Dienstag, Januar 31, 2006

Aufhebung des Zeugnisverweigerungsrechts?

Gemass Tagesanzeiger prüft der Kantonsrat des Kantons Zürich die Aufhebung des Zeugnisverweigerungsrechts im Ordnungsbussenverfahren. Der Initiant ist Gerichtsschreiber und Geschäftsleitungsmitglied am Bezirksgericht Zürich, was im Kanton Zürich kein Gewaltentrennungsproblem darstellt (Art. 42 KV). Seine Initiative finden Sie hier.

Das muss man sich mal vorstellen: Wer sich beispielsweise weigert, einen Familienangehörigen in einer Bussensache zu denunzieren, soll bei der angestrebten Änderung gemäss § 134 StPO ZH
nach fruchtloser Warnung vorläufig bis zu 24 Stunden in Verhaft gesetzt
und nach Androhung dem Strafrichter wegen Ungehorsams gegen amtliche Verfügungen überwiesen werden können.

Falsche Anschuldigung ja, aber anders

In einem zur Publikation in der amtlichen Sammlung vorgesehenen Entscheid vom 1. Dezember 2005 (6S.96/2005) korrigiert der Kassationshof die beiden ersten Instanzen, welche den Beschuldigten vom Vorwurf der falschen Anschuldigung (Art. 303 Ziff. 1 Abs. 1 StGB) freigesprochen hatten. Aus Erwägung 5.4 des Entscheids:
Indem der Beschwerdegegner bei der Festnahme fremde Ausweispapiere vorwies und anlässlich einer Einvernahme durch die Polizei eine falsche Identitä tvorgab, hat er eine eigentliche Inszenierung betrieben, welche für die Strafverfolgungsbehörden nicht ohne weiteres durchschaubar war. Damit ist das Merkmal der arglistigen Veranstaltung gemäss Art. 303 Ziff. 1 Abs. 2 StGB erfüllt.
Korrigiert hat der Kassationshof allerdings auch den beschwerdeführenden Oberstaatsanwalt. Dieser hatte lediglich die falsche Anwendung von Art. 303 Ziff. 1 Abs. 1 StGB gerügt. Dazu der Kassationshof:
Wenn die Beschwerdeführerin lediglich Art. 303 Ziff. 1 Abs. 1 StGB als verletzt ansieht, hindert dies den Kassationshof unter dem Gesichtspunkt von Art. 277bis Abs. 1 BStP somit nicht, eine allfällige Verletzung des Tatbestandes im Lichte der wesensgleichen Tatvariante von Abs. 2 derselben Bestimmung zu prüfen (E. 3.2).
Diese Auslegung geht nun allerdings sehr weit. Immerhin hat der Kassationhof ausdrücklich festgestellt, dass die Vorinstanz Art. 303 Ziff. 1 Abs. 1 StGB richtig angewendet hat. Dies und nur dies hat der Oberstaatsanwalt ja beanstandet. Dass er nun dennoch erfolgreich blieb, führt dazu, dass der Fall neu unter dem Aspekt von Abs. 2 zu prüfen sein wird.

Montag, Januar 30, 2006

Jahresbericht 2005 zur Geschäftsprüfung

Der Jahresbericht 2005 der Geschäftsprüfungskommissionen und der Geschäftsprüfungsdelegation ist online abrufbar. Beeindruckend ist vor allem die Zahl der geprüften Bereiche. Dabei stellt sich automatisch die Frage, wie wirksam die Kontrollen durch unser Milizparlament überhaupt sein können. Aus dem Inhaltsverzeichnis über Bereiche, über die hier auch schon berichtet wurde:



Diese Abschnitte sind sehr lesenswert, nur schon um zu erfahren, welche Dienste welche Datenbanken und Listen führen. So gibt es zum Beispiel eine "Swiss List". Dazu aus dem Bericht:
In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass der Sicherheitsausschuss im Oktober 2005 eine Liste seiner Nachrichtenbedürfnisse erstellt hatte. Diese so genannte «Schweizer Liste» (Swiss List) umfasst sämtliche Gesuche um Informationen, die nur unter Zuhilfenahme bestimmter nachrichtendienstlicher Mittel erfüllt bzw. die nicht aus offenen Quellen oder verwaltungsinternen Quellen beschafft werden können. Die «Swiss List» wurde der GPDel im November 2005 vorgelegt. Die Delegation begrüsst diese Initiative, die den ersten Ansatz einer Nachrichtenpolitik darstellt.

Bundesstrafgericht - neue Entscheide

Das Bundesstrafgericht hat eine Reihe neuer Entscheide online gestellt. Aufgefallen sind bei erster Durchsicht die Entscheide BB.2005.99, BB.2005.100 und BA.2005.6, alle vom 16.11.2005. Die Beschwerden richteten sich gegen Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmungen. Die Beschwerdekammer trat darauf aus unterschiedlichen Gründen und in Bestätigung seiner Rechtsprechung zum aktuellen praktischen Rechtsschutzinteresse nicht ein.

Hingegen wurde die Eingabe einer Beschwerdeführerin als Aufsichtsbeschwerde entgegen genommen. Dabei stellte die Beschwerdekammer die Verletzung einer wesentlichen Verfahrenvorschrift fest:

Nach dem Gesagten steht nicht fest, dass die Beschwerdeführerin anlässlich der Durchsuchung vom 18. August 2005 Kenntnis ihres Rechts gemäss Art. 69 Abs. 3 BStP und damit tatsächlich Gelegenheit hatte, dieses ausüben zu können. Bei dieser Sachlage kann die schriftliche Einsprache vom 19. August 2005 nicht als verspätet bezeichnet werden (BA.2005.6, E. 4.3).

Ob die fehlende Rechtsbelehrung oder die zu Unrecht als verspätet qualifizierte Einsprache als Verletzung einer wesentlichen Verfahrensvorschrift gilt, kann dem Entscheid nicht entnommen werden. Nicht zwingend erscheint mir zudem, dass der Entscheid nicht im Beschwerdeverfahren, sondern im Aufsichtsverfahren erging. In diesem Punkt (Einsprache und damit Siegelung der beschlagnahmten Unterlagen) konnte ein aktuelles praktisches Rechtsschutzinteresse doch wohl kaum verneint werden.

Sonntag, Januar 29, 2006

Kampf gegen Hooliganismus - Verfassungsänderung?

Im Kampf gegen den Hoolganismus (wogegen kämpfen wir eigentlich nicht?) hat nun auch die Kommission für Rechtsfragen des Ständerats gemerkt, dass dem Bund die Gesetzgebungskompetenz für die vorgesehenen Massnahmen fehlt. Natürlich sagt sie das nicht, sondern stellt fest, die Verfassungsgrundlage sei schwach und schlägt prompt eine Verfassungsänderung vor. Aus der entsprechenden Medienmitteilung:
Daher schliesst sie sich dem Bundesrat an und hat sich im Gegensatz zum Nationalrat für eine zeitliche Beschränkung der Anwendung der Bestimmungen zum Polizeigewahrsam, zur Meldeauflage und zum Rayonverbot ausgesprochen. Was die Geltungsdauer der Massnahmen betrifft, weicht sie jedoch vom Entwurf des Bundesrates ab und beantragt, die Frist um ein Jahr bis zum 31. Dezember 2009 zu verlängern. Gleichzeitig hat die Kommission eine Motion eingereicht, die den Bundesrat beauftragt, die Anwendung der Massnahmen gegen Gewalt an Sportveranstaltungen auch über diese Frist hinaus sicherzustellen, sei es über eine interkantonale Vereinbarung oder durch eine Verfassungsänderung.
Hier finden Sie Entwurf und Botschaft. Frühere Beiträge finden Sie hier und hier.

Mittwoch, Januar 25, 2006

Zurückgewiesene Haftbeschwerden

Auf staatsrechtliche Beschwerden gegen Haftentscheide tritt das Bundesgericht in der Regel nicht ein, wenn der Beschwerdeführer zwischenzeitlich aus der Haft entlassen wurde.

In BGE 1P.621/2005 vom 10.01.2006 wurde der Beschwerdeführer vor Einreichung der Beschwerde aus der Haft entlassen. Das Bundesgericht trat nicht ein. Die unentgeltliche Rechtspflege wurde verweigert und die Kosten dem Beschwerdeführer auferlegt.

Ebenfalls nicht eingetreten ist das Bundesgericht in BGE 1P.702/2005 vom 22.12.2005. Der Beschwerdeführer, der nach Einreichung der Beschwerde entlassen wurde, erhielt hier aber eine Parteientschädigung und blieb kostenfrei. Aus der Begründung:
Die Beschwerdeerhebung beim Bundesgericht erfolgte am 26. Oktober 2005. Am 30. Oktober 2005 wurde der Beschwerdeführer aus der Haft entlassen, ohne dass ersichtlich wäre, dass sich die rechtserheblichen Verhältnisse in Bezug auf den Haftgrund der Kollusionsgefahr seit dem Entscheid des Obergericht verändert hätten. Bereits daraus ergibt sich, dass der Beschwerdeführer begründeten Anlass zur Erhebung der staatsrechtlichen Beschwerde hatte, und es ist anzunehmen, dass die Beschwerde erfolgreich gewesen wäre (E. 1.2).
Der erfolgreiche Anwalt des Beschwerdeführers machte dennoch einen "Fehler", indem er seinen Zeitaufwand geltend machte und damit dem Gericht ohne Not Anlass zur Anwaltsschelte gab:
Der vom unentgeltlichen Rechtsvertreter in Rechnung gestellte Zeitaufwand erweist sich indessen als übersetzt, die Beschwerdeschrift als weitschweifig und über weite Strecken appellatorisch. Insgesamt erscheint eine Parteientschädigung von (pauschal) Fr. 1'500.-- als tarifkonform und angemessen (E. 3).

Update: Quellenschutz gewährleistet

Am 18. Juli 2005 habe ich den Beschluss der Anklagekammer des Obergerichts des Kantons Zürich in Sachen Voser / Turina / NZZ am Sonntag verlinkt. Eben wurde ich freundlicherweise darauf hingewiesen, dass die II. Zivilkammer desselben Gerichts diesen Entscheid aufgehoben und die NZZ am Sonntag angewiesen, ihre Quellen im Fall Marko Turina offenzulegen. Einen ersten Bericht dazu findet sich in der NZZ. Das Urteil vom 23. Januar 2006 ist online.

Verdeckte Ermittlungen und Überwachungen in Grenchen?

Die Solothurner Zeitung berichtet heute über einen Vorschlag des Sozialamts Grenchen über den geplanten Einsatz von SoWatch. SoWatch? Eine neue Bürgerrechtsorganisattion? Nicht ganz: Die "Klienten" von SoWatch sind Bezüger von Sozialhilfeleistungen, die des Missbrauchs verdächtigt werden. Aus dem Bericht der SZ:
Durch verdeckte Ermittlungen und Überwachungen, ohne direkten Kontakt zum Klienten, würden Daten erhoben, die diesen je nachdem belasten oder auch entlasten. So oder so würde der Klient über das Resultat informiert. Alle Klienten würden zudem gleich beim Antrag auf Hilfeleistungen darüber informiert, dass sie allenfalls überprüft werden könnten.
Alles kein Problem, denn diese verdeckten Ermittlungen und Überwachungen werden durch eine auf derartige Fälle spezialisierte Detektei (A+A Detektivbüro AG) durchgeführt. Zur weiteren Beruhigung versichert SoWatch auf einer geradezu fantastischen Homepage, die keine Frage offen lässt, dass keine Zwangsmassnahmen durch SoWatch möglich seien.

Dienstag, Januar 24, 2006

Kollusionsgefahr bis über die Hauptverhandlung hinaus

Mit Urteil vom 13. Januar 2006 (1P.857/2005) weist das Bundesgericht eine staatsrechtliche Beschwerde gegen einen Hafterstreckungsentscheid ab. Hier wundert mich - im Gegensatz zu früheren Kollusionsfällen (vgl. etwa hier) - nicht das Urteil des Bundesgerichts, sondern die Tatsache, dass die Beschwerde nicht als aussichtslos qualifiziert wurde. Jedenfalls war die Ausgangslage für die Beschwerdeführerin denkbar schlecht, was etwa folgendes Zitat aus dem BGE zeigt:
Zudem ergeben sich aus den abgefangenen Kassibern, welche sich die Eheleute über einen Verteidiger zukommen liessen, konkrete Indizien für Kollusionshandlungen zwischen ihr und diesem A. (E. 5.4).
An folgender Äusserung des Bundesgerichts dürfte sich die Beschwerdeführerin besonders stossen:
Die Kollusionsgefahr dürfte unter den gegebenen Umständen bis zur erstinstanzlichen Gerichtsverhandlung andauern, gegebenenfalls sogar darüber hinaus, sofern der Sachverhalt nach wie vor teilweise streitig sein sollte (E. 5.5).

Update 3: Wir überwachen ...

Die Medienmitteilung der Sicherheitspolitischen Kommission des Nationalrats ist unter der Überschrift "CIA-Affäre" online. Den Informationsbericht von Dick Marty finden Sie hier. Wirklich erhellend ist beides nicht, aber das muss wohl auch so sein.

Sonntag, Januar 22, 2006

Berufsgeheimnis für angestellte Anwälte?

Offenbar rüsten sich die Unternehmen in der Schweiz gegen die Zwangsmassnahmen im neuen Kartellrecht. Jedenfalls hat die Industrievereinigung (wer ist das eigentlich?) gemäss NZZ am Sonntag ein Gutachten in Auftrag gegeben, das zum Schluss kommt, dass auch angestellte Unternehmensjuristen dem Anwaltsgeheimnis unterstehen. Autor des Gutachtens ist Prof. Dr. Marcel A. Niggli. Seine Begründung ist - jedenfalls soweit sie aus dem Zeitungsbericht hervorgeht - für mich nicht verständlich:

Zuerst äussert sich Niggli über die im Vergleich zu Art. 321 StGB enge Fassung des Anwaltsgheimnisses im Anwaltsgesetz (Art. 13 BGFA ). Danach gilt das Anwaltsgeheimnis nur für Personen mit Anwaltspatent, die im Rahmen des Anwaltsmonopols Parteien vor Gericht vertreten (Art. 2 BGFA). Demgegenüber weise die Anwaltstätigkeit überwiegend nichtprozessualen Charakter auf und könne nicht auf auf die prozessuale Vertretung oder die Eintragung in einem Anwaltsregister reduziert werden. Aus prozessrechtlicher Sicht werde das Anwaltsgeheimnis primär als Privileg verstanden, das mit dem öffentlichen Interesse an der Ausübung der Berufe mit Geheimnisschutz begründet werde (ist das wirklich so? ich dachte, es handle sich einfach um das prozessuale Korrelat der Geheimnsipflicht). Dagegen handle es sich bei der Strafnorm (Art. 321 StPO) um eine strafbewehrte Pflicht. Geschützt werde nicht eine bestimmte Berufsgruppe, sondern der Geheimnisherr. Die Strafnorm sei daher ein Antragsdelikt und schütze somit nicht öffentliche Interessen, sondern diejenigen des Geheimnisherrn.

Das ist ja sicher (fast) alles richtig, aber was hat es mit der Unterstellung von Unternehmensjuristen unter das Anwaltsgeheimnis zu tun? OK, ich verstehe einfach das Argument nicht.

Update: Game over

Gemäss SonntagsZeitung (kostenpflichtig) hat IFPI Schweiz letzte Woche vier Strafklagen gegen unbekannte Täterschaft eingereicht. Die Zugangsprovider Sunrise, Cablecom, Bluewin und Tele 2 sollen gerichtlich gezwungen werden, je einen ihrer Kunden über die IP-Adresse zu identifizieren. Anschliessend sollen 200 weitere "Vielnutzer" verfolgt werden, die mit Hausdurchsuchungen, Beschlagnahmungen und mit Bussen bis zu CHF 9,000.00 zu rechnen haben.

Interessant ist übrigens, wie IFPI an die IP-Adressen der Nutzer kommt. Dies beschreibt die Sonntagszeitung im frei zugänglichen Artikel "Tauschbörsen mit eigenen Waffen schlagen". Danach überwacht die Firma Logistep AG Tauschbörsen im Auftrag von IFPI. Logistep wirbt auf ihrer Homepage mit folgenden Dienstleistungen und lehnt sich dabei aber ganz schön weit aus dem Fenster:
Beim Monitoring genant auch (Tracking/Screening), handelt es sich um die systematische Überwachung und Protokollierung der Urheberrechtsverletzungen auf den P2P-Platformen Die P2P Netzwerke sind ein dynamisches Medium, in dem sich Angebote ständig ändern. Ein wichtiger und dauerhafter Bestandteil unserer Arbeit ist daher die kontinuierliche Beobachtung illegaler Aktivitäten im Internet. Dies ist notwendig, um einen möglichst globalen Überblick zu bewahren, neue Entwicklungen frühzeitig zu erkennen und zeitnah Gegenmaßnahmen einleiten zu
können.
Nach wohl herrschender Lehre stellt das blosse Downloaden von Musikdateien in der Schweiz keine Urheberrechtsverletzung dar (Art. 19 URG). IFPI ist anderer Meinung und geht zudem davon aus, dass Downloader in P2P-Netzwerken automatisch Musik anbieten. Dies sei nach Art. 67 URG strafbar (vgl. dazu meine früheren Beiträge hier, hier, hier und hier).

Donnerstag, Januar 19, 2006

Befangene Oberrichter?

Die I. Öffentlichrechtliche Abteilung des Bundesgerichts fällte mit BGE 1P.784/2005 vom 28.12.2005 einen bemerkenswerten Entscheid, an dem erst noch zwei vom Beschwerdeführer abgelehnte Bundesrichter mitwirkten. Aus dem Entscheid (E. 4.2):
In seiner dem Obergericht am 3. Oktober 2005 eingereichten Vernehmlassung legt Oberrichter Maurer substanziell seine Auffassung dar, weshalb er das Ablehnungsbegehren des Beschwerdeführers für unbegründet hält. Eine solche Eingabe, die ohne weiteres geeignet ist, den Ausgang des Verfahrens zu beeinflussen, hätte das Obergericht bereits nach der bundesgerichtlichenRechtsprechung zu Art. 29 Abs. 2 BV, erst recht aber nach der dargestellten, vom Bundesgericht übernommenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes zum Anspruch auf ein faires Verfahren, dem Beschwerdeführer zur Kenntisnahme und Stellungnahme vorlegen müssen. Indem es entschied, ohne dem Beschwerdeführer Gelegenheit zu geben, sich dazu zu äussern, hat es Art. 29 Abs. 2 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK verletzt, die Rüge ist offensichtlich begründet.
Man darf gespannt sein, wie das Verfahren vor dem Obergericht des Kantons Bern weitergeführt wird. Der mit der Ablehnung von Richtern nicht gerade zurückhaltende Beschwerdeführer könnte ja nun durchaus auf die Idee kommen, dass der aufgehobene Entscheid ein starkes Indiz für die geltend gemachte Befangenheit der Berner Oberrichter darstellt. Anders ist kaum zu erklären, dass sie sich über die ihnen zweifellos bekannte Rechtsprechung hinweg gesetzt hatten.

Früher war alles besser

In einer heute veröffentlichten Medienmitteilung stellt sich die Justizkommission des Solothurner Kantonsrats hinter die jüngst kritisierte Staatsanwaltschaft (vgl. dazu meine früheren Beiträge hier, hier, hier, hier, hier und hier). Den schwarzen Peter scheint die Justizkommission nun dem Haftgericht zuzuschieben, indem sie ihrer Sorge darüber Ausdruck verleiht. dass nur sehr gut begründete Haftgesuche bewilligt werden. Aus der Medienmitteilung:

Das neue Haftverfahren stellt hohe Ansprüche, die zu einer erheblichen Belastung der Staatsanwaltschaft führen. Früher konnte ein Untersuchungsrichter eine Haft für drei Wochen anordnen und während dieser Zeit weitere Beweise erheben. Heute hat die Staatsanwaltschaft lediglich 48 Stunden Zeit, um dem Haftrichter ein Ermittlungsergebnis vorzulegen. Ist ein solcher Haftantrag nicht sehr gut begründet, bewilligt der Haftrichter die Haft nicht. Über diese Situation ist die Justizkommission besorgt und sie wird sich diesem Thema noch widmen.
Verstehe ich das jetzt falsch oder sorgt sich die Justizkommission allen Ernstes darüber, dass das Haftgericht seine Arbeit ernst nimmt? Oder hat die Justizkommission übersehen, dass der Kanton Solothurn mit der Einführung der Strafverfolgungsreform nun endlich die internationalen Minimalstandards erfüllt, welche er über 20 Jahre lang verletzt hatte und dafür vom EGMR gerügt wurde (H.B. gegen die Schweiz)? Oder kann man von unseren Staatsanwälten in Haftsachen nicht das verlangen, was mindestens europaweit von Staatsanwälten verlangt wird?

Mittwoch, Januar 18, 2006

EDRI

An dieser Stelle möchte ich einmal auf European Digita Rights EDRI aufmerkam machen. Das Edri-gram kann hier abonniert werden. Es erscheint zwemal monatlich und enthält interessante Beiträge auch mit strafprozessualem Bezug. Das Inhaltsverzeichnis der aktuellen Ausgabe:

  1. European parliament adopts data retention directive
  2. Data Retention Directive: reactions related to the costs involved
  3. French anti-hate groups win case against Yahoo
  4. French Parliament is making the first step in legalising P2P
  5. First decision against P2P user in Italy
  6. France adopts anti-terrorism law
  7. Comparation between US and European anti-terror policies
  8. Evaluation of EU rules on databases
  9. BEUC's Campaign on Consumers' Digital Rights
  10. UK ID card scheme - defeated in the House of Lords
  11. NL Supreme court ends 10 year old Scientology case
  12. Developments and troubles connected to the Freedom of Information Act in Macedonia
  13. WSIS - First Consultations on Establishment of Internet Governance Forum
  14. Agenda
  15. About

Wahrer Rechtssinn c. Wortlaut

Im eben zitierten Entscheid (BGE 6P.121/2005 vom 01.12.2005) musste sich der Kassationshof auch zur Auslegung einer Bestimmung der StPO/SO auseinandersetzen. Dabei stellte er fest, dass § 199 Abs. 1bis StPO SO willkürfrei auch auf die Einziehung nach Art. 197 Ziff. 3 Abs. 2 resp. Ziff. 3bis Abs. 2 StGB anzuwenden sei. Art. 199 Abs. 1bis StPO a.F. lautet wie folgt:
Gegen den Entscheid über die Einziehung von Gegenständen oder Vermögenswerten nach Artikel 58 und 59 StGB können Rekurs erheben: [...].

Aus der Begründung des Kassationshofs:

Bestehen triftige Gründe dafür, dass [der Wortlaut] den wahren Rechtssinn einer Vorschrift - die ratio legis - nicht wiedergibt, ist es nach dem Gesagten zulässig, von ihm abzuweichen und die Vorschrift entsprechend zu deuten, insbesondere wenn der wahre Rechtssinn entgegen dem Wortlaut verfassungskonform erscheint (E. 1.2)

Diese Rüge qualifizierte der Kassationshof übrigens nicht als zum vornherein aussichtslos.

Verschlüsselte Festplatten eingezogen

Als offensichtlich unbegründet qualifizierte der Kassationshof des Bundesgerichts in Fünferbesetzung eine Rüge gegen die Einziehung von passwortgeschützten elektronischen Datenträgern. (BGE 6P.121/2005 vom 01.12.2005).

Die Vorinstanz (Obergericht des Kantons Solothurn) hatte ausgeführt, bei den Festplatten handle es sich um Datenträger, auf welchen verbotenes Material gespeichert sein könne. Der Beschwerdeführer gestehe denn auch zu, die Möglichkeit bestehe, dass solches Material auf den beiden externen Festplatten gespeichert sein könne, indem er vorschlage, die verschlüsselten Inhalte, welche nicht eingesehen werden konnten, und zu welchen er mangels Passwort keinen Zugang mehr habe, von den Festplatten definitiv zu entfernen. Dazu das Bundesgericht:

Es kann ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer das erforderliche Passwort angegeben hätte, wenn sich auf den Festplatten nur unbedenkliches Material befände (E. 2.3).
Hier verstehe ich nun zwei Punkte nicht:
  1. Wieso soll es nicht möglich sein, eine Fesplatte sicher zu löschen und sie dem Eigentümer zurückzugeben?
  2. Wieso darf vermutet werden, dass auf einem Datenträger verbotenes Material gespeichert ist, nur weil der Eigentümer die Passwörter nicht bekannt gibt bzw. geben kann?

Dazu ist zu ergänzen, dass der Beschwerdeführer mögliche Passwörter angegeben hatte und dass Notizzettel mit weiteren Passwörtern gesichert worden waren. Weder der Kassationshof noch die Vorinstanz haben festgestellt, der Beschwerdeführer kenne die richtigen Paswörter.

Montag, Januar 16, 2006

Konkrete Anhaltspunkte für Kollusionsgefahr

In einem Entscheid vom 06.01.2005 (BGE 1P.840/2005) bestätigt das Bundesgericht seine Rechtsprechung zur Kollusionsgefahr:
Für die Annahme von Kollusionsgefahr genügt es bereits, dass - wie hier - konkret befürchtet werden muss, der Beschwerdeführer werde in Freiheit auf Opfer und Zeugen einwirken, um den Ausgang des Verfahrens zu beeinflussen. Ob dieses Unterfangen mehr oder weniger aussichtsreich ist, ist nicht entscheidend, da auch eine Gefährdung der Wahrheitsfindung genügt. Da der Verdacht besteht, der Beschwerdeführer habe die Geschädigte psychisch stark unter Druck gesetzt, scheint es naheliegend, dass er sich auch bei einer allfälligen Freilassung wieder so verhalten wird.
Auch dieser Entscheid (vgl. dazu meinen früheren Beitrag) erweckt den Eindruck, dass der besondere Haftgrund der Kollusionsgefahr jede Untersuchungshaft zu begründen vermag. Hier scheint das Bundesgericht die Kollusionsgefahr zusätzlich mit anderen Haftgründen (Ausführungsgefahr bzw. Wiederholungsgefahr) zu vermischen.

Sonntag, Januar 15, 2006

Update: Fehltritt der Verteidigung?

Am 16. Oktober 2005 berichtete die SonntagsZeitung unter Berufung auf ein Vorstandsmitglied des Schweizerischen Anwaltsverbands SAV über einen angeblichen Fehltritt der Verteidigung. Es ging um ein angeblich verbotene Gespräche der Verteidigung mit Entlastungszeugen.

Ich stellte hier die Frage, ob nicht eher ein Fehltritt der Sonntagszeitung voliege. Diese Sicht bestätigt heute die Verteidigung in einer Gegendarstellung auf der Frontseite der SonntagsZeitung (kostenpflichtig). Die SonntagsZeitung hält an ihrer klar falschen Darstellung fest und schiebt den schwarzen Peter dem Vorstandsmitglied des SAV zu.

Der Kassationshof und das Anklageprinzip

In einem schon etwas älteren Urteil (BGE 6P.170/2004 vom 3. Mai 2005) musste sich der Kassationshof des Bundesgerichts mit einer staatsrechtlichen Beschwerde und einer Nichtigkeitsbeschwerde gegen einen Entscheid des Obergerichts des Kantons Solothurn (STAPA.2002.33) befassen. Dabei ging es zunächst um die Verwertbarkeit der Ergebnisse einer Telefonüberwachung, welche dem Obergericht als massgebliche Beweismittel dienten und gemäss Bundesgericht auch willkürfrei dienen durften.

Ebenfalls erfolglos blieb die Rüge der Verletzung des Anklageprinzips. Die Ausführungen des Kassationshofs zu dieser Rüge erwecken allerdings nicht den Eindruck, sie (oder das Anklageprinzip selbst?) sei ernst genommen worden:
Das Obergericht geht damit davon aus, dass die Schlussverfügung § 97 StPO/SO genügt. Eine willkürliche Auslegung und Anwendung des kantonalen Rechts ist denn auch zu verneinen. Die Schlussverfügung enhält die Bezeichnung der Straftaten und die als anwendbar erachteten Strafbestimmungen. Der Sachverhalt wird in allerdings summarischen Umschreibungen mit Angabe der Beteiligten und der Beweismittel sowie meistens zusätzlich unter Verweisungen auf die Zusammenfassungen in der umfangreichen Strafanzeige vom 17. Juli 2001 umschrieben. Damit genügt die Anklageschrift auch den erwähnten verfassungsrechtlichen Vorgaben (E. 4).
Damit bleibt es bei 10 Jahren Zuchthaus für den Verurteilten. Ach ja, die Gesuche um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wurden abgewiesen, weil die Rechtsbegehren aussichtslos erschienen. Begründung des Kassationshofs: "Art.152 OG".

Freitag, Januar 13, 2006

Besondere Beziehung zwischen Täter und Opfer

Das Bundesgericht hat eine staatsrechtliche Beschwerde gegen ein erfolgloses Haftentlassungsgesuch abgewiesen. Der Beschwerdeführer hatte u.a. das Bestehen von Kollusionsgefahr bestritten. Dazu sagt das Bundesgericht (BGE 1P.818/2005 vom 23. Dezember 2005) folgendes:
Für die Annahme von Kollusionsgefahr genügt es bereits, dass - wie hier - konkret befürchtet werden muss, der Beschwerdeführer werde in Freiheit auf Opfer und Zeugen einwirken, um den Ausgang des Verfahrens zubeeinflussen. Ob dieses Unterfangen mehr oder weniger aussichtsreich ist, ist nicht entscheidend, da auch eine Gefährdung der Wahrheitsfindung genügt. Eine solche ist hier aufgrund der wegen Verdachts auf versuchte sexuelle Handlungen mit Kindern bestehenden besonderen Beziehung zwischen Täter und Opfer zu bejahen, auch wenn es sich bei den Geschädigten nicht um Kleinkinderhandelt, sondern um Mädchen im Teenageralter. Hinzu kommen dasAussageverhalten des Beschwerdeführers und dessen Kenntnis zweier Adressender Geschädigten, weshalb der Haftrichter von Kollusionsgefahr ausgehendurfte (E. 3.3).
Fazit: Eine besondere Beziehung zwischen Täter und Opfer besteht ja wohl immer, und damit wohl auch Kollusionsgefahr.

Mittwoch, Januar 11, 2006

Privatkontrolle

Mit einer Gerichtsgebühr von CHF 3,000.00 quittiert das Bundesgericht die staatsrechtliche Beschwerde eines Automobilisten, der wegen Behinderung eines Motorradfahrers bei dessen Überholmanöver zu einer Busse von CHF 150.00 verurteilt worden war. Beim behinderten Motorradfahren handelte es sich um einen Polizisten ausser Dienst, der den Fall dann auch gleich selbst übernommen hat. Aus der Sachverhaltsdarstellung im Entscheid vom 19. Dezember 2005 (1P.718/2005):
An der nächsten Signalanlage, die auf rot stand, gab sich der Motorradfahrer als Polizeibeamter zu erkennen und forderte denLenker des Personenwagens zum Anhalten auf. Dieser leistete der Anweisung Folge; im Rahmen der Kontrolle setzte der Motorradfahrer den Autolenker darüber in Kenntnis, dass er ihn wegen Behinderung eines Überholmanövers(Art. 35 Abs. 7 Satz 2 SVG) anzeigen werde.
Trotz der ungewöhnlich hohen Gerichtsgebühr, die wie üblich nur mit dem Hinweis auf Art. 156 Abs. 1 OG begründet ist, hat der Beschwerdeführer durchaus interessante (vielleicht aber nicht die richtigen) Fragen angesprochen, die den Entscheid als lesenswert erscheinen lassen.

Domestic Spying Programm illegal

Zur rechtlichen Beurteilung der U.S.-Abhöraffäre legt CDT lesenswerte und sehr kritische Analysen vor.

Update 2: Wir überwachen ...

"Hand in Hand mit dem Oberauditor" ermittelt nun auch die Bundesanwaltschaft. In ihrem Visier sind gemäss NZZ die für die veröffentlichung des Fax verantwortlichen Redaktoren des SonntagsBlick, denen eine Verletzung von Art. 293 StGB, eine Übertretung, vorgeworfen wird. Das unbekannte Leck wird wegen Verdachts der Amtsgeheimnisverletzung (Art. 320 StGB) verfolgt.

Und damit auch alles schön breit abgedeckt (und der Misserfolg garantiert ist), wird wegen Verdachts der verbotenen Handlungen für einen fremden Staat (Art. 271 StGB) gegen unbekannte Täterschaft ermittelt. Hier soll es um die angeblichen CIA-Flüge mit Gefangenen über die Schweiz gehen.

Dienstag, Januar 10, 2006

Anonyme Zeugenaussagen c. Konfrontationsrecht

Gemäss einem Bericht der NZZ hat das Kassationsgericht des Kantons Zürich ein Urteil des Geschworenengerichts aufgehoben. Dieses hatte einen Beschuldigten wegen vorsätzlicher Tötung zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt. Dabei stützte es sich im Wesentlichen auf die Aussagen eines geschützten Zeugen (vgl. dazu § 131a StPO), der die Tat aus einem Gebüsch beobachtet haben will. Die Zeugenbefragung mussten der Beschuldigte und sein Verteidiger aus einem Nebenraum verfolgen, in den die Aussagen übertragen wurden. Viele Ergänzungsfragen der Verteidigung wurden nicht zugelassen. Das Kassationsgericht stellte zwei Verletzungen der EMRK fest:

  1. Verletzung der Verteidigungsrechte, weil weder der Beschuldige noch der Verteidiger den Belastungszeugen zu Gesicht bekommen haben und ihn in gebührendem Rahmen Ergänzungsfragen haben stellen können.
  2. Das wichtigste Beweismittel ist unter Einschränkung der Verteidigungsrechte zustande gekommen. Als massgebliches Element der Beweiswürdigung sei eine unter Zeugenschutz vorgenommene Befragung nicht tauglich.

Als mögliche Lösung schlägt das Kassationgericht vor, wenigstens den Anwalt bei der Befragung teilnehmen zu lassen. Damit stellt sich einmal mehr die Frage, was der Anwalt seinem Klienten mitteilen darf oder muss.

Update: Den Entscheid hat Labeo bereits gefunden und kommentiert.

Montag, Januar 09, 2006

Update 1: Wir überwachen ...

Unterdessen hat das Oberauditorat Strafverfahren gegen den Chefredaktor des SonntagsBlicks, gegen zwei SonntagsBlick-Journalisten und gegen Unbekannt (das Leck im Nachrichtendienst) eingeleitet. Ermittelt wird wohl wegen Verdachts der Verletzung militärischer Geheimnisse (Art. 106 MStG), was wohl ins Leere laufen wird (Gefährdung der Auftragserfüllung wesentlicher Teile der Armee?). Eine passendere Strafnorm habe ich jedenfalls nicht gefunden, obwohl Art. 93 MStG durchaus auch seinen Reiz hätte.

Der SonntagsBlick hat übrigens bereits reagiert. Aus seiner Stellungnahme von heute abend:
Wenn die Schweiz etwas Illegales getan hat und dieses Illegale dann unter Geheimhaltung stellt, bleibt die Frage vorerst offen, wer hier der Täter ist.
Erst kürzlich hat sich die Welt - allen voran die von den eigenen Diensten ausgehorchten Amerikaner selbst - über das "Domestic Spy Programm" empört (s. meinen früheren Beitrag). Mich hat schon da viel mehr interessiert, was unsere CH-Dienste alles machen und hoffe, dass der SonntagsBlick nun wenigstens diese Diskussion neu lanciert. Die Weltwoche hat es ja auch schon mit mässigem Erfolg versucht (Ausgabe 10/05, Was sagen Sie jetzt?).

Rechtsstaatlich sehr unangenehm

Unter diesem Titel publiziert das Solothurner Tagblatt ein (wenig erhellendes) Interview mit Prof. Marcel A. Niggli über die Vereinheitlichung des Strafprozessrechts in der Schweiz. Niggli geht davon aus, dass beim vorgesehenen Staatsanwaltsmodell die Polizei der Staatsanwaltschaft unterstellt wird, verkennt aber m.E., dass dies weder vorgesehen noch politisch durchsetzbar wäre.

Weder Niggli noch der Interviewer scheinen bemerkt zu haben, dass im Kanton Solothurn (das Interview erschien wie gesagt u.a. im Solothurner Tagblatt) das für die ganze Schweiz vorgesehene Modell bereits eingeführt ist. Hier kann man in der Praxis analysieren und beurteilen, was rechtsstaatlich wie "unangenehm" ist. "Unangenehm" ist in erster Linie, dass die Polizei eben nicht der Staatsanwaltschaft unterstellt ist und ihre Rolle im neuen Modell nicht findet und aus Angst vor Kompetenzverlusten auch nicht finden will. Das ist dann nicht mehr "unangenehm", sondern gesetzeswidrig. Aber was soll's. Konsequenzen hat's eh keine, also weiter so!

Hudson v. Michigan

Beweise, welche in Verletzung des 4. Verfassungszusatzes (vgl. fourthamendment.com) erhoben wurden, sind grundsätzlich nicht verwertbar. Heute wird am U.S. Supreme Court die Frage verhandelt, ob das Verwertungsverbot auch dann greift, wenn die Beweise ohnehin gefunden worden wären?

Im zu beurteilenden Sachverhalt hatte die Polizei zwar einen Durchsuchungsbefehl. Sie hat aber beim Vollzug die "knock and announce"-Regel verletzt, wonach sie zuerst anklopfen und sich "anmelden" muss und erst in eine Wohnung eindringen darf, nachdem 20 bis 30 Sekunden vergangen sind. In Verletzung dieser Regel stürmte die Polizei die Wohnung und fand eine Waffe und Kokain. Hudson wurde erstinstanzlich freigesprochen. Diesen Freispruch hat der
Michigan Court of Appeals kassiert.

Die Rechtsschriften finden Sie hier.

Sonntag, Januar 08, 2006

Wir überwachen auch ägyptische Telekommunikation

Anfangs November 2005 berichtete die Washington Post über ein angebliches Netzwerk von Geheimgefängnissen der CIA. Heute kommt der SonntagsBlick mit "ersten Beweisen", indem er ein vom militärischen Geheimdienst abgefangenes Fax des ägyptischen Aussenministers an seine Botschaft in London zitiert, das konkrete Orte in Osteuropa nennt. Das VBS reagiert auf seiner Homepage, kündigt eine Administrativuntersuchung an und "behält sich weitere rechtliche Schritte vor".

Der Chefredaktor erklärt denn auch bereits im Voraus, wieso das Dokument veröffentlicht wurde:
Als wir von der Existenz des Dokuments Kenntnis erhielten, wusste ich sofort: Wenn andere Länder mitbekommen, dass die Schweiz in ihrer Post schnüffelt, gibt das Probleme. Die Ägypter werden reklamieren und protestieren. Die Amerikaner werden toben und zürnen. Die im Ägypter-Fax erwähnten Länder werden uns nicht um den Hals fallen; die befreundeten Nachrichtendienste ihre Kanäle Richtung Schweiz dichtmachen. [...] Wir tun dies, weil wir uns der Wahrheit verpflichtet fühlen. Und auch der Öffentlichkeit, unserem Publikum, das wir lückenlos informieren wollen. Und wir stellen in unserer Arbeit die Freiheitsrechte der Menschen und die Menschenwürde jedes Einzelnen über die Interessen eines einzelnen Staates.
Das Echo ist beträchtlich (vgl. etwa ARD-Nachrichten, NZZ, Tagesanzeiger). Der Präsident der GPDel, der von der Presse informiert wurde, spricht von einer Topleistung unseres Nachrichtendienstes. Bei der Überwachung waren unsere Dienste doch immer Spitze. Dafür hapert es ab und zu bei der Geheimhaltung (und in diesem Fall wahrscheinlich auch mit der nüchternen Beurteilung des abgefangenen Dokuments).

Donnerstag, Januar 05, 2006

Praxisänderung im Urkundenstrafrecht

Mit einem zur Publikation in der amtlichen Sammlung vorgesehenen Urteil vom 30.11.2005 (BGE 6S.141/2005) hat das Bundesgericht seine Rechtsprechung zu inhaltlich unrichtigen Vollständigkeitserklärungen (vgl. Art. 728 Abs. 2 OR, BGE 105 IV 189 E.2d, S. 193 f.) geändert und an die seit BGE 117 IV 35 angewendete Praxis zur Falschbeurkundung (Art. 251 StGB) angepasst:
Demgegenüber erschöpft sich die Vollständigkeitserklärung in einer von derzuständigen Instanz gegenüber der Revisionsstelle abgegebenen Behauptung, der im Falle der Unwahrheit lediglich der Charakter einer schriftlichen Lüge zukommt. Die Vollständigkeitserklärung erlangt daher gegenüber der Buchführung selbst keine eigenständige Bedeutung. Sind sowohl die kaufmännische Buchführung wie die Vollständigkeitserklärung inhaltlich unrichtig, erfolgt somit lediglich ein Schuldspruch wegen Falschbeurkundung in Bezug auf die Buchführung. Dass der Beschwerdeführer zwei unrichtige Vollständigkeitserklärungen abgegeben hat, erfüllt für sich allein somit den Tatbestand der Falschbeurkundung nicht (E. 9.3.3).

Mittwoch, Januar 04, 2006

Albanische Flüchtlinge werden nicht nach Albanien ausgeliefert

Mit Urteil vom 14.12.2005 (BGE 1A.267/2005) hat das Bundesgericht die Auslieferung zweier Albaner nach Albanien abgelehnt. Das Bundesamt für Justiz hatte die Auslieferung der beiden beiden in Verkennung der Tragweite von Art. 55 Abs. 2 IRSG bewilligt, obwohl ihnen ein Jahr vor der Bewilligung Asyl in der Schweiz gewährt worden war und obwohl nach Art. 3 Ziff. 2 EAUe Flüchtlinge von derAuslieferungsverpflichtung auszunehmen sind, soweit die Auslieferung von dem Staat verlangt wird, in dem eine Gefährdung droht.