentlicher Orte.
Ein Fazit der ETH-Sutide (S. 126) ist das Folgende:
Die Daten für dieses Jahr zeigen allerdings eine bemerkenswerte Abschwächung in der Links-rechts-Polarisierung. Diese kommt dadurch zustande, dass die Gutheissung repressiver polizeilicher Massnahmen und des Militäreinsatzes für die Innere Sicherheit auf der Linken eher zugenommen hat, während sie auf der politisch rechten Seite tendenziell stabil geblieben ist.
Dass die Linke wankt, ist für mich nicht überraschend. Bedenklich ist die Stabilität auf der ehemals liberalen Rechten.

Ich weiss es, darf aber nichts sagen

Der Direktor des Bundesamts für Polizei, das sich selbst liebevoll "fedpol" nennt, stellt in einem Interview mit der SonntagsZeitung das Unfassbare, ja Undenkbare fest: Ein Anschlag ist auch bei uns möglich.

Da ich den Artikel online nicht verlinken kann, erlaube ich mir hier ein paar Zitate aus dem Interview:

Aufgrund laufender Ermittlungen und der bisherigen Erkenntnisse können wir nicht ausschliessen, dass es Pläne für Anschläge in der Schweiz gab. Präzisieren können wir das momentan nicht, weil es sich um laufende Verfahren handelt.

Da die Schweiz keine Insel ist, liegt ein solcher Anschlag auch bei uns im Bereich des Möglichen, auch wenn konkrete Vorbereitungshandlungen bisher noch nicht endgültig nachgewiesen werden konnten.

Sie haben recht, Vorbereitungshandlungen sind strafbar. Aber mögliche Terroristen können sich auch so verhalten, dass sie noch keinen Straftatbestand erfüllen, weil sie diese Grenze bewusst nicht überschreiten.

Auf die Fichenaffäre und das anschliessend in Kraft gesetzte BWIS angesprochen meint der Direktor:

Der damalige Gesetzgeber hat ausdrücklich gewisse Risiken in Kauf genommen. Seither hat sich die Bedrohungslage aber stark verändert, und deshalb müssen diese Grenzen jetzt wieder ausgeweitet werden.
Naja, Herr Direktor, wenn Sie nicht einmal darüber reden dürfen, kann sich die Bedrohungslage so stark nicht verändert haben. Jedenfalls müssen Sie damit rechnen, dass man es Ihnen nicht abkauft.

Sehr überzeugend finde ich übrigens den Hinweis auf die besonders schlitzohrigen Terroristen, welche die Grenze zur Strafbarkeit nicht überschreiten, und das auch noch bewusst. Von denen hätten selbst Osama bin Laden oder Mohammed Atta noch was lernen können. Andererseits: Hätten sie es gelernt, wüssten wir wahrscheinlich gar nicht, wie ernst die Bedrohungslage in Wirklichkeit ist.

Samstag, September 09, 2006

Update: Schnüffelstadt Grenchen?

Wie der Geschäftsführer von SoWatch (s. meine früheren Beiträge hier und hier) gemäss einem Bericht im Solothurner Tagblatt versichert, hat der Einsatz von Sozialdetektiven [tolle Wortschöpfung übrigens, Gratulation!] nichts mit Schnüffelei oder illegalen Abhöraktionen zu tun. Nein, es handelt sich um ...

... PRÄVENTION [oder gar um Sozialprävention?].

und der Geschäftsführer hofft - fast schon ein bisschen verzweifelt:

Die juristische Grundlage für eine verdeckte Ermittlung muss gegeben sein [auch wenn ich sie noch nicht gefunden habe: es muss sich doch einfach geben. Irgendwo. Hundertpro. Ich bin ganz sicher, und überhaupt ...],

gesteht dann aber doch ein:

Vielleicht braucht es künftig auch noch neue zusätzliche gesetzliche Grundlagen. Aber das ist ein politischer Entscheid [und damit will ich nichts zu tun haben].

Einstweilen behilft sich der SoWatch-Geschäftsführer, der zur Zeit auch interimistischer Leiter des Sozialamts Bettlach ist, mit folgenden Präventivsicherungen:

Einwilligung: Jeder Klient wird beim Eintritt in die Sozialhilfe mittels Merkblatt darauf aufmerksam gemacht, dass bei vermutetem Missbrauch verdeckt gegen ihn ermittelt werden kann [Wir sagen auch jedem Klienten, was Missbrauch ist. Viele gibt übrigens nicht mehr, denn die Sozialprävention hat bereits zu wirken begonnen] .

Datenschutz: Es werden keine Daten ausserhalb des Auftrages, den das Sozialamt erteilt, herausgegeben [Geschnüffelt wird auch ausserhalb des Auftrags, aber das wird nicht herausgegeben, nicht einmal den Klienten. Aus Datenschutzgründen].

Rechtsschutz: Jedem Klienten wird im Nachhinein das rechtliche Gehör gewährt [Wir haben uns überlegt, das rechtliche Gehör bereits früher vor unseren verdeckten Ermittlungen zu gewähren, aber unser Unternehmensberater hat uns davon abgeraten] .

Ach ja, die Bemerkungen in Klammern sind von mir, und nicht von SoWatch oder SoWatch nahestenden Personen. Die - also die Bemerkungen in Klammern - stehen auch nicht im Tagblatt. Ich übernehme dafür - also für die Bemerkungen in Klammern - wie üblich keine Haftung. Also das wäre mir jetzt echt zu heikel. Ich wollte ja eh nur etwas herumalbern und überhaupt.

Und noch was: Im Sinne sozialpräventiver Wiedergutmachung weise ich darauf hin, dass ich die SoWatch-Website jetzt schon mehrfach verlinkt habe und dass sie - also die SoWatch-Website - seit meinem letzten Besuch mit folgendem Hinweis aufgemotzt wurde:

"Bitte beachten Sie auch:
http://www.ulrich-bohren.ch/"

Freitag, September 08, 2006

Update: Nichtiger Haftentscheid

Erst vor ein paar Tagen habe ich hier über ein Urteils des Bundesstrafgerichts (BH.2006.18 vom 03.08.2006) berichtet, das einen Haftentscheid als nichtig qualifiziert hatte. Dagegen hat die Bundesanwaltschaft Beschwerde geführt. Diese hat das Bundesgericht war abgewiesen, dann aber einigermassen überraschend gleich selbst über die Haft entschieden und damit die Bundesanwaltschaft geschützt (Urteil 1S.11/2006 vom 31.08.2006):
Nach dem Gesagten ist die Beschwerde zwar als unbegründet abzuweisen. Im vorliegenden Fall rechtfertigt es sich jedoch im Lichte des Beschleunigungsgebotes von Art. 31 Abs. 4 BV, die Haftsache nicht dem eidg. URA oder der Beschwerdekammer als Haftgericht gemäss Art. 52 Abs. 2 BStP) zur materiellen Behandlung zu übermitteln, sondern ausnahmsweise direkt durch das Bundesgericht zu behandeln (E. 5).
Das Bundesgericht verwies auf seine Praxis, wonach gerade im Prostitutionsmilieu in der Regel von einer erhöhten Gefahr von Druckversuchen bzw. Kollusionsneigung ausgegangen werden müsse:
Zwar haben im vorliegenden Fall schon zahlreiche Befragungen von Auskunftspersonen und Zeug(inn)en stattgefunden. Wie sich aus den Akten ergibt, stehen jedoch noch weitere Einvernahmen von anderen Gewährspersonen aus, insbesondere aus dem Umfeld des Beschuldigten. Die Ermittler werfen ihm ausserdem vor, er habe in die Schweiz eingeschleuste Frauen angewiesen, gegenüber der Polizei und Dritten keine Angaben zu machen über die Art und Weise ihrer Einreise sowie über die Verhältnisse in den fraglichen Bordellen. Zwar gebe es unterschiedliche Aussagen über die Gewaltbereitschaft des Beschuldigten; in dem von ihm frequentierten Prostitutionsmilieu herrsche jedoch ein "Klima der Angst", was sich auf die Aussagebereitschaft der Betroffenen auswirke. Darüber hinaus befindet sich der vorliegende komplexe Fall noch in einem relativ frühen Stadium der Ermittlungen. Die Untersuchung ist nicht abgeschlossen (E. 6.2).
Im Weiteren stellte das Bundesgericht fest, dass ein Haftprüfungsverfahren, das bis zur richterlichen Entscheidung zwei Monate dauert, grundsätzlich nicht mehr als "raschestmöglich" im Sinne von Art. 31 Abs. 4 BV angesehen werden könne. Die "Konsequenzen" zieht es wie folgt:
Die Verletzung des Beschleunigungsgebotes im Haftprüfungsverfahren führt in der Regel nicht automatisch zur Haftentlassung des Angeschuldigten, sofern - wie hier - materielle Haftgründe gegeben sind und auch die Haftdauer noch verhältnismässig ist. In einem solchen Fall genügt nach der Praxis grundsätzlich die Feststellung der Verletzung von Verfahrensrechten. Das Haftentlassungsgesuch hingegen ist abzuweisen ( E. 8.2).
Im Ergebnis bedeutet dies, dass das Beschleunigungsgebot in denjenigen Fällen nicht zu beachten ist, in denen ein materieller Haftgrund besteht und die Haftdauer noch nicht unverhältnismässig ist (also noch nicht in der Nähe der zu erwartenden Freiheitsstrafe liegt). Art. 5 Ziff. 4 EMRK sagt dagegen folgendes (Hervorhebung durch mich):
Jede Person, die festgenommen oder der die Freiheit entzogen ist, hat das Recht zu beantragen, dass ein Gericht innerhalb kurzer Frist über die Rechtmässigkeit des Freiheitsentzugs entscheidet und ihre Entlassung anordnet, wenn der Freiheitsentzug nicht rechtmässig ist.
Ich bin jetzt nicht sicher, ob der EGMR diese Frage schon entschieden hat. Falls nicht, müsste man damit mal nach Strassburg. Mir erscheint die Konventionsverletzung als offensichtlich.

Verkauf von Hanfutensilien als strafbare Gehilfenschaft?

Ein im Kanton Wallis u.a. wegen Gehilfenschaft zu Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz Verurteilter, ist vor Bundesgericht mit Nichtigkeitsbeschwerde teilweise durchgedrungen (Urteil 6S.240/2006 vom 17.08.2006). Auf den Anwaltskosten und auf Gerichtskosten von CHF 2,000.00 bleibt er freilich sitzen.

Der Beschwerdeführer hatte Utensilien vermietet bzw. verkauft, die zur Gewinnung von Betäubungsmittel dienten. Unklar war hingegen, ob die Kunden des Beschwerdeführers die Utensilien für den Eigenkonsum von Drogen verwendeten oder ob sie die gewonnenen Betäubungsmittel weitergaben. Ersteres wäre straffrei, weil der Eigenkonsum lediglich eine Übertretung darstellt (vgl. Art. 104 Abs. 1 StGB und Art. 26 BetmG). Für die zweite Variante war der Sachverhalt nicht genügend abgeklärt:
Dans le second cas, il faudrait encore établir que les appareils en cause ont effectivement été utilisés pour extraire des stupéfiants. Il ne suffit pas en effet que les appareils aient été vendus en vue d'extraire la résine du chanvre, mais encore faut-il que le délit principal, ici l'extraction de stupéfiants, ait au moins atteint le seuil de la tentative. La cour cantonale a donc violé le droit fédéral en condamnant le recourant pour complicité de trafic de stupéfiants sur la base des faits retenus dans l'arrêt attaqué (E. 9.2).
Der Fall zeigt, wie wichtig der AT StGB für die Verteidigung sein kann, auch wenn der Teilsieg dem Beschwerdeführer unter dem Strich wohl nur weitere Kosten bringen wird.

Wie rigide die Betäbungsmittel-Rechtsprechung im Übrigen ist, zeigt folgendes Zitat:
Pour que le producteur de chanvre soit punissable, il suffit d'établir que le but visé est la production de stupéfiants et que ce but est accepté par l'auteur. Il n'est pas nécessaire que des stupéfiants soient effectivement produits et notamment que l'acquéreur soit punissable pour extraction ou consommation de stupéfiants (E. 8.1).
Man stelle sich die Übertragung dieser Rechtsprechung auf andere Bereiche ausserhalb des BetmG vor ...

Donnerstag, September 07, 2006

Kein notstandsähnliches Widerstandsrecht für Anwälte

Gegen einen Anwalt im Kanton Zürich wurde ein inzwischen eingestelltes Strafverfahren wegen Verdachts des betrügerischen Missbrauchs einer Datenverarbeitungsanlage, evtl. Betrugs oder Veruntreuung, sowie des Verdachts des betrügerischen Konkurses und Pfändungsbetrugs, der Gläubigerschädigung durch Vermögensminderung, evtl. Bevorzugung eines Gläubigers geführt. Nach Einstellung des Verfahrens erhielt der Anwalt Akteneinsicht und stellte fest, dass eine ganze Reihe von Kontounterlagen des Anwaltsbüros ediert worden waren.. Wie aus einem heute online gestellten Urteil des Bundesgerichts (1P.375/2006 vom 24.08.2006) zu entnehmen ist, entfernte der Anwalt die Bankunterlagen kurzerhand aus den Akten und teilte der Staatsanwaltschaft mit,
dass ein Teil der Akten nichtzurückgegeben, sondern ausgesondert, in den Räumlichkeiten des Advokaturbüros "X. Rechtsanwälte", in unveränderter Reihenfolge in einem neuenOrdner versiegelt aufbewahrt werde, und für den Fall, dass die Staatsanwaltschaft I auf einer Rückgabe beharren sollte, der Aufsichtskommission über die Rechtsanwälte im Kanton Zürich zur Verfügung gestellt würde.
Die Verfügung der Staatsanwaltschaft, die zurückbehaltenen Unterlagen zurückzuschicken, focht er erfolglos bis ans Bundesgericht an. Aus dem Entscheid:
Nach dem angefochtenen Rekursentscheid steht dem Beschwerdeführer kein notstandsähnliches Widerstandsrecht zu, das den Aktenrückbehalt begründen würde, da keine offensichtlich rechtswidrige Amtshandlung vorliege, durch welche bestehende Rechtsgüter unmittelbar bedroht gewesen wären. Der Beschwerdeführer widerspricht dem nicht ausdrücklich. Sein Vorbringen, die Edition der Bankunterlagen sei verfassungswidrig, betrifft ein hier nicht massgebliches Verfahren. Soweit es als Vorfrage zu berücksichtigen ist, erweist es sich in tatsächlicher Hinsicht verfehlt und begründet kein Widerstandsrecht: Die vom Beschwerdeführer zurückbehaltenen Dokumente wurden bei den beiden kontoführenden Bankinstituten erhoben und sodann zu den Akten der Strafuntersuchung gegen den Beschwerdeführer genommen. Die Banken haben sich der Edition nicht widersetzt. Beim Beschwerdeführer bzw. in seiner Anwaltskanzlei wurde weder eine Edition noch eine Beschlagnahme durchgeführt (E. 1.4).
Am Schluss des Entscheids schiesst das Bundesgericht dem Beschwerdeführer einen kräftigen Schuss vor den Bug:
Art. 5 Abs. 3 BV hält als Grundsatz rechtsstaatlichen Handelns fest, dass staatliche Organe und Private nach Treu und Glauben handeln. Dieser Grundsatz lässt es nicht zu, dass ein Rechtsanwalt aus den ihm zur befristeten Einsicht überlassenen Verfahrensakten Unterlagen entfernt und zurückbehält. Wer deswegen ein Verfahren anstrengt, muss damit rechnen, dass ihm rechtsmissbräuchliche Prozessführung vorgeworfen und seine Beschwerde vor Bundesgericht gemäss Art. 36a Abs. 2 OG als unzulässig erklärt wird (E. 2).
Letzteres hat das Bundesgericht dann aber doch nicht bzw. nur indirekt getan, indem es dem Anwalt eine Gerichtsgebühr von CHF 3,000.00 auferlegte.

Interessant ist, dass das Bundesgericht dem Anwalt ein Vertoss gegen Art. 5 Abs. 3 BV vorwirft. Zum selben Ergebnis hätte man doch auch kommen können, ohne die Verfassung zu bemühen. Diese Verfassungsnorm werde ich bei Gelegenheit einmal näher anschauen müssen. Wer weiss, was sich daraus noch alles ableiten lässt ...

Vom Bundesrat beantwortete Vorstösse

Der Bundesrat hat wiederum eine Serie von Vorstössen beantwortet, welche hier von Interesse sein können. Es sind dies die folgenden, von denen die fett gedruckten zur Lektüre empfohlen sind:
  • 06.3195 n Mo. Rennwald. Massnahmen gegen Sabotage von Unternehmen
  • 06.3203 n Ip. Abate. Ermittlungsverfahren gegen die SUVA
  • 06.3238 n Ip. Baumann J. Alexander. Schengen. Revision erlaubt ausländischen Polizisten Nachteile und Observation auf Schweizergebiet auch in Steuersachen
  • 06.3335 n Po. Hochreutener. Stürmen des Spielfeldes als Straftatbestand
  • 06.3362 n Po. Recordon. Gerichtliche Verfahren und Wirtschaftskriminalität
  • 06.3389 n Ip. Baumann J. Alexander. Bundesanwalt gewährt Rechtshilfe an die russische Geheimpolizei FSB
  • 06.1086 n A Vaudroz René. Strafgesetzbuch. Inkrafttreten der Änderung 2002
  • 06.1089 n A Schmied Walter. Verjährung von Strafklagen im Fall Swissair

Update 2: Interpellationen zur Staatsanwaltschaft SO

Wie die beiden Solothurner Lokalblätter (hier und hier) berichten, hat der Kantonsrat gestern die Antworten der Regierung auf die beiden Vorstösse zur Staatsanwaltschaft behandelt (s. dazu meinen letzten Beitrag). Die verbleibende Unzufriedenheit konzentriert sich auf folgende Bereiche, die ich kurz kommentiere:

1. Zu hohe Strafkompetenz der Staatsanwälte im Strafverfügungsverfahren. Ich schliesse mich dieser Kritik an, aber der Kantonsrat muss sich hier an der eigenen Nase nehmen. Dass die Staatsanwälte dazu neigen, im Zweifelsfall eine Strafverfügung zu erlassen, statt einen Fall ans Gericht zu überweisen, wage ich zu bezweifeln. Einen Fall, der diesen Verdacht begründen könnte, ist mir jedenfalls nicht bekannt. Ich sehe auch nicht, was das der Staatsanwaltschaft bringen bzw. ersparen würde.

2. Pendenzenberg. Die Ursache des Pendenzenbergs wäre die interessante Frage. Die derzeitige Lösung, Gerichtspersonal bei der Staatsanwaltschaft zu beschäftigen kann jedenfalls nur eine Übergangslösung darstellen. Sie ist unter dem Aspekt der Gewaltentrennung auch nicht ganz unproblematisch.

3. Zu wenig Haftfälle: Hier kann ich nur dem Justizdirektor zustimmen, der im Tagblatt wie folgt zitiert wird: «Ich bin froh über jeden, der nicht verhaftet wird.» Da habe er «ein ganz ruhiges Gewissen.»

4. Schnittstelle Staatsanwaltschaft - Polizei: Hier liegt m.E. das Hauptproblem und es liegt in erster Linie wohl nicht bei der Staatsanwaltschaft, sondern bei der Polizei. Die Lösung soll nun eine neue gemeinsame Datenbank sein. Wieder wird also die EDV und Steuermittel bemüht, wo eigentlich klare Weisungen erforderlich wären.

Den eigenen Tod verpasst

Es kommt vor, dass der Sachverhalt interessanter ist als die rechtlichen Erwägungen. Zu diesen Fällen zähle ich den Sachverhalt, der dem Urteil des Bundesgeichts vom 21.08.2006 (1P.183/2006) zu Grunde liegt:
Gemäss Anklageschrift der Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau vom 11. August 2004 wurde X. vorgeworfen, er habe vorgetäuscht, am 20. November 1999 in M.(Albanien) bei einem Verkehrsunfall ums Lebengekommen zu sein. Gestützt auf drei gefälschte amtliche Dokumente (je mit beglaubigter Übersetzung) und mit Hilfe seiner damaligen Ehefrau habe er in der Folge von verschiedenen Versicherungseinrichtungen Leistungen im Gesamtbetrag von gegen Fr. 430'000.-- bezogen. Seiner damaligen Ehefrau habe er ausserdem gedroht, ihre Familienangehörigen zu ermorden und sie als Drahtzieherin der Versicherungsbetrüge zu bezeichnen, wenn sie ihm die Versicherungsleistungen nicht aushändige. [...]. Der Beschuldigte bestritt, an der ihm vorgeworfenen Tat beteiligt gewesen zu sein. Er machte geltend, bis zu seiner vorübergehenden Verhaftungam 3. November 2000 keine Kenntnis davon gehabt zu haben, angeblich verstorben zu sein. Seine Ehefrau habe seinen Autounfall ausgenützt, um an die Versicherungsleistungen heranzukommen. Von ihrem Vorgehen habe er nichts gewusst. Erst während des Verfahrens seien ihm die Details bekannt geworden. Sie habe die Todesbescheinigungen fälschen lassen, während dem er als Folgedes Autounfalls im Spital im Koma gelegen habe. Dafür habe sie sich Dritter bedient, wobei ihr Beziehungen zu höchsten staatlichen Stellen zugute gekommen seien. Nach Auszahlung der Versicherungsleistungen habe sie die aktenkundigen Bankbezüge getätigt und einen Teil des Geldes verbraucht bzw. beiseite geschafft. Ihm selber habe sie insgesamt Fr. 15'000.-- ausbezahlt und dazu erklärt, es handle sich um Leistungen im Zusammenhang mit einem Unfall, den sie früher erlitten hatte.
Der Beschwerdeführer scheiterte letztlich an der Plausibilisierung seiner Version bzw. an der geltend gemachten Verletzung der Unschuldsvermutung. Welche Anforderungen das Bundesgericht daran stelle, sei hier wieder einmal zitiert:
Die Maxime ist verletzt, wenn der Strafrichter an der Schuld des Angeklagten hätte zweifeln müssen. Dabei sind bloss abstrakte und theoretische Zweifel nicht massgebend weil solche immer möglich sind und absolute Gewissheit nicht verlangt werden kann. Es muss sich um erhebliche und nicht zu unterdrückende Zweifel handeln, d.h. um solche, die sich nach der objektiven Sachlage aufdrängen. Bei der Frage, ob angesichts des willkürfreien Beweisergebnisses erhebliche und nicht zu unterdrückende Zweifel hätten bejaht werden müssen und sich der Sachrichter vom für den Angeklagten ungünstigen Sachverhalt nicht hätte überzeugt erklären dürfen, greift das Bundesgericht nur mit Zurückhaltung ein, da der Sachrichter diese in Anwendung des Unmittelbarkeitsprinzips zuverlässiger beantworten kann (E. 2.2).
Im Ergebnis bedeutet dies, dass vor Bundesgericht praktisch die Unschuld zu beweisen ist, notabene ohne Nova. Erstens müssen sich Zweifel nach der objektiven Sachlage geradezu aufdrängen und zweitens auferlegt sich das Bundesgericht auch noch Zurückhaltung bei der Überprüfung. Diese doppelte Schwelle erscheint selbst für die staatsrechtlichen Beschwerde als zu hoch. Wenig überzeugend erscheint insbesondere, dass das Bundesgericht seine Zurückhaltung mit der Unmittelbarkeit des Hauptverfahrens begründet, die es in der Schweiz kaum mehr gibt.

Mehrfache Freiheitsberaubung im Jugendheim

Das Bundesgericht hatte die Beschwerden des Leiters eines Jugendheims im Kanton Thurgau zu beurteilen, der
mehrfach Jugendliche zu Sanktionszwecken und zur Ruhigstellung unter Verwendung eines 8-teiligen Bett-Fixationssatzes ('Segufix 2') auf deren Bett gefesselt oder sie in Handschellen gelegt
hat und dafür zu einem Monat Gefängnis bedingt verurteilt wurde (Urteil 6S.222/2006 vom
18.08.2006).

Mit Nichtigkeitsbeschwerde rügte der Beschwerdeführer in erster Linie, die Vorinstanz habe Art 183 StGB verletzt, indem sie rechtfertigende Einwilligungen verneint habe. Zu prüfen waren Einwilligungen der Jugendlichen selbst:
Im vorliegenden Fall wird somit die Unrechtmässigkeit der Fesselung zu Bestrafungszwecken nicht dadurch beseitigt, dass die Betroffenen sich etwa beim Eintritt in das Heim in allgemeiner Form mit Fixierungen einverstanden erklärten, die ihrem oder dem Schutz Dritter dienen sollten. Vielmehr wirkt eine Einwilligung nur insoweit unrechtsausschliessend, als die Betroffenen in Kenntnis der Intensität und Dauer der Fixierung der konkret bevorstehenden Bestrafung freiwillig zugestimmt haben (E. 6.3.3).
Zu prüfen waren auch Einwilligungen der gesetzlichen Vertreter:
Die Einwilligungsfreiheit der gesetzlichen Vertreter endet dort, wo die Eingriffe dem Wohl des Kindes oder Mündels eindeutig widersprechen (...). Wie die Vorinstanz im Zusammenhang mit dem elterlichen Züchtigungsrecht zutreffend festhält, umfasst dieses in den Schranken von Art. 301 ZGB allenfalls auch massvollen Freiheitsentzug. Die Tathandlungen des Beschwerdeführers gehen jedoch über das hinaus, was im Rahmen des elterlichen Züchtigungsrechts noch gerechtfertigt sein könnte [...]. Selbst wenn die gesetzlichen Vertreter über die Fixierungen informiert gewesen wären, hätten sie die grösstenteils mehrstündigen Fesselungen zu Bestrafungszwecken nicht rechtsgültig billigen können (E. 6.4).

Montag, September 04, 2006

Raub im Freizeitclub Seebach: Beschwerden abgeschmettert

Gleich mehrfach musste sich das Bundesgericht mit Nichtigkeitsbeschwerden und staatsrechtlichen Beschwerden im Zusammenhang mit einem Raub im zürcherischen Freizeitclub Seebach auseinandersetzen (zuletzt mit den Urteilen 6S.124/2005, 6P.70/2006 sowie 6S.122/2005 vom 17.08.2006). Den Fällen liegt folgender Sachverhalt zu Grunde:
Am 13. Mai 2002 drangen drei maskierte und bewaffnete Personen in den Freizeitclub Seebach in Zürich ein. Dabei richteten sie die Waffen auf die Gäste, fesselten sie teilweise, durchsuchten sie und nahmen ihnen Wertgegenstände ab. Anschliessend fuhren die Täter nach Uster, wo sie die Beute teilten.
Alle drei Täter wurden mit je 3 Jahren Zuchthaus bestraft, wobei es nach dem Gang nach Lausanne auch bleibt. Rechtlich sind die Entscheide nicht besonderes interessant. Das Bundesgericht prüfte die Rügen materiell kaum, weil die Beschwerden mehrheitlich als ungenügend begründet qualifiziert wurden.

Freitag, September 01, 2006

Bürgerlicher Widerstand gegen BWIS II

Laut einem leider etwas wirren Bericht in der Mittelland Zeitung vom 31.08.2006 formiert sich Widerstand gegen BWIS II (s. dazu meinen letzten Beitrag) aus dem rechtsbürgerlichen Lager. Quelle des Berichts soll eine Medienmitteilung von alt Nationalrat Peter Weigelt bzw. dessen PR-Agentur sein. Diese Medienmitteilung habe ich online leider nicht gefunden.

Der Artikel der MZ verkennt, dass es an BWIS I (Hooligangesetz) nichts mehr zu rütteln gibt, dass hingegen BWIS II (Zwangsmassnahmen im Vorfeld von Strafverfahren) erst in der Vernehmlassung ist und somit durchaus noch beeinflusst werden kann und muss (s. den bereits verlinkten letzten Beitrag).

Ich zitiere aus dem MZ-Artikel:

Gemäss Weigelt ist eine «Verwesentlichung des Staates» erforderlich, und diese lasse sich punkto Staatsschutz auf drei Postulate reduzieren. Staatsschutz darf sich nur auf die Substanz des freiheitlichen Rechtsstaates konzentrieren; Staatsschutz darf sich nur auf Personen und Gruppierungen ausrichten, die den Staat in seiner freiheitlichen Substanz real gefährden; Staatsschutz ist nur gefordert, wenn die Gefährdung beträchtlich ist.

Die Partei stehe der Revision des Gesetzes «sehr kritisch» gegenüber, liess sich SVP-Präsident Ueli Maurer kürzlich im «Tages-Anzeiger» zitieren. Und Generalsekretär Gregor A. Rutz sekundierte, dass er im Spannungsfeld zwischen Sicherheit und Freiheit im Zweifelsfall immer zur Freiheit neige, denn die absolute Sicherheit gebe es nicht.

Die Parteien haben noch bis Mitte Oktober Zeit für ihre Stellungnahmen. Der Trend scheint klar: An einem «Überwachungsstaat» scheint niemand interessiert zu sein, Linke und Grüne schon gar nicht. Es ist also gut möglich, dass Justizminister Blocher ein zweites Mal nachbessern muss, nachdem er schon 2005 einen BWIS-Vorentwurf von Nachrichtendienstchef Urs von Daeniken mit den Worten zurückwies: «Unser Gesetz wird keinen neuen Fichenstaat zulassen.»

Ob dieser Trend wirklich so klar ist, wage ich zu bezweifeln. Gerade die "Bürgerlichen" und insbesondere die (ehemals) Liberalen gefallen sich doch je länger je mehr in der Rolle knallharter Law-&-Order-Politiker. Stimmt nicht? Bis Mitte Oktober ist der Gegenbeweis zu führen.