Mittwoch, Mai 31, 2006

Praxisänderung zu Art. 260bis Abs. 2 StGB

In einem zur Publikation in der amtlichen Sammlung vorgesehenen Entscheid (BGE 6S.496/2005 vom 12.05.2006) schliesst sich das Bundesgericht der herrschenden Lehre zu Art. 260bis Abs. 2 StGB an. Dieser lautet wie folgt:
Führt der Täter aus eigenem Antrieb die Vorbereitungshandlung nicht zu Ende, so bleibt er straflos.
Die bisherige Rechtsprechung wollte bei der Straflosigkeit nach Art. 260bis Abs. 2 StGB danach unterscheiden, ob der Täter bereits alle von ihm geplanten Vorbereitungshandlungen ausgeführt habe oder nicht und verlangte im ersten Fall tätige Reue (BGE 115 IV 125 ff.. und 118 IV 369 f.).

Neu stellt das Bundesgericht entsprechend der Lehre folgendes fest:
Avec la doctrine, il faut admettre que l'art. 260bis al. 2 CP sera applicable au délinquant qui aura renoncé spontanément à son projet délictueux, quel que soit le stade des préparatifs, mais avant le commencement de l'exécution de l'infraction préparée. La phase préparatoire ne sera ainsi terminée qu'au moment du commencement de la tentative. Il s'ensuit que, si le délinquant renonce alors que les actes préparatoires ne sont pas terminés, il faudra appliquer l'art. 260bis al. 2 CP (exemption obligatoire). S'il abandonne son projet après avoir franchi le pas décisif, c'est l'art. 21 al. 2 CP qui sera applicable (exemption facultative). Le but de la punissabilité des actes préparatoires ne devient pas pour autant illusoire, car les autres conditions du désistement, notamment celle d'agir de son propre mouvement, doivent être encore réalisées (E. 2.3).

Strafbare Teilnahme an Schenkkreisen

In Weiterführung seiner neueren Rechtsprechung zu den Schenkkreisen (vgl. dazu meinen früheren Beitrag) hat das Bundesgericht in einem heute online gestellten Entscheid (BGE 6P.33/2006 vom 15.05.2006) die Frage behandelt, was als Durchführungshandlung im Sinne von Art. 4 LG zu qualifizieren sei. Die Betroffene hatte wohl nicht aktiv Teilnehmer angeworben, solche aber vermittelt:
Die Vorinstanz stellt damit fest, dass die Beschwerdeführerin den "Schenkkreis" potenziellen Interessentinnen bekannt gemacht und diesen den Beitritt durch Leistung eines Einsatzes empfohlen bzw. vermittelt hat. Das sind dem Lotteriezweck dienende Durchführungshandlungen im Sinne von Art. 4 LG, die den Tatbestand von Art. 38 Abs. 1 LG erfüllen (E. 5.3).
Damit bleibt es bei der strengen Rechtsprechung, dass wohl alles als Durchführungshandlung gilt, was über die blosse Einzahlung eines Betrags hinausgeht.

Vom Bundesrat beantwortete Vorstösse

Folgende Vorstösse, die hier auch schon zu Beiträgen geführt haben, sind vom Bundesrat behandelt worden:

05.3805 n Mo. Banga. Gesetzliche Grundlage für den Drohneneinsatz im Dienste des GWK

05.3881 n Mo. Lang. Einsatz von Drohnen für zivile Zwecke

06.3023 n Ip. Fraktion V. Aktuelle Entwicklung der Bedrohungslage

06.3096 n Ip. Darbellay. Zunahme der jugendlichen Delinquenz

06.3170 s Mo. Schweiger. Bekämpfung der Cyberkriminalität zum Schutz der Kinder auf den elektronischen Netzwerken

06.1041 n A Hess Bernhard. Kriminelles Antifa-Milieu

Dienstag, Mai 30, 2006

Bericht innere Sicherheit der Schweiz 2005

Der neue Bericht des DAP ist online. Die dazugehörige Pressemittelung findet sich hier.

Der Bericht ist interessant, was die Darstellung der Fakten anbelangt. Wer aber ab und zu eine Zeitung liest, erfährt absolut nichts Neues. Geradezu lächerlich sind die Beurteilungen und die Darstellungen der möglichen Entwicklungen. Dazu ein Zitat aus dem Bereich 5.3 (Kriminelle Gruppen aus der GUS):
Kriminelle Kreise aus der GUS verfügen in der Schweiz über ein wohl organisiertes Netzwerk: Es ist wahrscheinlich, dass Schweizer Anwälte und Treuhänder an den illegalen Geschäften beteiligt sind. Es bestehen auch Kontakte zu Schweizer Wirtschaftsvertretern und Amtspersonen, wie auch zu russischen Nachrichtendiensten (Hervorhebungen durch mich).
Ich hoffe, damit nicht gegen das Urheberrecht zu verstossen. Der Copyright-Vermerk am Ende des Berichts lautet wie folgt:
COPYRIGHT
Bundesamt für Polizei 2006.
Auszugsweiser Nachdruck der Texte mit
Quellenangabe gestattet.

Editionsverfügungen sind keine Zwangsmassnahmen

An dieser Rechtsprechung hält das Bundesgericht auch nach einem heute online gestellten Entscheid fest (BGE 1S.4/2006 vom 16.05.2006). Selbst wenn die Verfügung unter Strafandrohung steht, soll keine Zwangsmassnahme vorliegen:
Die Strafverfolgungsbehörde könnte in einem Fall wie hier sofort eine Zwangsmassnahme anordnen und die Räume der Bank durchsuchen und die beweiserheblichen Unterlagen beschlagnahmen lassen. Dies wäre jedoch unverhältnismässig. Deshalb wird der Bank zunächst Gelegenheit gegeben, die Unterlagen von sich aus herauszugeben. Solange die Strafverfolgungsbehörde keinen unmittelbaren Zwang ausübt, hat es die Bank in der Hand, ob sie die Unterlagen herausgeben will oder nicht. Dies gilt selbst dann, wenn die Editionsverfügung - wie das bei jenen an die Banken B. und C. der Fall war - den Hinweis auf Art. 292 StGB enthält, der den Ungehorsamgegen eine amtliche Verfügung mit Busse oder Haft bedroht. Erst wenn die Bankdie Herausgabe ablehnt, wird die Strafverfolgungsbehörde die zwangsweise Beschaffung der Unterlagen in Erwägung ziehen.
Das Bundesgericht verweist zudem zur Begründung seiner Rechtsprechung auf den Entwurf der eidg. StPO und die Botschaft dazu.

Wirklich überzeugend ist das jedenfalls dann nicht, wenn die Editionsverweigerung unter Strafandrohung steht.

Keine Kosten zu Lasten der Erben

Ein zur Publikation in der amtlichen Sammlung vorgesehener Entscheid des Bundesgerichts (BGE 1P.139/2006 vom 15.05.2006) hebt einen Kostenentscheid des Obergerichts des Kantons Bern auf. Dieses hatte ohne gesetzliche Grundlage die Kosten eines Strafverfahrens praxisgemäss den Erben des Beschuldigten auferelegt, der sich - des Mordes an seiner Ehefrau und seinen beiden Kindern angeklagt - in der Strafanstalt erhängt hatte. Diesen Entscheid mag ich nicht kommentieren.

Montag, Mai 29, 2006

Berufung nach § 414 StPO/ZH

In einem heute online gestellten Entscheid (BGE 1P.850/2005 vom 08.05.2006) hat das Bundesgericht eine heiss umstrittene Frage des Strafverfahrensrechts im Kanton Zürich geklärt. § 414 StPO/ZH lautet:
1 Die Berufung ist binnen zehn Tagen ab Eröffnung des Dispositivs beim Gericht erster Instanz anzumelden.
2 Sie kann schriftlich oder bei Eröffnung des Entscheides mündlich zu Protokoll erklärt werden.
3 Will der Berufungskläger die Berufung einschränken, so muss er angeben, welche Teile des Entscheids er anfechten will.
4 Der Berufungskläger hat binnen 20 Tagen nach Zustellung des begründeten Entscheids schriftlich seine Beanstandungen zu benennen.
Die Rechtsmittelbelehrungen dazu lauten wie folgt:
Gegen dieses Urteil kann innert 10 Tagen ab Zustellung des Urteilsdispositivs beim Bezirksgericht Uster schriftlich Berufung angemeldet werden. Die Berufung kann auf einzelne Urteilspunkte beschränkt werden. Der Berufungskläger hat nach Zustellung des begründeten Entscheids innert 20 Tagen dem Bezirksgericht Uster schriftlich seine Beanstandungen mitzuteilen.
Strittig war die Praxis des Obergerichts, auf unbegründete Berufungen (Fehlen von Beanstandungen im Sinne von Abs. 4 der zitierten Norm) nicht einzutreten. Solange die Rechtsmittelbelehrungen nicht geändert werden, erweist sich diese Praxis nun als Verstoss gegen Treu und Glauben und damit als verfassungswidrig. In Erwägung 6.4 kommt das Bundesgericht zu folgendem Schluss:
Um so mehr müssen die Urteilsempfänger in der Rechtsmittelbelehrung über das Gültigkeitserfordernis hinreichend aufgeklärt werden. Dies ist im vorliegenden Fall nicht erfolgt. Folglich verstösst es gegen den verfassungsmässigen Grundsatz von Treu und Glauben, wenn das Obergericht ohne weiteres auf die unbegründete Berufung der Beschwerdeführerin nicht eingetreten ist. Das Obergericht war vielmehr verpflichtet, der Beschwerdeführerin, unter Androhung dieser Säumnisfolge, Nachfrist zur Benennung der Beanstandungen anzusetzen. Dabei hatte es knapp zu erläutern, was unter einer gültigen Beanstandung zu verstehen ist. Den entsprechenden Anforderungen müssen die Rechtsmittelbelehrungen in den Entscheiden der Zürcher Gerichte, die der Berufung unterliegen, künftig Rechnung tragen.

Samstag, Mai 27, 2006

Anspruch auf Verfahrensvereinigung oder doch nicht?

Das Bundesstrafgericht heisst Beschwerden von Oskar Holenweger (Tempus Privatbank AG) und der Bundesanwaltschaft gegen eine Verfügung des Eidgenössischen Untersuchunungsrichteramts gut, mit der die Abtrennung eines Sachverhaltskomplexes vom übrigen Strafverfahren erfolgen sollte (BB.2006.9 vom 24.05.2006). Da es bei der angefochtenen Verfügung nicht um Zwangsmassnahmen ging, war die Kognistion des Bundesstrafgerichts auf Rechtsverletzungen beschränkt.

Das Untersuchungsrichteramt begründete die angefochtene Trennungsverfügung gemäss E. 3.2 des Entscheids wie folgt:
Vorliegend begründet die Vorinstanz ihre Verfügung damit, dass der „Sachverhalt, soweit den VE 18 und damit einhergehende Vorgänge betreffend, ausreichend abgeklärt und mithin der Zweck der Voruntersuchung insoweit erreicht ist, dass gestützt auf Art. 119 Abs. 1 BStP den Parteien Frist anzusetzen ist, in der sie Ergänzungsanträge stellen können“. Konsequenz dieser Betrachtungsweise sei, so die Vorinstanz weiter, das Verfahren insoweit vom übrigen Sachverhalt, der noch einer vertieften Abklärung bedürfe, abzutrennen und separat weiterzuführen. Diese Vorgehensweise sei zwar in der Bundesstrafprozessordnung nicht explizit vorgesehen, indessen auch nicht ausgeschlossen und sach- und folgerichtig, weil es nicht angehen könne und dem Gebot der Verfahrensökonomie zuwiderliefe, diejenigen Teile einer komplexen Strafuntersuchung, welche schlussberichtsreif und insoweit liquide seien, während allenfalls längerer Zeit bis zum Abschluss der übrigen Teile der Strafuntersuchung liegen zu lassen.
Diese Argumente musste das Bundesstrafgericht als offensichtlich falsch zurückweisen und tat es auch. Es stellte fest, dass ein solches Vorgehen dem Gebot der prozessualen Zweckmässigkeit widerspreche, zumal das Untersuchungsrichteramt gemäss seiner Vernehmlassung selbst nicht davon ausgehe
dass die Beschwerdeführerin nach Erstattung des Schlussberichts betreffend den Teil VE 18 „Anklage erhebt mit der Konsequenz, dass insoweit ein Urteil ergehen wird und erst zu einem späteren Zeitpunkt, der offen ist, für die übrigen Teile des abgetrennten Strafverfahrens gegebenenfalls eine weitere Anklage erheben wird“ (E. 3.2).
Was aus dem Urteil des Bundesstrafgerichts nicht klar hervorgeht ist, welchen Rechtssatz das Untersuchungsrichteramt denn eigentlich verletzt hat. Mit Hinweisen auf Lehre und Rechtsprechung stellt das Bundesstrafgericht ausdrücklich fest, dass aus Art. 68 Ziff. 1 StGB kein Anspruch auf Vereinigung mehrerer Strafverfahren abgeleitet werden könne. Etwas überraschend kommt es dann aber zu folgendem Schluss:
Im Grundsatz wird damit jedoch, wenn auch nicht ausdrücklich, ein prozessuales Vereinigungsprinzip statuiert, als dessen Erscheinungsformen die Rechtsprechung namentlich die in Art. 350 StGB umschriebenen Gerichtsstände betrachtet (vgl. hierzu sowie den nachstehenden Ausführungen BGE 127 IV 135, 138 E. 2e). Dieses Prinzip beruht einerseits auf dem Gebot der prozessualen Zweckmässigkeit, zu der unter anderem die einheitliche Beweisführung und Verteidigung zu zählen sind; andererseits soll es eine einheitliche Anwendung der materiell-rechtlichen Strafzumessungsgrundsätze ermöglichen und erlauben, dass insbesondere die in Art. 68 Ziff. 1 StGB vorgesehene Gesamtstrafe ausgesprochen werden kann (vgl. auch Art. 350 Ziff. 2 StGB). (E. 3.1)
Der Entscheid ist m.E. dann richtig, wenn aus Art. 68 StGB ein prozessualer Anspruch auf Gesamtbeurteilung oder Verfahrensvereinigung abgeleitet werden kann, was das Bundesstrafgericht aber gerade nicht zu tun scheint. Es vereneint einen Anspruch auf Vereinigung und stellt im nächsten Satz ein "prozessuales Vereinigungsprinzip" auf; und das in einem Fall, in dem es gar nicht um Vereinigung, sondern um Abtrennung geht, was von der tatsächlichen Ausgangslage her etwas völlig unterschiedliches ist. Das Bundesstrafgericht hätte doch einfach feststellen können, dass für die Abtrennung keine gesetzliche Grundlage besteht, was das Untersuchungsrichteramt ja ausdrücklich zugesteht, womit das (verwaltungsrechtliche) Legalitätsprinzip verletzt ist. Eine Abtrennung ohne gesetzliche Grundlage kommt auch deshalb nicht in Frage, weil sie die Verteidigungsrechte massiv beeinträchtigt.

Das Bundesgericht hat sich zum strafprozessualen Vereinigungsprinzip im oben zitierten Entscheid wie folgt geäussert:
Die in Art. 349 und 350 StGB umschriebenen Gerichtsstände sind Erscheinungsformen eines vom Gesetz zwar nicht ausdrücklich aufgestellten, aber doch vorausgesetzten prozessualen Vereinigungsprinzips, das einer-seits auf dem Gebot der prozessualen Zweckmässigkeit beruht (einheitliche Beweisführung und Verteidigung etc.) und andererseits eine einheitliche Anwendung der materiellrechtlichen Strafzumessungsgrundsätze ermöglichen und erlauben soll, dass insbesondere die in Art. 68 Ziff. 1 StGB vorgesehene Gesamtstrafe ausgesprochen wer-den kann (vgl. Art. 350 Ziff. 2 StGB). Der Gerichtsstand ist daher grundsätzlich so zu bestimmen, dass dieses Ziel erreicht werden kann. Das Vereinigungsprinzip findet nur dort eine Einschränkung, wo seine Beachtung nicht mehr die bezweckte Erleichterung, sondern eine Erschwerung des Verfahrens bewirkt und prozessual unzweckmässig ist (E. 2e).

Sinkende Fallzahlen auch bei der Jugendgewalt

Entgegen der in letzter Zeit immer wieder veröffentlichten Meinung kann die Zunahme der Jugendgewalt nicht belegt werden. In einem Beitrag des Solothurner Tagblatts wird die für den Kanton Solothurn zumindest dargelegt, dass die Fallzahlen insgesamt markant zurückgehen.

Die im Beitrag präsentierte Statistik ist selbstverständlich kein Beweis für einen Rückgang der Jugendgewalt, zumal natürlich nicht jeder Fall zu einem Verfahren führt. Mein Eindruck ist allerdings, dass die Toleranzgrenze wohl nicht zuletzt als Folge der polemisierenden Medienberichterstattung sinkt und dass es daher heute eher zu einer Strafanzeige kommt als noch vor ein paar Jahren. Der Chef der Kripo Solothurn wird wie folgt zitiert:
Sind Kinder und Jugendliche in Delikte verwickelt, wird zu Boden ermittelt.
Diesen Eindruck erhält man auch in der praktischen Tätigkeit als Strafverteidiger. Wenn dieser Eindruck aber auch objektiv richtig ist, dann dürfen wir einen wirklich eindrücklichen Rückgang der Jugendkriminalität feststellen.

Freitag, Mai 26, 2006

6 Delikte in 3 Tagen - keine Gewerbsmässigkeit

Mit BGE 6S.89/2005 vom 11.05.2006 kassiert das Bundesgericht auch einen Zürcher Entscheid. Aus den Erwägungen:
Der Beschwerdeführer hat innerhalb von drei Tagen fünf Betrugsversuche und einen vollendeten Betrug begangen, wobei er eine goldene Halskette im Wert von ca. Fr. 800.-- und ein goldenes Armband erlangte, welche er in der Folge auf der Strasse für Fr. 300.-- bis 400.-- verkaufte. Wie der Beschwerdeführer zu Recht einwendet, genügt dies für die Annahme der qualifizierten Tatbegehung im Sinne von Art. 146 Abs. 2 StGB nicht. Gewerbsmässigkeit ist nur gegeben, wenn der Täter die Tat bereits mehrfach begangen hat (...). Bloss versuchte Taten erfüllen diese Voraussetzung nicht. Dass der Versuch im vollendeten gewerbsmässigen (Kollektiv-) Delikt aufgeht, wenn der Täter mehrere vollendete und versuchte gleichartige Delikte begeht (...), steht dem nicht entgegen (E. 3.3).

Unverwertbare und nicht protokollierte Aussagen

Das Bundesgericht hebt ein Urtiel des Obergerichts des Kantons Aargaus (versuchter Mord, 7.5 Jahre Zuchthaus) auf, weil die Beschwerdeführerin nicht auf ihr Aussageverweigerungsrecht aufmerksam gemacht worden war (BGE 1P.399/2005 vom 08.05.2006):
Massgebend für den Schuldspruch waren die Einvernahmen der Beschwerdeführerin als Beschuldigte in der Zeitspanne vom 24. August bis und mit 12. September 2001. Während dieser Zeit befand sich die Beschwerdeführerin in Haft und war durch keinen Rechtsbeistand vertreten; ein solcher war zwar am 5. September 2001 ernannt worden, nahm aber erst an der Konfrontationseinvernahme vom 9. Oktober 2001 teil. Die Beschwerdeführerin kann sich daher auf Art. 31 Abs. 2 BV und die daraus abgeleitete Pflicht der Behörden zum Hinweis auf das Aussageverweigerungsrecht berufen. Den Protokollen ist kein entsprechender Vermerk zu entnehmen, obwohl die Beschwerdeführerin auf Art. 303 StGB hingewiesen worden ist. Seitens der Behörden wird nicht geltend gemacht, dass die Beschwerdeführerin auf ihr Schweigerecht aufmerksam gemacht worden wäre (wie dies heute § 62 Abs. 1 lit. b StPO in der Fassung vom 2. Juli 2002 vorschreibt). Schliesslich sind keine Indizien ersichtlich, dass sich die Beschwerdeführerin über ihr Schweigerecht im Klaren gewesen wäre. Indem die Beschwerdeführerin bei den angeführten entscheidwesentlichen Einvernahmen nicht auf ihr Aussageverweigerungsrecht hingewiesen wurde, ist Art. 31 Abs. 2 BV verletzt worden (E. 2.2).
Nicht beurteilt hat das Bundesgericht leider die Rüge, dass den förmlich protokollierten Einvernahmen mehrere stundenlange Vorgespräche vorangegangen sind, welche lediglich erwähnt, indes nicht protokolliert worden sind (Verletzung von Art. 29 Abs. 2 und Art. 32 Abs. 2 BV und Art. 6 Ziff.1 EMRK:
Vor diesem Hintergrund erscheinen die ausgedehnten und nicht protokollierten Vorgespräche als problematisch. Wie es sich damit im Einzelnen verhält, kann angesichts der Begründetheit der Beschwerde hinsichtlich der Befragungen in der Zeitspanne vom 24. August bis und mit 12. September 2001 (oben E. 2.2) offen bleiben (E. 3.2).
Zumindest erstaunlich sind die vom Bundesgericht zitierten Äusserungen des Obergerichts in dessen Vernehmlassung:
Das Obergericht führt in der Vernehmlassung aus, dass solche Vorgespräche unumgänglich seien und dass im vorliegenden Fall keine Indizien auf eine unkorrekte Durchführung bzw. auf eine unzulässige Einflussnahme auf die förmlichen Befragungen hinweisen würden.
Beurteilt hat das Bundesgericht dann aber wieder die Frage der Verwertbarkeit der ohne Rechtsbelehrung gemachten Aussagen:
Das Bundesgericht hat allerdings entschieden, dass Aussagen, die in Unkenntnis des Schweigerechts gemacht worden sind, wegen des formellen Charakters der behördlichen Aufklärungspflicht grundsätzlich unverwertbar sind (BGE 130 I 126 E. 3.3 S. 132). Gründe, die eine Ausnahme vom Verwertungsverbot zulassen würden, sind im vorliegenden Fall nicht ersichtlich. Das führt zur Unverwertbarkeit der Einvernahmen vom 24. August, 26. August, 31. August und 12. September 2001, soweit sich die Beschwerdeführerin darin selber belastete (E. 4).

Cannabisverbot nicht konventionswidrig

Mit Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der Strassbruger Organe weist das Bundesgericht eine Beschwerde ab, mit der geltend gemacht worden war, die Unterstellung des Hanfkrauts unter das Betäubungsmittelgesetz widerspreche der freien Gestaltung der Lebensführung (BGE 6P.25/2006 vom 27.04.2006):
In ganz ähnlicher Weise fiele es schwer, den Betäubungsmittelkonsum als elementare Erscheinungsform der Persönlichkeitsentfaltung zu qualifizieren.Der Umgang mit Drogen, namentlich der Konsum von Cannabis, kann nicht menschenrechtlich als Ausfluss des Anspruchs auf Privatleben geschützt sein. Bei dieser Sachlage stösst auch die Rüge ins Leere, das Diskriminierungsverbot von Art. 14 EMRK sei verletzt. Diese Garantie enthält keinen allgemeinen Gleichheitssatz, sondern bezieht sich nur auf die in der Konvention anerkannten Rechte und Freiheiten. Fällt der Konsum von Betäubungsmitteln aber nicht in den Schutzbereich von Art. 8 EMRK, erübrigt sich ein Vergleich mit der Straffreiheit von Tabak- und Alkoholkonsum (E. 3.2).

Durchsuchung und Beschlagnahme in Anwaltskanzlei

Detlef Burhoff, stellt auf seiner Website einen Artikel zum erwähnten Thema ins Netz, der wertvolle Tipps für die Betroffenen enthält. Von Interesse dürfte insbesondere die Checkliste für das Verhalten bei der Durchsuchung sein.

Donnerstag, Mai 25, 2006

Polizeiindex

Der Bundesrat hat Gesetzesentwurf und Botschaft zum Polizeiindex verabeschiedet (s. Pressemitteilung EJPD).

Die NZZ widmet dem Index zwei Beiträge (hier und hier).

Mittwoch, Mai 24, 2006

Bundesverfassungsgeicht schränkt Rasterfahndung ein

Mit Beschluss 4. April 2006 (BVerfG, 1 BvR 518/02) schützt das Bundesverfassungsgeicht in Karsruhe einen marokkanischen Studenten, der zufolge einer Rasterfahndung ins Netz der Sicherheitsbehörden gelangte. Die Leitsätze lauten wie folgt:
1. Eine präventive polizeiliche Rasterfahndung der in § 31 PolG NW 1990 geregelten Art ist mit dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) nur vereinbar, wenn eine konkrete Gefahr für hochrangige Rechtsgüter wie den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder für Leib, Leben oder Freiheit einer Person gegeben ist. Im Vorfeld der Gefahrenabwehr scheidet eine solche Rasterfahndung aus.
2. Eine allgemeine Bedrohungslage, wie sie im Hinblick auf terroristische Anschläge seit dem 11. September 2001 durchgehend bestanden hat, oder außenpolitische Spannungslagen reichen für die Anordnung der Rasterfahndung nicht aus. Vorausgesetzt ist vielmehr das Vorliegen weiterer Tatsachen, aus denen sich eine konkrete Gefahr, etwa für die Vorbereitung oder Durchführung terroristischer Anschläge, ergibt.

Interpellationen zur Staatsanwaltschaft SO

Die beiden Interpellationen zur Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn sind online (s. meinen Beitrag dazu):

Die Interpellation der Fraktion SP/Grüne stellt u.a. folgende (entscheidende) Fragen:
3. Wie sieht das Verfahren- und der Dokumentenablauf zwischen Polizei und Staatsanwaltschaft aus, entstehen an den Schnittstellen Verzögerungen?
4. Hat die Staatsanwaltschaft die Kontrolle über die Ermittlungstätigkeit der Polizei?
Die Interpellation der Fraktion FdP fordert Antworten zu:
1. Wie viele pendente Fälle hat die Staatsanwaltschaft per 1. August 2005 vom früheren Untersuchungsrichteramt übernommen? Aus welchen Jahren stammen wie viele Fälle?
2. Welches sind die Gründe dafür, dass einzelne Verfahren Jahre beanspruchen? Aus welchen Bereichen stammen diese Strafanzeigen?
10. Wie ist die seit der Strafreform eingetretene (massive) Kompetenzverschiebung von der Gerichtsbehörde hin zur Untersuchungsbehörde in rechtsstaatlicher Hinsicht zu würdigen?

Dienstag, Mai 23, 2006

Vom Bundesrat beantwortete Vorstösse

Die Bundesversammlung hat die neusten, vom Bundesrat beantworteten parlamentarischen Vorstösse publiziert. Für die hier behandelten Themen ist auf folgende Vorstösse hinzuweisen:

06.3093 n Ip. Brunschwig Graf. Anti-Folter-Protokoll: Wann werden die Vernehmlassungsergebnisse publiziert?

06.3097 n Mo. Vischer. Erweiterung der Beschwerdelegitimation im Strafverfahren vor Bundesgericht

06.3119 n Po. Hubmann. Wider die Bussenschlupflöcher

06.3138 n Mo. Mathys. Einführung einer Strafbestimmung für das Wegwerfen von Müll.

Montag, Mai 22, 2006

Die Anwaltsprüfungen bestanden ...

... hat gemäss WSJ-LawBlog die ehemalige Dekanin der renommierten Stanford Law School, nachdem sie im letzten Herbst noch durchgefallen war. Der Beitrag nennt ein paar andere Prominente, die zu den unglücklichen 56% der erfolglosen Prüflinge gehörten. Der Bürgermeister von Los Angeles fiel gleich viermal durch.

Durchsuchung ohne Durchsuchungsbefehl

Nach Reklamationen über eine laute Party näherte sich die herbeigerufene Polizei einem Haus in Utah. Aus dem von aussen wahrgenommenen Lärm schloss die Polizei auf einen Kampf im Haus und beschloss, auch ohne Durchsuchungsbefehl einzutreten. Einige Party-Teilnehmer wurden verhaftet und wegen verschiedener Bagatelldelikten (Trunkenheit, unanständiges Benehmen, etc.) angeklagt. Die Angeklagten wollten Beweismittel aus dem Verfahren weisen lassen mit der Begründung, die Polizei habe die Beweismittel bei einer verfassungswidrigen Durchsuchung sichergestellt.

Dafür hatte der U.S. Supreme Court kein Verständnis. In einer einstimmig ergangenenen Entscheidung (05-502) stellte der neue Chief Justice fest:
Law enforcement officers may enter a home without a warrant to render emergency assistance to an injured occupant or to protect an occupant from imminent injury.
Subjektive Gründe, welche die Polizeibeamten getrieben haben mögen, seien unbeachtlich:
we think the officers' entry was plainly reasonable under the circumstances [...]. The officers had an objectively reasonable basis for believing both that the injured adult might need help and that the violence in the kitchen was just beginning.
[aufgeschnappt bei SCOTUSblog]

Update: Beschlagnahme von Verteidigerhonorar

Die Verteidiger im Fall Dieter Behring hatten auch vor Bundesgericht keinen Erfolg mit ihrer Beschwerde gegen eine Beschlagnahmeverfügung der Bundesanwaltschaft. Diese hatte die Beschlagnahme der Restguthaben der Beschuldigten aus den an die Verteidiger geleisteten Vorschüssen von je CHF 250,000.00 beschlagnahmt (vgl. dazu meinen Beitrag nach dem Urteil des Bundesstrafgerichts).

Der Entscheid der I. Öffentlichrechtlichen Abteilung (Fünferbesetzung) ist heute online gestellt worden (1S.5/2006 vom 05.05.2006).

Die Verteidiger rügten zunächst erfolglos, der für eine Beschlagnahme erforderliche Tatverdacht fehle. Wer am Sachverhalt im Fall Behring interessiert ist, sollte die recht ausführlichen Passagen des Bundesgerichtsentscheids dazu lesen (E. 2).

Zu den Voraussetzungen der Beschlagnahme äusserte sich das Bundesgericht wie folgt:
Für den vom Anwalt gutgläubig entgegengenommenen Vorschuss lässt sich deshalb mit guten Gründen die Auffassung vertreten, dass dieser nur insoweit legalisiert und der Einziehung entzogen ist, als der Anwalt im Rahmen des vereinbarten Mandats gutgläubig Leistungen erbracht und insofern einen Honoraranspruch gegen seinen Mandanten erworben hat (E. 3.2.2).
Danach setzte es sich mit den in der Literatur geäusserten Bedenken gegen die Einziehbarkeit von Anwaltsvorschüssen und -honoraren und die daraus folgende mögliche Strafbarkeit von Anwälten wegen Geldwäscherei auseinander und stellte fest, dass viele der Probleme sich im vorliegenden Fall gar nicht stellten. Anwaltshonorare generell von der Einziehung auszunehmen, solange diese eine angemessene Entschädigung der Anwaltstätigkeit darstellen, und zwar unabhängig vom guten Glauben des Anwalts, setze jedenfalls eine entsprechende gesetzliche Regelung voraus und könne de lege lata nicht angewandt werden (E. 3.2.3). [Hier bin ich mit dem Bundesgericht nicht einverstanden. Die Beschlagnahme stellt einen Eingriff in verfassungsmässig geschützte Rechte dar. Im Rahmen des Prüfung der Rechtmässigkeit eines solchen Eingriffs kann das Programm nach Art. 36 BV doch wohl auch ohne gesetzliche Regelung abgearbeitet werden und zum Ergebnis führen, dass Anwaltshonorare nicht der Einziehung unterliegen. Im Ergebnis kehrt das Bundesgericht hier doch das Legalitätsprinzip um: Der Staat darf alles, was ihm das Gesetz nicht ausdrücklich verbietet].

Die vielleicht wichtigste Frage des Entscheids betrifft das Anwaltsgeheimnis. Die Beschwerdeführer machten geltend, die Offenlegung der Honorarnote nach aussen verletze das Anwaltsgeheimnis und das dem Beschuldigten garantierte Recht auf wirksame Verteidigung. Dazu das Bundesgericht:
Das Anwaltsgeheimnis erstreckt sich auf alles, was der Anwalt aufgrund seines Mandats wahrnimmt und erfährt, einschliesslich des Verhaltens des Klienten gegenüber dem Anwalt selbst (...). Es umfasst schon die Tatsache des Bestehens eines Mandats zwischen dem Anwalt und dem Mandanten [...] Detailliertere Angaben über Art, Ort und Zeit der Vornahme bestimmter Leistungen können dagegen - auch wenn Namen anonymisiert werden - unter das Anwaltsgeheimnis fallen, wenn sie Rückschlüsse z.B. auf das Verhalten des Beschuldigten oder die Verteidigungsstrategie geben. Insofern ist für eine detaillierte und damit eine von der Bundesanwaltschaft bzw. der Beschwerdekammer überprüfbare Abrechnung die Entbindung der Verteidiger von der Schweigepflicht erforderlich (E. 5.3.1)
Das Bundesgericht interpretiert die Beschlagnahmeverfügung der BA im vorliegenden Fall als
Möglichkeit der beschwerdeführenden Anwälte, die von ihnen erbrachte Gegenleistung und deren Wert darzulegen und dadurch zu verhindern, dass ein nicht der Einziehung unterliegender Teil der Vorschussleistungen beschlagnahmt werde.

Weigern sich die beschwerdeführenden Anwälte, eine Abrechnung zu erstellen, oder sind sie dazu - mangels Entbindung von der Schweigepflicht durch ihren Mandanten - nicht (bzw. nur in groben Zügen) berechtigt, so führt dies nicht zur Beschlagnahme des gesamten Vorschusses. Vielmehr muss dann die Bundesanwaltschaft den Betrag analog Art. 59 Ziff. 4 StGB schätzen. Dabei muss sie berücksichtigen, dass es sich um eine frei gewählte Verteidigung handelte, bei der sowohl die Stundensätze als auch Art und Umfang der Verteidungsleistungen grundsätzlich frei vereinbart werden können. Die Schätzung muss sich deshalb an Verteidigerhonoraren in vergleichbaren Fällen orientieren und darf nicht die bei einer amtlichen Verteidigung üblichen Ansätze zugrunde legen. Keinesfalls darf eine bewusst niedrige Schätzung als Druckmittel eingesetzt werden, um den Mandanten zum Verzicht auf das Anwaltsgeheimnis zu bewegen (E. 5.3.2).
Damit sind die nächsten Beschwerden vorprogrammiert.

Sonntag, Mai 21, 2006

Aufsichtsbeschwerde gegen Staatsanwalt

Die Sonntagszeitung berichtet (kostenpflichtig) über eine Aufsichtsbeschwerde gegen einen Zürcher Staatsanwalt, der Anleger angeschrieben und auf suggestive Art gefragt haben soll, ob sie durch Transaktionen, die über die Bank Vontobel abgewickelt wurden, geschädigt fühlen. Auch von Amtsgeheimnisverletzung ist die Rede.

Auf der Suche nach Geschädigten, die sich nicht geschädigt fühlen, sind solche Untersuchungsmethoden doch längst normal. Einen ganz ähnlichen Fall hatten wir doch erst kürzlich auch im Kanton Solothurn (vgl. dazu meinen Beitrag). Über viele andere Fälle wird nicht berichtet.

Totalüberwachung des Internetverkehrs

Die Sonntagszeitung berichtet hier (kostenpflichtig) und hier (frei) über neue Pläne des Bundes, spätestens ab 2009 den gesamten Internetverkehr der Schweiz zu erfassen und zu speichern. Dies soll mittels Installation neuer Überwachungssoftware erfolgen, die entweder bei den Telekommunikationsgesellschaften, bei grossen Internetknoten oder bei den Zugängen der Nutzer installiert wird. Bei der letzten Variante handelt es sich um eine Art Wanze, die bei Bedarf eingeschaltet werden kann, was bei UMTS-Mobiltelefonen bereits heute der Fall ist.

Schwergewichtsthema der heutigen Sonntagspresse sind immer noch die Ausschreitungen von Basel vom vergangenen Wochenende. Bereits sind neue politische Vorstösse von windigen Politikern angekündigt, welche den Sportfunktionären jede noch so unverschämte Forderung erfüllen wollen, bevor sie überhaupt ausgesprochen ist.

Bereits vor der Inkraftsetzung von BWIS I ("Hooligan-Gesetz") ist man sich weitgehend einig, dass das Gesetz Basel nicht verhindert hätte. Auf dem Boden bleibt Daniel Vischer, seines Zeichens immerhin Präsident der Rechtskommission des Nationalrats. Seinen Beitrag finden Sie in der NZZ am Sonntag (kostenpflichtig).

Samstag, Mai 20, 2006

John Stuart Mill

wurde heute vor 200 Jahren geboren. Mill würde sich im Grab umdrehen, würde er die Entwicklungen seit 9/11 auch in der Schweiz erleben. Besonders den "Wir Liberalen" würde es gut anstehen, die Forderungen nach repressiven Gesetzen (s. etwa meinen Beitrag hier) an den philosophisch ökonomischen Ansätzen Mills (oder an den eigenen Idealen) zu überprüfen.

Die NZZ bringt heute zwei lesenswerte Beiträge über John Stuart Mill (hier und hier), woraus ich eine der entscheidenden Überlegungen zitiere:
Der Kern von Mills Liberalismus liegt in der Mässigung und Begrenzung der Sanktionsgewalten von Staat und Gesellschaft zugunsten der Entfaltungspotenziale des Individuums. Die Begründung und Anwendung eines Sanktionsprinzips muss stets und möglichst umfassend die «Sanktionskosten» berücksichtigen. Der von David Lyons eingeführte Begriff deckt nicht nur monetäre Kosten der Überwachung und Kontrolle ab, sondern auch die sogenannten moralischen Kosten, die in der Verletzung von Rechten und der Selbstachtung manipulierter und kontrollierter Bürger bestehen. Die Kehrseite des «harm principle» ist die Ausscheidung des Paternalismus. Andere zu ihrem vermeintlichen (körperlichen, seelischen oder moralischen) Besten zu zwingen, ist kein zulässiges liberales Prinzip. Paternalismus gegenüber mündigen Personen verletzt nicht nur deren individuelle Rechte, sondern führt auch zu einer unerwünschten Zentralisierung von Macht sowie zu kontraproduktiven Formen der Bürokratie (Jean-Claude Wolf, Lob des Exzentrikers, NZZ vom 20./21.05.2006, 71).

Freitag, Mai 19, 2006

Update: Angriffe auf das Anwaltsgeheimnis in den USA

White Collar Crime Prof Blog berichtet erneut über die Praxis um den Verzicht auf das Anwaltsgeheimnis in den USA (s. meinen letzten Beitrag). Im Fall Milberg Weiss (s. dazu den Beitrag im LawBlog des Wall Street Journal) wurde ein vollumfänglicher Verzicht auf das Berufsgeheimnis bis zurück zum ersten Editionsbegehren im Jahre 2002 verlangt. Das Problem liegt dabei, dass die Anwaltskanzlei Milberg Weiss wohl auf ihren eigenen Geheimnisschutz verzichten kann, nicht aber auf denjenigen ihrer Klienten. Damit ist ein Agreement wohl zum Vornherein ausgeschlossen.

Milberg Weiss hat eine Website zur Anklage aus ihrer Sicht aufgeschaltet.

Donnerstag, Mai 18, 2006

Angriffe auf das Anwaltsgeheimnis in den USA

In den USA (und zumindest in der Praxis längst auch in der Schweiz) sind Verfahrensabsprachen auch in Strafverfahren möglich und üblich. Kooperation der Beschuldigten soll belohnt werden. Vor allem in komplexen Wirtschaftsstrafverfahren wertet die Staatsanwaltschaft den Verzicht auf das Anwaltsgeheimnis als "Kooperationsbeweis". So wird das verfassungsmässig garantierte Anwaltsgeheimnis kalt ausser Kraft gesetzt. Der Präsident der ABA adressiert das Problem in einem Brief vom 02.05.2006 wie folgt dar:
The ABA strongly supports the preservation of the attorney-client privilege and work product doctrine and opposes governmental policies, practices and procedures that have the effect of eroding the privilege or doctrine. Unfortunately, the Department of Justice has adopted—and is now following—a policy that has led many of its prosecutors to routinely pressure organizations to waive the protections of the attorney-client privilege and/or work product doctrine as a condition for receiving cooperation credit during investigations. While this policy was formally established by the Department’s 1999 “Holder Memorandum” and 2003 “Thompson Memorandum,” the incidence of coerced waiver was exacerbated in 2004 when the U.S. Sentencing Commission added language to Section 8C2.5 of the Federal Sentencing Guidelines that authorizes and encourages the government to seek waiver as a condition for cooperation.
Weitere Informationen mit aktuellen Beispielen finden sich im White Collar Crime Prof Blog (hier und zum KPMG-Verfahren hier und hier).

Mittwoch, Mai 17, 2006

23 Fragen an die Staatsanwaltschaft

Gemäss einem Bericht des Solothurner Tagblatts hat die FdP-Fraktion des Solothurner Kantonsrats eine Interpellation eingereicht, in der 23 Fragen zur Staatsanwaltschaft gestellt werden. Anlass gaben die Kritik vom letzten Herbst ("Annahme verweigert"; s. auch meine Beiträge in chronologischer Reihenfolge hier, hier, hier, hier, hier und hier), Berichte über mehrere Schachteln ungeöffneter Post und die lange Verfahrensdauer.

Nicht nur die ungeöffnete Post lässt auf organisatorische Probleme schliessen. Diese werden dann sicher durch eine (weitere) Aufstockung des Personals "gelöst". Dafür nimmt man ein bisschen Kritik doch gerne in Kauf.

Dienstag, Mai 16, 2006

Private Hilfs-Sheriffs gegen Hooligans

Gemäss einem Artikel in der NZZ fordert die Basler Staatsanwaltschaft die Matchbesucher vom letzten Samstag auf, ihre privaten Video- und Handy-Bilder zur Verfügung zu stellen. Den Lieferanten wird Anonymität zugesichert. Die Bilder seien vor Gericht "wohl zulässig", was auch angesichts der neusten Rechtsprechung des Bundesgerichts zur Verwertbarkeit anonymer Zeugenaussagen (s. dazu meinen Beitrag) möglicherweise sogar zutrifft.

Der Sprecher des EDSB glaubt, heikel sei aus datenschutzrechtlicher Sicht höchstens, dass die Behörden auch auf den E-Mail-Weg verwiesen, der doch eher unsicher sei. Na wenn das das einzige Problem ist ...

Private zum verlängerten Arm der Strafverfolger zu machen, ist natürlich nicht neu und kommt inbesondere bei Kapitalverbrechen regelmässig vor. Auch die Banken können im Bereich Geldwäscherei ein (teures) Lied davon singen. Womöglich wird nach dem Geldwäschereivorbild bald auch für Fussballfans eine Dokumentations- und Meldepflicht eingeführt ("know your hooligan"). Das würde teure staatliche Schutzvorkehrungen obsolet machen.

Parlamentarische Vorstösse

Die Schweizerische Bundesversammlung teilt die neuen parlamentarischen Vorstösse mit. Hier ein (sehr knapp gehaltener) Auzug:
  • 06.3070 Ip. Lang Josef : Die Schweiz und die Sklaverei
  • 06.3093 Ip. Brunschwig Graf Martine : Anti-Folter-Protokoll: Wann werden die Vernehmlassungsergebnisse publiziert?
  • 06.5029 Fra. Brunschwig Graf Martine : Wird die Schweiz das Anti-Folter-Protokoll als letztes Land ratifizieren?
  • 06.1041 A Hess Bernhard : Kriminelles Antifa-Milieu
  • 06.3023 Ip. Fraktion der Schweizerischen Volkspartei : Aktuelle Entwicklung der Bedrohungslage
  • 06.3081 Mo. Perrin Yvan : Angemessene Polizeimunition
  • 06.5050 Fra. Banga Boris : DAP-Einsatz im Ausland
  • 06.5051 Fra. Leuenberger Ueli : Rechtmässigkeit gewisser verdeckter Ermittlungsmethoden in Schweizer Moscheen
  • 06.5052 Fra. Leuenberger Ueli : Fragwürdige Einsätze von Lockspitzeln
  • 06.3167 Ip. Schibli Ernst : Freier Zugang im System Schengen für Euro-Polizisten auch zur Steuerschnüffelei
  • 05.092 BRG : Strafprozessrecht. Vereinheitlichung
  • 06.301 Kt.Iv. Basel-Landschaft : Strafbarkeit des Konsums und des Vertriebs von Kinderpornografie und anderer verbotener Pornografie. Erhöhung des Strafmasses (Art. 197 Ziffer 3bis StGB)
  • 06.402 Pa.Iv. Heim Bea : Revision des Verjährungsrecht im Strafgesetzbuch
  • 06.3024 Ip. Freisinnig-demokratische Fraktion : Karikaturen-Streit. Einschränkung der Meinungsfreiheit und Gesinnungsneutralität
  • 06.3025 Ip. Freisinnig-demokratische Fraktion : Karikaturen-Streit. Schweizer Haltung betreffend Demokratie und Meinungsfreiheit auf internationaler Ebene
  • 06.3038 Mo. Lang Josef : Aufhebung Artikel 293 StGB
  • 06.3053 Po. Freysinger Oskar : Gegen eine finanzielle Unterstützung des Terrorismus
  • 06.3096 Ip. Darbellay Christophe : Zunahme der jugendlichen Delinquenz
  • 06.3097 Mo. Vischer Daniel : Erweiterung der Beschwerdelegitimation im Strafverfahren vor Bundesgericht
  • 06.3119 Po. Hubmann Vreni : Wider die Bussenschlupflöcher
  • 06.3152 Ip. Baumann J. Alexander : Rechtshilfe in Strafsachen. Voreilige Blockierung von Vermögenswerten durch die Bundesanwaltschaft
  • 06.3153 Ip. Baumann J. Alexander : Ineffizienz der Bundesanwaltschaft als Strafverfolgungsbehörde?
  • 06.3154 Ip. Baumann J. Alexander : Wie lange noch soll Valentin Roschacher unsere Geduld strapazieren?
  • 06.3170 Mo. Schweiger Rolf : Bekämpfung der Cyberkriminalität zum Schutz der Kinder auf den elektronischen Netzwerken
  • 06.5048 Fra. Vermot-Mangold Ruth-Gaby : Konvention des Europarates gegen den Menschenhandel

Montag, Mai 15, 2006

Jugendliche sitzen länger - und nach BWIS I rascher

Unter diesem Titel stellt die Solothurner Zeitung auf der Frontseite
das neue eidgenössische Strafrecht vor, das ab 2007 auch im Kanton Solothurn eingeführt wird - sofern der Kantonsrat morgen Dienstag einwilligt.
Zugunsten einer künftig etwas seriöseren Berichterstattung durch die Solothurner Zeitung bleibt zu hoffen, dass der Kantonsrat nicht einwilligen wird.

Die Gunst der Stunde nutzt der Chefredaktor desselben Blatts, der nach "Basel" folgendes zum "Hooligan-Gesetz" vorschlägt:
Die Verfechter des Referendums sollten sich überlegen, ob sie den Datenschutz tatsächlich als höchstes Gut betrachten wollen.
Ein Blick in die Vorlage würde ihm zeigen, dass es bei BWIS I bei weitem nicht nur um Datenschutz geht. Nach BWIS I sitzen Jugendliche zwar nicht länger, dafür aber rascher und ohne richterliche Kontrolle. (vgl. dazu meine früheren Beiträge hier und hier oder die Unterlagen des BJ).

Update: Quellenschutz gewährleistet

fel. hat in der NZZ (S. 35 der gedruckten Ausgabe) und im Jusletter (kostenpflichtig) weitere Informationen zur Gutheissung der straatsrechtlichen Beschwerde (s. meinen letzten Beitrag). Er wirft dem Bundesgericht praxiswidrige Geheimniskrämerei vor:
Da indes die Beratung einer staatsrechtlichen Beschwerde unter den gegebenen Umständen gemäss Rechtsprechung öffentlich hätte durchgeführt werden müssen (BGE 117 Ia 508), besteht kein Anlass, den Lesern der NZZ das Zustandekommen des Urteils vorzuenthalten.
Gemäss fel. ist die Gutheissung nicht bloss aus formellen Gründen erfolgt. Die NZZ am Sonntag muss ihre Quellen definitiv nicht preisgeben. Das begründete Urteil liegt indes noch nicht vor.

Sonntag, Mai 14, 2006

Update: Quellenschutz gewährleistet

In der vorerst letzten Runde im Rechtsstreit um die Preisgabe von Quellen im Fall Marko Turina hat das Bundesgericht eine staatsrechtliche Beschwerde der NZZ am Sonntag gutgeheissen, so jedenfalls eine Mitteilung der NZZ am Sonntag. Gerügt war eine Gehörsverletzung und eine Verletzung des Zeugnisverweigerungsrechts für Medienschaffende. Da ein motiviertes Urteil noch nicht vorliegt, ist es gut möglich, dass die Beschwerde allein wegen der Gehörsverletzung gutgeheissen und die eigentlich interessante Frage vom Bundesgericht gar nicht beurteilt wurde. Man darf gespannt sein auf das motivierte Urteil (s. meinen letzten Beitrag).

Fehlleistungen der Staatsanwaltschaft?

Der Tagesanzeiger und nach ihm die Sonntagspresse berichten über die Mängel der zurückgewiesenen Anklageschrift im Fall Swissair. Im Zentrum der Kritik steht offenbar die Frage nach dem hypothetischen Schaden, der eingetreten wäre, wenn der Verwaltungsrat im Jahr 2000 die Bilanz der Tochtergesellschaft SAirLines deponiert hätte, statt die Restrukturierung durchzuführen. Wenn der eingetretene Schaden im Vergleich zum hypothetischen Schaden tatsächlich in der Anklageschrift nachzuweisen ist, dann werden die Anklagepunkte in diesem Bereich tatsächlich nicht zu Verurteilungen führen können. Ich bleibe trotzdem bei meiner Prognose, denn die anderen Mängel erscheinen als behebbar (s. meinen letzten Beitrag).

Freitag, Mai 12, 2006

Hells Angels MC Zürich als kriminelle Organisation?

Das Bundesstrafgericht hat eine Beschwerde der Bundesanwaltschaft gegen eine Verfügung eidg. Untersuchungsrichteramts gutgeheissen (BB.2006.11 vom 10.05.2006), das die Beschlagnahme eines Motorrads und eines Geldbetrags von CHF 40,000.00 aufgehoben hatte. Für das Bundesstrafgericht war der Verdacht der kriminellen Organisation hinreichend konkret, so dass die beiden Vermögenswerte nun beschlagnahmt bleiben.

Haftentlassung durch das Bundesgericht

In einem heute online gestellten Entscheid hat das Bundesgericht wieder einmal eine Haftbeschwerde gutgeheissen und die umgehende Haftentlassung angeordnet (BGE 1P.220/2006 vom 05.05.2006). Das Bundesgericht erachtete sämtliche besonderen Haftgründe als nicht erstellt bzw. die Aufrechterhaltung der Haft als unverhältnismässig. In solchen Fällen, die allerdings selten sind, bleibt dann trotz der zurückhaltenden Rechtsprechung des Bundesgerichts wirklich nur noch die sofortige Haftentlassung.

Donnerstag, Mai 11, 2006

Verwertbarkeit anonymer Zeugenaussagen

In einem zur Publikation in der amtlichen Sammlung vorgesehenen Entscheid hat das Bundesgericht eine Verurteilung kassiert, die (auch) auf der Aussage eines anonymen Zeugen basiert hatte (BGE 1P.61/2006 vom 25.04.2006).

Im Verfahren gegen den Beschwerdeführer baten zwei Zeugen um Anonymität. Anlässlich der Befragung des Zeugen "x2" erschien der Beschwerdeführer nicht. Sein Anwalt konnte "x2" hingegen befragen. Dazu das Bundesgericht:
Damit hat der Beschwerdeführer in Bezug auf diesen Zeugen sein eigenes Konfrontationsrecht verwirkt, weshalb dessen Aussagen ohne weiteres verwertet werden durften (E. 4.3)
Anders jedoch beim Zeugen "x1":
Dem Zeugen "x1" hat der Untersuchungsrichter auf dessen Bitte hin eine (auch indirekte) Konfrontation mit dem Beschwerdeführer von vornherein erspart. Der Verteidiger konnte "x1" zwar durch den Gerichtspräsidenten vorher eingereichte Fragen stellen lassen, und das Gericht vergewisserte sich in Bezug auf beide Zeugen, dass diese über einen einwandfreien allgemeinen und automobilistischen Leumund verfügen und den Beschwerdeführer nicht kennen. Indessen hatten weder der Beschwerdeführer noch sein Verteidiger Gelegenheit, "x1" in einer wenigstens indirekten Konfrontation zu befragen, obwohl der Beschwerdeführer bzw. sein Verteidiger dies in rechtsgültiger Weise verlangten. Die Verwertung dieser Aussage ist mit den Garantien von Art. 32 Abs. 2 BV i.V. m. Art. 6 Ziff. 1 und Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK nicht vereinbar, die Rüge ist begründet (E. 4.3).
Entscheidend war offenbar, dass sich die Vorinstanz auf beide Zeugenaussagen - und damit auch auf eine unverwertbare - stützte:
Das Kantonsgericht stützt die Verurteilung des Beschwerdeführers auf beide Zeugenaussagen und damit auch auf die unverwertbare von "x1". Die Beschwerde ist somit gutzuheissen und der angefochtene Entscheid aufzuheben (E. 4.4).

Mittwoch, Mai 10, 2006

Swissair-Anklage zurückgewiesen

Das Bezirksgericht Bülach hat die Anklage gegen die Swissair-Verantwortlichen an die Staatsanwantlschaft zurückgewiesen. Offenbar waren einzelne Anklagepunkte zu wenig präzise. Das Zwischenverfahren soll den Zeitplan nicht beeinträchtigen. Mit einem Urteil rechnet das Bezirkgsgericht bis Frühjahr 2007.

Mehr dazu erfahren Sie im Tagesanzeiger. An meiner Prognose in einem früheren Beitrag halte ich übrigens fest, auch wenn alle Experten anderer Meinung zu sein scheinen.

Den Zenit der Freiheitlichkeit überschritten

Gemäss eines Beitrags im Solothurner Tagblatt sind nun freiheitsbeschränkende Gesetze gefordert. Zu diesem erstaunlichen Schluss kommt der Stadtpräsident von Solothurn und lässt sich wie folgt zitieren:
Grundsätzlich ortet Fluri als Hintergrund der aktuellen Probleme «Symptome einer dekadenten Gesellschaft» sowie die Überbetonung der Freiheit des Einzelnen ohne Rücksicht auf die übrige Gesellschaft. «Wir haben den Zenit der Freiheitlichkeit überschritten», so Fluri. So bedauerlich das sei: Eine Mehrheit werde auf repressive Gesetze drängen – die Politik werde an «freiheitsbeschränkende Gesetze» heran gehen müssen.
Als Nationalrat der FDP ("Wir Liberalen") hatte er sich erst kürzlich noch für ein "aktives Einstehen zu Gunsten der Grundrechte" eingesetzt (s. meinen früheren Beitrag).

Von den heutigen Radicaux, denen ich mich irgendwie halt immer noch verbunden fühle, war im Grunde nichts anderes zu erwarten: Aktives Einstehen für die Grundrechte durch Erlass freiheitsbeschränkender Gesetze.

Dienstag, Mai 09, 2006

Grünbuch Unschuldsvermutung

Die Europäische Kommission hat gemäss Mitteilung vom 28.04.2006 ein Grünbuch Unschuldsvermutung vorgelegt, das hier heruntergeladen werden kann.

Zinsverlust auf beschlagnahmten Vermögenswerten

Das Bundesgericht hebt ein Urteil des Obergerichts des Kantons Solothurn wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs auf (BGE 1P.93/2006 vom 25.04.2006). Das Obergericht hatte dem freigesprochenen Beschuldigten wohl die beschlagnahmte Summe von 200,145.90 zurückerstattet, ihm jedoch den Zinsverlust nicht ersetzt, weil er einen entsprechenden Anspruch nicht gestellt habe. Aus den Erwägungen des Bundesgerichts:
Das Gericht ging somit davon aus, dass der Beschwerdeführer kein Entschädigungsbegehren gestellt hatte. Folgedessen hätte es dem Beschwerdeführer nach § 38 StPO/SO Gelegenheit geben sollen, ein Entschädigungsbegehren nachzureichen. Indem das Obergericht dies unterliess, wendete es § 38 StPO/SO offensichtlich falsch an und verletzte dadurch den Gehörsanspruch des Beschwerdeführers (E. 2.6).

Montag, Mai 08, 2006

Überwachung der Intenettelefonie VoIP

Im August 2005 hat die FCC die Provider verpflichten wollen, die Überwachung von VoIP zu ermöglichen. In einem daraufhin von CDT angestrengten Verfahren erfuhr die FCC nun einen empfindliche (vorläufigen) Rückschlag. Der zuständige Richter qualifizierte die Argumente des FCC-Vertreters als “nonsense” and “gobbledygook”:
Your argument makes no sense. When you go back to the office, have a big chuckle. I’m not missing this. This is ridiculous, counsel!
Die Story findet sich im Law Blog des Wall Street Journal (s. auch meinen früheren Beiträge zur Rechtslage in der Schweiz hier und hier).

Praxisänderung - Grundsatz der Tatidentität aufgegeben

In einem offenbar nicht zur Publikation in der amtlichen Sammlung vorgesehenen Entscheid ändert das Bundesgericht seine Rechtsprechung zu Art. 69 StGB (Anrechnung der Untersuchungshaft; BGE 6S.421/2005 vom 23.03.2006).

Dem neuen Entscheid des Bundesgerichts lag eine wegen Verdachts versuchter Tötung angeordnete Untersuchungshaft zu Grunde. Von diesem Verdacht wurde der Beschwerdeführer freigesprochen. Dass er trotzdem zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von total 407 Tagen verurteilt wurde, ist auf die Verurteilung in anderen Anklagepunkten sowie auf einen Widerruf zurückzuführen. Die gesamthaft ausgefällte Strafe von 407 Tagen wurde mit den bereits erstandenen 925 Tagen Freiheitsentzug verrechnet. Für die 518 Tage Überhaft erhielt der Beschwerdeführer CHF 6,500.00 Schadenersatz und CHF 30,000.00 Genugtuung. Als Folge der teilweisen Verurteilung wurde ihm ein Viertel derVerfahrenskosten im Umfang von rund CHF 32,000.00 auferlegt und mit seiner Entschädigung verrechnet.
Die Rügen vor Bundesgericht blieben erfolglos. Zunächst machte der Beschwerdeführer geltend, die Überhaft sei in Verletzung von Bundesrecht nicht strafmindernd berücksichtigt worden. Dazu das Bundesgericht: Der im Zusammenhang mit ungerechtfertigter Haft erlittene Vermögensschaden und die immaterielle Unbill werden nach kantonalem Prozessrecht finanziell entschädigt (...). Eine darüber hinausgehende, generelle Strafminderungspflicht für die als Folge des teilweisen Freispruchs erstandene Überhaft besteht nicht. Entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers gelten die in der Haft ausgestandenen Beeinträchtigungen durch die Entschädigung und Genugtuung als abgegolten (E. 1.3).
Bei der Anrechnung nach Art. 69 StGB ersetzt das Bundesgericht den Grundsatz der Tatidentität durch den Grundsatz der umfassenden Anrechnungsregel:
Interpretiert man Art. 69 StGB in diesem Sinne als umfassende Anrechnungsregel, so kommt es auch nicht darauf an, ob die Untersuchungshaft auf neu auszufällende oder früher verhängte Freiheitsstrafen angerechnet wird. Im Vordergrund steht der Gedanke, zu entziehende wenn immer möglich mit bereits entzogener Freiheit zu kompensieren. Deshalb kann die Untersuchungshaft auch an die in einem früheren Urteil bedingt ausgefällte und nunmehr zu widerrufende Freiheitsstrafe angerechnet werden (E. 3.2.4).
Das Nachsehen hat der Beschwerdeführer, der für die abgesessenen 925 Tage praktisch leer ausgeht.

Samstag, Mai 06, 2006

Update: Falsche Rechtsmittelbelehrung in Solothurn

Labeo ist auf SOG 2003 Nr. 8 gestossen, den ich leider übersehen hatte (errare humanum). Er setzt damit ein fettes Fragezeichen hinter den Titel meines Beitrags, denn möglicherweise war es nicht die Rechtsmittelbelehrung des Oberstaatsanwalts, die falsch war. Dieser hatte sich lediglich auf die publizierte Rechtsprechung des Obergerichts verlassen, mit der sich das Bundesgericht leider nicht auseinandergesetzt hat.

Ob sich nun das Obergericht, der Oberstaatsanawalt oder das Bundesgericht geirrt hat, ist mir nicht klar. Klar ist mir nur, dass der Rechtssuchende in seinem Vertrauen auf die Rechtsmittelbelehrung selbst dann nicht geschützt wird, wenn sie richtig ist.

Verwahrung nur mit schlüssigem Gutachten

Im Kanton Glarus wurde ein Mann wegen Sexual- und Drogendelikten zu einer Gefängnisstrafe von 30 Monaten verurteilt. Anstelle des Vollzugs der Freiheitstrafe wurde die Verwahrung nach Art. 43 Ziff. 1 Abs. 2 StGB angeordnet. Das Obergericht des Kantons Glarus muss nun allerdings nach einer erfolgreichen Beschwerde ans Bundesgericht (6S.60/2006 vom 25.04.2006) noch einmal über die Bücher, weil es sich bezüglich der Verwahrung auf ein unzureichendes Gutachten stützte:
Zwar bejaht [das Gutachten]eine erhebliche Wiederholungsgefahr auch für sexuelle Übergriffe, wie sie vorliegend erstmals zu beurteilen waren, doch begründet es diese Annahme nur unzureichend mit dem lapidaren Hinweis, das jetzige Delikt des Beschwerdeführers liege nicht völlig ausserhalb seines bisherigen Verhaltens. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit der sich hier stellenden Problematik erfolgt nicht. Insoweit gibt das Gutachten keine (schlüssige) Auskunft über die Gefährlichkeit des Beschwerdeführers bzw. über die Frage, ob dessen Straftaten im Zusammenhang mit A. einmalig sind oder einen Wendepunkt hin zu einer Eskalation bzw. einer Verschlimmerung der sexuellen Enthemmung darstellen (E. 4.2).

Freitag, Mai 05, 2006

In dubio pro reo bei Drogenhandel

Das Bundesgericht hebt einen Entscheid der waadtländer Justiz wegen Verletzung der Unschuldsvermutung auf (BGE 1P.847/2005 vom 21.04.2006). Die von der Vorinstanz berechneten Gewinne des Drogenhändlers erwiesen sich als willkürlich.

Einmal mehr: Falsche Rechtsmittelbelehrung in Solothurn

In einem heute vom Bundesgericht online gestellten Fall (BGE 1P.112/2006 vom 20.04.2006) hat sich ein Beschwerdeführer auf die Rechtsmittelbelehrung des Oberstaatsanwalts verlassen und staatsrechtliche Beschwerde beim Bundesgericht geführt. Dieses trat nicht darauf ein, rettete aber den Beschwerdeführer über die analoge Anwendung von Art. 32 OG. Aus den Erwägungen des Bundesgerichts:
Ein Blick in das Gesetz des Kantons Solothurn über die Gerichtsorganisation vom 13. März 1977 (GO) zeigt, dass diese Rechtsmittelbelehrung falsch ist (E. 2.1).
Im vorliegenden Fall ergibt sich die Weiterzugsmöglichkeit des angefochtenen Entscheids mit einem kantonalen Rechtsmittel wie dargelegt ohne weiteres klar aus dem Text des Solothurner Gesetzes über die Gerichtsorganisation. Deshalb steht der Grundsatz von Treu und Glauben einem Nichteintretensentscheid des Bundesgerichts nicht entgegen. Auf die staatsrechtliche Beschwerde kann somit nicht eingetreten werden. Die Beschwerde vom 28. Februar 2006 ist jedoch in analoger Anwendung von Art. 32 Abs. 4 lit. b und Abs. 5 OG an das Obergericht des Kantons Solothurn weiterzuleiten (E. 2.2).
Diese (konstante) Rechtsprechung des Bundesgerichts wird mir nie einleuchten. Ich verstehe nicht, warum die Justiz oder hier der Oberstaatsanwalt falsch aufklären darf, ohne die Folgen tragen zu müssen. Warum soll sich der Rechtssuchende oder sein Anwalt nicht einfach auf das verlassen dürfen, was ihm die Profis von der Justiz zusichern?

Zu einem ähnlich gelagerten Fall s. meinen früheren Beitrag.

In dubio pro reo auch bei Vergewaltigung?

In Fünferbesetzung entschied das Bundesgericht über die staatsrechtliche Beschwerde eines wegen sexueller Nötigung, Vergewaltigung und mehrfacher sexueller Belästigung zu drei Jahren Zuchthaus und 12 Jahren bedingter Landesverweisung verurteilten Beschwerdeführers (BGE 1P.657/2005 vom 18.04.2006). Das Urteil der Vorinstanz basierte, "da aussagekräftige objektive Beweismittel weitgehend" fehlten, im Wesentlichen auf den Aussagen des Opfers, welche die Vorinstanz allerdings für einen Teil des Sachverhalts als "lebensfremd und unglaubhaft" qualifiziert hatte. Auch für das Bundesgericht waren die Aussagen teilweise "schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar". Insgesamt stellte es dann aber fest:
Damit legt das Appellationsgericht in einer sorgfältigen und differenzierten Würdigung der Aussagen der Beschwerdegegnerin nachvollziehbar und widerspruchsfrei dar, weshalb es deren Aussagen, soweit sie die Vorgeschichte betreffen, für unwahr und, soweit sie die anale Vergewaltigung betreffen, für nicht restlos überzeugend hält, es indessen keine vernünftigen Zweifel daran hat, dass der Beschwerdeführer an der Geschädigten jedenfalls einmal gegen deren Willen den Geschlechtsverkehr vollzog (E. 4.3)
Zu diesem Ergebnis führte ganz offensichtlich auch das Verhalten des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer weist im Wesentlichen bloss auf (angebliche oder tatsächliche) Widersprüche in den Aussagen der Beschwerdegegnerin hin und legt weitschweifig seine Sicht der Dinge dar, wobei er allerdings nicht auf seiner im kantonalen Verfahren (in verschiedenen Versionen) abgegebenen, vom Appellationsgericht zu Recht als absurd bezeichneten Darstellung des Geschehens beharrt, sondern zum Teil an den Haaren herbeigezogene Mutmassungen vorbringt, wie sich der Vorfall auch abgespielt und wie sich die Beschwerdegegnerin die festgestellte Verletzung der Scheide (Blutungen) und der Brüste (Hämatome) zugezogen haben könnte (E. 4.3)
In einem gewissen Widerspruch zu diesen Erwägungen steht der Entscheid, dem Beschwerdeführer die unentgeltliche Rechtsprechung zu bewilligen und seinen Vertreter mit immerhin CHF 2,000.00 zu entschädigen. Ich spekuliere, dass das Urteil nicht einstimmig erging.

Donnerstag, Mai 04, 2006

Emotionen im Gerichtssaal

Das Bundesgericht kassiert einen Entscheid des Obergerichts des Kantons Zürich wegen nicht nachvollziehbarer Strafzumessung. Der Beschwerdeführer wurde der schweren Körperverletzung, der mehrfachen einfachen Körperverletzung, der mehrfachen Tätlichkeiten, des (Hühner-)Diebstahls, des Hausfriedensbruchs sowie der geringfügigen Sachbeschädigung schuldig gesprochen und mit acht Jahren und acht Monaten Zuchthaus bestraft. Ferner ordnete das Obergeicht eine ambulante Behandlung ohne Aufschub des Strafvollzugs an und erklärte zwei Vorstrafen aus dem Jahr 2004 für vollziehbar. Der Beschwerdeführer machte geltend, die Vorinstanz habe sich offensichtlich durch Emotionen im Gerichtssaal leiten lassen und eine unhaltbar hohe Strafe ausgesprochen, welche insbesondere sein Verschulden und seine persönlichen Verhältnisse nicht hinreichend berücksichtige. Damit lag er wohl nicht ganz falsch, was folgende Auszüge aus den Erwägungen des Bundesgerichts nahe legen:
Die Vorinstanz wählt jedoch ein anderes, in mehrerer Hinsicht
Bundesrecht verletzendes Vorgehen. Sie setzt zuerst mit pauschaler Begründung eine im Einzelnen nicht begründete und damit nicht nachvollziehbare Gesamtstrafe von neun Jahren fest, in der sie nicht nur die von ihr beurteilten Delikte einbezieht, sondern zusätzlich auch die bereits rechtskräftig abgeurteilten [...]. Hier aber verletzt das Vorgehen das oben dargelegte Asperationsprinzip und offenbart ein falsches Verständnis der Gesamtstrafe (E. 4.2.2)
Insoweit ist nicht nur die Begründungspflicht verletzt, sondern einige Taten werden als Zusatzstrafe statt im Rahmen der Festsetzung der selbständigen Strafe beurteilt (E. 4.2.2)
Es fehlt dafür nicht nur eine Begründung. Vielmehr wird auch kein Zusammenhang zu den früheren Urteilen hergestellt (E. 4.2.2)
Da die Strafzumessung nicht nachvollziehbar ist, wäre auf die erhobenen weiteren Strafzumessungsrügen an sich nicht weiter einzugehen. Im Interesse der Verfahrensökonomie sei dennoch auf Folgendes kurz hingewiesen. Die von der Vorinstanz bejahte mehr als leichte aber noch nicht mittelgradig verminderte Zurechnungsfähigkeit, das als erheblich strafmindernd gewertete Geständnis und die festgestellte Verletzung des Grundsatzes des fairen Verfahrens mussten sich insgesamt deutlich strafmindernd auswirken. Demgegenüber ist der Begründung im angefochtenen Urteil nicht zu entnehmen, inwiefern sich die Vorstrafen wegen Vermögensdelikten und die erneute Begehung eines Vermögensdelikts während laufender Probezeiten je erheblich straferhöhend auswirken sollten (E. 4.3).

Sekt statt Champagner

Einem Angeklagten wurde im Kanton Thurgau vorgeworfen, 500 grosse und 812 kleine Flaschen Sekts als Champagner weiterverkauft zu haben. Er habe auf die eingekauften Flaschen Etiketten mit der Bezeichnung "Cuvée prestige, Champagne, Le Duc, Brut, Distribué par C. SA" geklebt und sie zum Preis von CHF 20.00 bis 28.00 (grosse Flaschen) bzw. CHF 14.00 bis 16.00 (kleine Flaschen) weiterverkauft. Dafür wurde er wegen gewerbsmässigen Betrugs und gewerbsmässiger Widerhandlung gegen das Markenschutzgesetz (zusätzlich wegen mehrfacher ANAG-Widerhandlung) 16 Monaten Gefängnis unter Gewährung des bedingten Strafvollzugs verurteilt . Das Bundesgericht weist sowohl die Nichtigkeitsbeschwerde als auch die staatsrechtliche Beschwerde ab (BGE 6P.140/2005 / 6S.445/2005 vom 06.04.2006), obwohl das vorinstanzliche Urteil nicht über alle Zweifel erhaben zu sein scheint.

Der Beschwerdeführer machte u.a. geltend, den Abnehmern sei kein Schaden entstanden, weil sie die Flaschen ja als Champagner weiterverkauft haben. Dazu das Bundesgericht:
Entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers ändert am
Schadenseintritt nichts, dass die Abnehmer den erhaltenen Sekt den Kunden des Nachtklubs als Champagner weiterverkauft haben dürften. Nach der Rechtsprechung genügt auch ein bloss vorübergehender Schaden, wie das Obergericht zu Recht ausführt (E. 5)
Der Beschwerdeführer rügte auch die Bestimmung der Schadenshöhe. Dazu das Bundesgericht:
Tatsächlich besteht diese nicht aus der Differenz zwischen dem erlangten Verkaufspreis und dem Einstandspreis, der für wirklichen Champagner hätte bezahlt werden müssen. Massgeblich ist vielmehr die Differenz zwischen dem Verkaufspreis für Champagner und jenem für Sekt. Trotzdem erscheint der von der Vorinstanz ermittelte Schaden im Ergebnis nicht bundesrechtswidrig. Sie nimmt an, der Schaden bewege sich für die Abnehmer in der Grössenordnung von Fr. 10.-- pro Flasche und stützt sich dabei auch auf ihre eigene Gerichtserfahrung. Angesichts der Preise, die der Beschwerdeführer für "Champagne Le Duc" verlangte (Fr. 20.-- bis Fr. 28.-- für die grosse Flasche), ist dies nicht zu beanstanden. Aus den Akten ist ersichtlich, dass der Beschwerdeführer den Sekt regelmässig deutlich billiger anbot als den Champagner. Mangels exakter Angaben erscheint die Annahme gerechtfertigt, dass im fraglichen Qualitätssegment gewöhnlicher Sekt in der Grössenordnung von etwa Fr. 10.-- pro grosse Flasche günstiger verkauft wird als Champagner. Die Einwände, die in der staatsrechtlichen Beschwerde gegen die Bestimmung der Einstandspreise erhoben werden, gehen fehl, da diese für die Schadensbestimmung gar nicht ausschlaggebend sind (E. 5).
Schliesslich sind noch die Erwägungen des Bundesgerichts zur Strafzumessung widerzugeben:
[Die Vorinstanz] bezeichnet die Deliktssumme als erheblich. Auch wenn sie sich nicht genau beziffern lasse, so betrage sie doch mehr als Fr. 12'000.--. Wenn anschliessend noch angefügt wird, der Beschwerdeführer habe mit Sicherheit noch mehr falsch etikettierte Sektflaschen abgesetzt, so kann der Eindruck entstehen, als solle er auch für nicht nachgewiesene Taten bestraft werden. Wie bereits dargelegt wurde (E. 5 i.f.), handelt es sich beim Deliktsbetrag indessen nur um eine sehr vorsichtige Schätzung. Der fragliche Satz lässt sich daher so verstehen, dass die Deliktssumme bei realistischer Betrachtung durchaus auch höher angesetzt werden könnte. Von einer offensichtlich unzutreffenden Gewichtung dieses Strafzumessungsfaktors kann unter den dargelegten Umständen nicht gesprochen werden (E. 7).

25 Parkbussen aufgeboben

Ein Automobilist hat in Genf innert 16 Tagen 25 Parkverbote missachtet und wurde deshalb erstinstanzlich von der Genfer Justiz zu 40 Tagen Haft verurteilt, zweitinstanzlich dann aber freigesprochen, weil die Staatsanwaltschaft kein "feuille d'envoi" im Sinne von Art. 219 StPO GE (Überweisungsbeschluss?) verfasst hatte. Dagegen führte der Generalprokurator Nichtigkeitsbeschwerde an das Bundesgericht. Er war sich sicherlich bewusst, dass mit diesem Rechtsmittel nur die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden kann und griff zu einer recht originellen Idee. Er rügte, die kantonale Strafprozessordnung verunmögliche die Durchsetzung von Bundesrecht. Dem konnte das Bundesgeicht freilich nicht folgen und trat nicht auf die Beschwerde ein (BGE 6S.118/2006 vom 05.04.2006). Damit bleibt es beim Freispruch.

Straffreie Ehrverletzung

Das Bundesgericht hebt die Verurteilung eines Beschuldigten wegen übler Nachrede auf (6S.310/2005 vom 30.03.2006). Der Beschuldigte hatte anlässlich einer Gerichtsverhandlung folgendes über seinen Prozessgegner gesagt:
"Wenn das EJPD im Staatsschutzbericht den Kläger zu Terroristen und Extremisten zählt und erklärt, das Bundesgericht habe den Kläger wegen Verstosses gegen das Rassismusgesetz verurteilt, dürfen wir in guten Treuen annehmen, dass der Kläger Kontakte zur Revisionisten- und Naziszene hatte."
Die entsprechende Stelle im Staatsschutzbericht 2000 des EJPD lautet wie folgt:
"Die Verurteilung von Y.________ zeigt, dass sich neben der aktuell verschärften Entwicklung im rechtsextremen Bereich auch anderes extremistisches Gedankengut öffentlich artikuliert. Dabei werden die bisher klaren politischen Links-Rechts-Fronten verwischt. Der Verein gegen Tierfabriken und sein Präsident vertreten ideologisch die gleichen Themenkreise wie die Gruppen der militanten Tierschützer und Globalisierungsgegner, ohne dass bisher direkte Beziehungen zu diesen Organisationen bekannt geworden wären."
Das Bundesgericht kam nun entgegen der Vorinstanz zum Schluss, der Beschwerdeführer könne sich auf einen Rechtfertigungsgrund berufen.
Die vorinstanzliche Argumentation lässt ausser Acht, dass der Beschwerdeführer an der Hauptverhandlung nicht gesagt hat, der Beschwerdegegner zähle zu den Terroristen und Extremisten, sondern nur, das EJPD reihe ihn in diese Kategorie ein. Und diese Feststellung ist nun offensichtlich zutreffend (E. 5).

Mittwoch, Mai 03, 2006

Schnüffelstadt Grenchen?

In der heutigen Ausgabe des Solothurner Tagblatts versucht der Grenchner Sozialvorsteher zu erklären, weshalb der Einsatz von verdeckt ermittelnden "Sozialdetektiven" nicht zu einem Schnüffelstaat führe. Aus dem Interview, dem ich meine Bemerkungen in Klammern beifüge:

Frage: Die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe kritisiert, dass mit dem Einsatz von Sozialdetektiven die Schwelle zum Schnüffelstaat überschritten werde.

Schnüffelei hat für mich mit Willkür zu tun. Die Detektive tun etwas ganz anderes: Sie kommen im Auftrag der Sozialhilfebehörde zum Einsatz, und zwar erst dann, wenn sich ein Verdacht bereits erhärtet hat.

[Für mich hat Schüffelei mit Ausforschungen ohne gesetzliche Grundlage zu tun, und genau das passiert hier. Wenn selbst die Polizei nur mit Zustimmung eines unabhängigen Richters und dem entsprechenden Rechtsschutz nach BVE verdeckt ermitteln darf, warum soll es die Sozialhilfebehörde einfach nach ihrem eigenen Gusto dürfen?]

Frage: Der Grenchner Rolf Mägli, der in Basel der Sozialhilfe vorsteht, rät Ihnen, an Stelle der Detektive die Polizei einzusetzen.

Ich verstehe nicht, wo hier der Unterschied liegen soll, zumal die Polizei in Basel nichts anderes tut als die Detektive in Grenchen.

[Vielleicht weil das Gewaltmonopol beim Staat liegt und nicht bei "SoWatch"?]

Frage: Eine Zusammenarbeit mit der Polizei haben Sie also nie in Erwägung gezogen?

Natürlich gab es Gespräche mit der Stadtpolizei. Die Fahndung einzusetzen, wie es in Basel geschieht, ist in Grenchen aber undenkbar, weil den Polizisten die Kapazitäten und die entsprechende Ausbildung in verdeckter Ermittlung fehlen. Einen Widerspruch sehe ich auch darin, dass ein Polizist, dessen Gesicht in der Stadt bekannt ist, plötzlich verdeckt ermitteln soll.

[Alles Deppen bei der Polizei? Wie sind die "S0Watch"-Detektive ausgebildet? Was ist SoWatch? (vgl. dazu meinen früheren Beitrag)]

Revision Bundesstrafrechtspflege

Der Bundesrat hat gemäss heutiger Medienmitteilung Entwurf und Botschaft zu einer Änderung der BStP verabschiedet. Es geht um die Abgeltung der Kosten, welche die Bundesanwaltschaft bei der Beanspruchung kantonaler Polizeimittel verursacht.

Bundesstrafgericht - neue Entscheide

Das Bundesstrafgericht hat die im April 2006 gefällten Entscheide ins Netz gestellt. Darunter findet sich soweit ersichtlich nichts von grösserer Bedeutung.
Immerhin ist auf ein Beschwerdeverfahren hinzuweisen, bei dem es um die Entlassung des amtlichen Verteidigers von Dieter Behring durch die Bundesanwaltschaft ging (BB.2006.13 vom 10.04.2006). Aus Gründen, die aus dem Urteil nicht hervorgehen, hat die Bundesanwaltschaft den amtlichen Verteidiger Behrings entlassen. Nach dessen Beschwerde, welcher die aufschiebende Wirkung erteilt wurde, hat die Bundesanwaltschaft ihre eigene Verfügung wieder aufgehoben. Folge: Abschreibung der Beschwerde mit Parteientschädigung an Behring. Entschädigt wurden antragsgemäss 8.55 Stunden zu CHF 250.00.

Zwei weitere Entscheide zeigen wie das gegenwärtige Bundesstrafverfolgungsmodell dazu führen kann, dass sich Bundesanwaltschaft und Untersuchungsrichteramt gegenseitig beüben und sich dann beim Bundesstrafgericht beschweren (BB.2006.14 und BB.2006.6 vom 06.04.2006).

Schliesslich ist auf das neue Urteil gegen Peter Friederich (SK.2006.1 vom 04.04.2006 hinzuweisen, der das erste Urteil mit bescheidenem Erfolg angefochten hatte (s. dazu meinen früheren Beitrag).

Verfassungswidrige Ersatzmassnahmen?

Das Bundesgericht äussert sich in einem neuen Entscheid (BGE 1P.75/2006 vom 28.03.2006) zum Verhältnis des besonderen Haftgrunds der Fluchtgefahr zu den Ersatzmassnahmen (Schriftensperre, Ausreiseverbot und Meldepflichten):
Derartige Ersatzmassnahmen sind allerdings nicht nur weniger einschneidend, sondern auch weniger wirksam. Sie können daher zwar einer gewissen Fluchtneigung des Angeschuldigten vorbeugen (vgl. BGE 130I 234 E. 2.2), sind aber bei ausgeprägter Fluchtgefahr unzureichend. Die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Annahme von Fluchtgefahr sind dementsprechend für strafprozessuale Haft höher als für die Anordnung von milderen Ersatzmassnahmen (E. 3.1).
Im vorliegenden Fall schütze das Bundesgericht die von der Vorinstanz auferlegten Ersatzmassnahmen mit der Begründung, dass der Beschwerdeführer zunächst eine längere Freiheitsstrafe zu befürchten habe und dass die Gewährung des bedingten Strafvollzugs fraglich sei. Zudem unterhalte er seit 13 Jahren enge Beziehungen zu Thailand, wo er sich regelmässig aufhalte und wo er als Dauermieter oder Besitzer übe einen Bungalow verfüge. Zudem bestehe der Verdacht, dass er über erhebliche finanzielle Mittel verfüge. Die Annahme des Haftrichters, es bestehe eine gewisse Gefahr, dass er in Thailand untertauchen könnte sei daher keineswegs verfassungswidrig.

Dienstag, Mai 02, 2006

Haftbeschwerde gutgeheissen, Haftentlassung abgewiesen

Das Bundesgericht hat in einem heute online gestellten Haftverlängerungsentscheid der Genfer Justiz aufgehoben (1P.198/2006 vom 25.04.2006). Es wirft der Vorinstanz zunächst vor, die Kollusionsgefahr mit der noch ausstehenden Befragung von Zeugen begründet zu haben, ohne diese näher zu bezeichnen. Die Kollusionsgefahr sei daher nicht "concret et sérieux" (vgl. dazu BGE 128 I 149 E. 2.1). Darüber hinaus war auch die angebliche Fluchtgefahr (Geschwister in der Elfenbeinküste) ungenügend begründet.

Obwohl damit keine Haftgründe mehr blieben, hat das Bundesgericht entsprechend seiner langjährigen Rechtsprechung darauf verzichtet, den Beschwerdeführer wie beantragt aus der Haft zu entlassen:
Le recours aurait donc également dû être admis sur ce point en raison d'un défaut de motivation, sans que cela ne conduise à la libération du recourant; le Tribunal fédéral renvoie en effet en pareil cas la cause à l'autorité à charge pour elle de statuer à nouveau à très bref délai et par un prononcé suffisamment motivé (cf. ATF 123 I 49 consid. 3e p. 55 et les arrêts cités). La Chambre d'accusation a d'ailleurs pallié au vice dont était affectée sa décision en rendant une nouvelle décision qui apparemment satisfait aux exigences de motivation déduites de l'art. 29 al. 2 Cst (E. 4.3).

Montag, Mai 01, 2006

Beschleunigungsgebot in den USA

Der sechste Verfassungszusatz der Verfassung der USA garantiert den "speedy trial". Eine Verletzung dieser Garantie hat ein Appellationsgericht in US v. Ingram vom 25.04.2006 (No. 05-10866) festgestellt. Der Entscheid zeigt, nach welchen Kriterin in den USA eine Verletzung des Beschleunigungsgebots geprüft wird, wenn zwischen Straftat und Anklage zu viel Zeit verstreicht und der Beschuldigte dies nicht zu verantworten hat (hier reichten zwei Jahre).

Aus dem Entscheid können auch Argumente für entsprechende Rügen in der Schweiz gewonnen werden. Es ist allerdings zu bezweifeln, ob hier eine Verletzung ebenfalls zur Zurückweisung der Anklage führen könnte; nach bloss zwei Jahren jedenfalls mit Sicherheit nicht.

AT StGB: Revision der Revision der Revision?

Gemäss Sonntagszeitung vom 30.04.2006 (s. den kostenpflichtigen Artikel) will die nationalrätliche Verkehrskommission die Notbremse ziehen, weil sie befürchtet, "junge Raser" könnten unter dem Regime des revidierten Allgemeinen Teils des StGB milder bestraft werden. Stein des Anstosses sind die neuen Geldstrafen, die nach dem Einkommen berechnet werden. Weil junge Raser oft wenig verdienen, kommen diese billig weg (zur Odyssee des revidierten AT StGB s. etwa meinen früheren Beitrag oder die Themenseite des BJ).

Lamborghini mit defektem Tacho

Im Verfahren nach Art. 36a OG hat das Bundesgericht die staatsrechtliche Beschwerde eines "Rasers" abgewiesen(BGE 1P.90/2006 vom 13.04.2006). Der Beschwerde lag folgender Anklagesachverhalt zu Grunde:

Nach einer stationären Geschwindigkeitsmessanlage auf der Autobahn habe der Beschwerdeführer bei einer signalisierten Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h so stark beschleunigt, dass ihm zwei Polizeibeamte mit ihrem Fahrzeug nicht folgen konnten, obwohl sie mit Vollgas - d.h. mit 170 km/h - gefahren seien. Sie hätten den Lamborghini aber stellen können, als er seine Geschwindigkeit verringert habe; der Beschwerdeführer habe geltend gemacht, sein Tachometer sei kaputt gegangen, weshalb er nicht wisse, wie schnell er gefahren sei. Die Vorinstanz hat es als erwiesen erachtet, "dass der Beschwerdeführer schneller gefahren sei als das Polizeifahrzeug bei einem Ablesewert von 170 km/h". Unter Berücksichtigung aller Ungenauigkeiten stehe somit fest, dass dieser mit mindestens 145 km/h unterwegs gewesen sei.

Dazu führt das Bundesgericht aus:
Selbstverständlich sind die Resultate von Nachfahrkontrollen ohne justierten Messapparat weniger genau als von solchen mit einem derartigen Gerät. Mit dem Sicherheitsabzug von über 25 km/h zu Gunsten des Beschwerdeführers hat das Obergericht indessen allfälligen Mess- bzw. Ableseungenauigkeiten mehr als grosszügig Rechnung getragen. Es konnte daher ohne weitere Abklärungen zur Funktionsgenauigkeit des Tachometers folgern, die Geschwindigkeit des Beschwerdeführers habe mindestens 145 km/h betragen. Diese Beweiswürdigung ist weder willkürlich noch verstösst sie gegen den Grundsatz "in dubio pro reo" (E. 3.2).
Zur Würdigung der Aussagen der beiden Polizisten führte das Bundesgericht folgendes aus:
Da somit in den Aussagen der beiden Polizeibeamten keine wesentlichen Widersprüche erkennbar sind, die ihre Glaubhaftigkeit beeinträchtigen könnten, und keine Anhaltspunkte vorliegen, die ihre persönliche Glaubwürdigkeit in Frage stellen würden, ist das Obergericht keineswegs in Willkür verfallen, indem es gestützt darauf als erwiesen ansah, dass der Beschwerdeführer zur fraglichen Zeit am fraglichen Ort schneller fuhr als das
Patrouillenfahrzeug, dessen Tacho 170 km/h anzeigte (E. 3.3).
Keinen Erfolg hatte der Beschwerdeführer schliesslich mit der Rüge, er sei in seinem rechtlichen Gehör verletzt worden, indem die Vorinstanz das beantragte "technische Gutachtens mit Weg-/Zeit-Analyse" nicht erstellen liess. Dazu meint das Bundesgericht:
Es ist ohnehin nicht ersichtlich und wird vom Beschwerdeführer auch nicht dargetan, inwiefern mit einem "technischen Gutachten mit Weg-/ Zeit-Analyse" die vom Beschwerdeführer gefahrene Geschwindigkeit bestimmt werden könnte; dafür fehlen offensichtlich zu viele Eckdaten (E. 3.4).
Einmal angenommen, der Beschwerdeführer sei der ehrlichen und begründeten Überzeugung gewesen, er sei nicht zu schnell gefahren: wie hätte er sich nach der Anhaltung durch die beiden Polizisten verhalten sollen? Jedenfalls hätte er nicht behaupten dürfen, der Tacho sei kaputt gewesen und er habe deshalb nicht gewusst, wie schnell er gefahren sei. Wahrscheinlich war es diese Aussage, die ihm das Genick (wohl zu Recht) gebrochen hat. Er hätte wohl besser den Sachverhalt bestritten und im Übrigen geschwiegen. Ob er damit letztendlich besser weggekommen wäre, ist allerdings auch nicht sicher. Die belastende Aussage eines Polizisten reicht ja praktisch immer für eine Verurteilung, und hier waren es ja gleich zwei. Da spielte es auch keine Rolle, dass die Aussagen offenbar nicht ganz einheitlich waren. Dies geht aus der Sachverhaltsdarstellung des Bundesgerichts zwar hervor, wird dann aber bei den Erwägungen nicht mehr erwähnt:
Gestützt auf diesen Rapport und die Zeugenaussagen der beiden Beamten vom 11. Februar 2004, in welchem sie den wesentlichen Inhalt des Rapportes bestätigten - Wachtmeister A.________ gab dabei allerdings an, er sei beim Vorfall am Steuer gesessen - [...]